Wir müssen draußen bleiben

Seite 3: Rassismus, Xenophobie und Krise

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Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft produziert weltweit immer größere Massen von Menschen, die im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik unnütz sind, die nicht mehr gebraucht und verwertet werden können. Für die herrschende Ideologie, die den kriselnden Kapitalismus längst zu einer Naturvoraussetzung menschlicher Existenz schlechthin erklärt hat, haben diese "Ausgegrenzten der Moderne" (Zygmunt Bauman) ihre Marginalisierung selbst verschuldet. Es geht nur noch darum, ideologisch diese Personifizierung der Krisenursachen zu rechtfertigen - es muss nur noch erklärt werden, wieso die Krisenopfer als Krisenverursacher angesehen werden sollen.

Die zentralen ideologischen Mittel zur Stigmatisierung der Krisenverlierer bilden Rassismus, Chauvinismus und Xenophobie. In Deutschland hat Thilo Sarrazin in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet, indem er die Ressentiments gegen Ausländer und Arbeitslose zu einem einzelnen Feindbild einer unnützen und "überflüssigen" Bevölkerungsschicht verschmolz:

In Berlin leben zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, von Hartz IV und Transfereinkommen. … Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. … Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht.

Die Tatsache einer beständig wachsenden "Unterschicht" von wirtschaftlich überflüssigen Menschen wird von Sarrazin wahrgenommen, doch führt er die Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe auf deren "minderwertige" genetische Ausstattung zurück. In dem rassistischen und biologistischen Delirium Sarrazins, das hierzulande so viele begeisterte Anhänger fand, sind es die schlechten Gene, die dazu führen, dass die Unterschicht dumm bleibt. Wiederum haben wir es mit der ideologischen Personifizierung der Krisenursachen zu tun: Die wachsende Unterschicht trägt aufgrund mangelhafter Gene die Schuld an ihrer Existenz.

Im Zentrum der Obsessionen Sarrazins stehen aber vor allem die Zuwanderer aus der Türkei - und auch dies ist ein Reflex auf den Krisenverlauf. Selbstverständlich trifft diese Krise der Arbeitsgesellschaft zuerst die Arbeitsmigranten, die ja in die BRD angeworben wurden, um die einfachen Dreckarbeiten zu erledigen, die während des Booms der 50er und 60er Jahre kaum ein Deutscher mehr verrichten wollte. Es sind aber gerade diese einfachen Tätigkeitsfelder, die in den letzten Dekaden von den Rationalisierungsprozessen besonders stark erfasst wurden. Jetzt, da die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei nicht mehr gebraucht werden, erklärt ein Sarrazin diese Muslime für genetisch minderwertig und leitsungsunwillig:

So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen - bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten - eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.

Sarrazin empfiehlt als Lösungsstrategie, das "Auswachsen" - also das Aussterben - der betreffenden überflüssigen Bevölkerungssicht zu fördern. In vielen krisengeschüttelten Regionen Osteuropas bringt der ressentimentgeladene Mob diese Geduld beim Umgang mit den Krisenopfern nicht mehr auf - er will der Biologie auf die Sprünge helfen. In mittelosteuropäischen Ländern wie Ungarn (Ungarn: "Kultur des Faschismus"), Bulgarien (Bulgarien in Pogromstimmung) oder Tschechien (Rassismus und Rechtsextremismus gedeihen in Osteuropa) ist es vor allem die Minderheit Roma, die unter der zunehmenden Exklusion und Stigmatisierung zu leiden hat. Der zunehmende antiziganische Hass manifestiert sich in einer Reihe von Pogromen, Mordanschlägen und rechtsextremen Kampagnen gegen die "Zigeuner".

An den Roma wurde die rassistisch motivierte Ausgrenzung im krisengeschüttelten Spätkapitalismus ins Extrem getrieben. Die Roma bilden die extremste Personifikation der Exklusionstendenzen in dieser Krise. Die Mitglieder dieser marginalisierten Minderheit wurden innerhalb weniger Jahrzehnte in nahezu allen osteuropäischen Ländern aus der kriselnden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft gedrängt, sodass die Arbeitslosenquote innerhalb der Roma dieser Region zumeist bei weit über 50 Prozent liegt. Die nahezu konsensartigen Ressentiments und die allumfassende, apartheidsgleiche Diskriminierung der Roma in vielen Staaten Osteuropas führen dazu, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen zuerst diese Gruppe treffen. Die Roma in Osteuropa kriegen somit zuerst die Folgen der Krise der Arbeitsgesellschaft zu spüren - sie werden als Erste gefeuert und als Letzte angestellt.

Den arbeitslosen und verelendeten Roma - die keine Anstellung finden können - wird von den Rechtsextremisten Osteuropas dann vorgeworfen, nicht arbeiten zu wollen und kriminell zu sein. Somit erschafft sich der Antiziganismus seine eigenen Feindbilder, indem er die Folgen der Diskriminierung der Roma - wie Arbeitslosigkeit und Elendskriminalität - zu den kollektiven Eigenschaften der Roma erklärt. Gemeinsam ist diesem an Intensität gewinnenden Antiziganismus die Darstellung der Roma als kriminell und als arbeitsscheu. Die Zigeunerhasser sehen ihren Hass aufgrund des Verhaltens der Roma wohlbegründet, die sich "nicht einfügen" würden in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, und anstatt "ehrlicher Arbeit" nachzugehen, lieber kriminell würden. Der "Zigeuner" wird hierbei zum "arbeitsscheuen Parasiten" ideologisiert, der vermittels seiner kriminellen Energie auf Kosten der Mehrheitsbevölkerung leben würde.

Diese antiziganischen Wahnbilder des "ewigen arbeitsscheuen Zigeuners" können selbstverständlich nur unter Ausblendung der historischen Gegebenheiten in allen ehemals sozialistischen Gesellschaften aufrechterhalten werden: Die Roma haben während des real existierenden Sozialismus selbstverständlich ebenfalls arbeiten müssen. In vielen sozialistischen Ländern waren Roma als Landarbeiter oder als ungelernte Hilfskräfte in der Industrieproduktion tätig. Die Roma waren also in der staatssozialistischen Arbeitsgesellschaft zumindest marginal integriert, da sie zumeist einfache Tätigkeiten ausübten, die keine größeren Qualifikationen erforderten. Gerade diese Tätigkeitsfelder sind nach der Systemtransformation verschwunden.

Gut zwei Jahrzehnte reichten somit aus, um eine rassistische Ideologie erneut zum Vorschein zu bringen, die den im Staatssozialismus proletarisierten Roma eine prinzipielle Arbeitsunfähigkeit andichtet. Für das Elend der Roma werden in dieser Ideologie die Roma selber verantwortlich gemacht. Den Pogromteilnehmern in Tschechien, Ungarn oder Bulgarien scheint es somit, als ob Kriminalität, Verelendung und Arbeitslosigkeit im Gefolge der Vertreibung oder Ermordung der Roma ebenfalls verschwinden würden.

Alle gegen Alle

Ähnliche Verdrängungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft kommen gegenüber den osteuropäischen Arbeitsmigranten zum Ausdruck, die vor Krisenausbruch in 2008 in vielen Ländern Westeuropas massenhaft zur Verrichtung unbeliebter und unterbezahlter Arbeiten angeworben wurden. In Holland etwa startete die rechtsextremistische sogenannte "Freiheitspartei" des fanatischen Islamhassers Geert Wilders eine regelrechte Kampagne gegen Zuwanderer aus Osteuropa, bei der eine eigens eingerichtete Website zum Denunziantentum gegenüber Arbeitsmigranten aus Osteuropa aufruft. Zehntausende von Niederländern haben sich seit dem Start der Kampagne über "Arbeitsplatzklau", Kleinkriminalität, Trunkenheit oder einfach nur Ruhestörung durch Osteuropäer beschwert. Die Motivation hinter dieser anschwellenden Tendenz zur Exklusion von ethnischen oder nationalen Minderheiten wird ebenfalls von diesem dumpfen, feindseligen Gefühl befeuert, dem zufolge es nun in der Krise "nicht mehr für alle reicht".

Der Befund scheint deprimierend: Ob nun auf europäischer Ebene, im nationalen Rahmen, im Betrieb oder gegenüber Minderheiten: Die von der Krisendynamik betroffenen Menschen neigen dazu, übereinander herzufallen, anstatt die Verhältnisse infrage zu stellen, die sie in die Enge treiben. Bei dieser zunehmenden Exklusion immer größerer Menschengruppen werden nur die dem Kapitalismus eigenen Grundprinzipien ins extrem getrieben.

Konkurrenz und Selektion bilden die grundlegenden sozialen Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung, denen alle Lohnabhängigen nun verstärkt unterworfen werden. Die korrespondierenden Ideologien des Rassismus, Sexismus und der Xenophobie verstärken und legitimieren den Drang, die "überflüssigen" Bevölkerungsschichten loszuwerden. Immer mehr Menschen müssen so "draußen bleiben", während der Konkurrenzkampf innerhalb der abschmelzenden Mittelschichten immer brutaler wird. Tendenziell führt dieser Drang zur Exklusion in die Barbarei - der Konkurrenzkampf aller gegen alle würde zugespitzt in den totalen Krieg aller gegen alle münden.

Diese irre Krisenideologie reflektiert dabei nur den irrsinnigen Charakter der Krise. Die Ausgrenzung und Marginalisierung immer größerer Menschengruppen vollzieht sich gerade deshalb, weil der Kapitalismus an seiner Produktivität erstickt. Das Elend breitet sich also gerade deswegen aus, weil die Produktionspotenzen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen immer weiter anwachsen. Die Wahnvorstellung "Es reicht nicht für alle" kann nur deshalb um sich greifen, weil die absurden Reproduktionsformen des Kapitalismus - bei denen die ganze Gesellschaft nur als eine Voraussetzung der selbstzweckhaften Kapitalakkumulation ihre Daseinsberechtigung hat - nicht infrage gestellt werden.

Das "Es", das da nicht mehr für "alle" reicht, ist der kollabierende Prozess der Kapitalakkumulation, aus den immer mehr Menschen herausfallen. Die materiellen und technologischen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle Erdenbewohner sind aber trotz voranschreitender ökologischer Verwüstungen immer noch gegeben - und sie verbessern sich permanent mit dem Fortschritt der Produktivkräfte, der gegenwärtig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengt.