"Wir müssen harte Aufklärungsarbeit leisten"

Seite 2: Proteste: Man will "sein Leben zurückhaben"

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Sie mussten sich auch mit den Argumenten der Corona-Leugner befassen, die ja zeitweise eine regelrechte Massenbewegung entfachen konnten. Was treibt diese Leute an, die ja teilweise aus der Linken kamen? Es sind ja nicht nur Rechte oder Nazis bei den Demos dabei gewesen. Ist es Wahn, populistisches Kalkül, Geschäftemacherei?

Winfried Wolf: Ja, das ist ein ganz trauriger Aspekt bei dem Thema. Angeblich fortschrittliche Autoren - darunter ein verdienter "Stern"-Mann - haben sich als Relativierer der Epidemie oder als Corona-Leugner hervorgetan; angeblich fortschrittliche Websites haben ihre Spalten für diese verqueren Theorien geöffnet. Was dafür den Hintergrund bildet?

Ich glaube, es ist eine Mischung aus all dem, was Sie ansprechen. Vor allem hat das viel mit Egozentrik zu tun. Man will "sein Leben zurückhaben" - und geht davon aus, dass es einen, beispielsweise weil man privilegiert im Grünen lebt, ohnehin nicht erwischt, oder weil man jung und sportlich genug ist, um eine Infektion durchzustehen. Die Älteren oder Schwächeren, oder Menschen, die echte Maloche-Jobs haben, sind dann halt dumm dran.

Man schreibt im Homeoffice oder im Häuschen im Grünen Dinge, die eine Kassiererin an der Kasse, eine Pflegekraft im Krankenhaus oder eine Seniorin im Altenheim leicht als grobe Verantwortungslosigkeit erkennen. Das wird deutlich an der vielfachen Lobpreisung des "schwedischen Beispiels" in diesen Kreisen. Das sei doch ein "anderer Weg" dort - keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die volle Wahrung "von Grundrechten".

Der Preis, der dafür in Schweden zu bezahlen ist, ist hoch. Aktuell - 21.8. - haben wir in Schweden 5805 Corona-Tote. Übertragen auf die BRD-Bevölkerungszahl hätten wir damit 46.962 Corona-Tote - anstelle der tatsächlichen Zahl von 9263. Wobei weit mehr als die Hälfte der Corona-Toten in Schweden Menschen sind, die in Altenheimen lebten.

Doch ähnlich, wie die Nazis ja deshalb so stark verankert waren und heute wieder relativ stark sind, weil die dem Faschismus zugrunde liegende Ideologie (Darwinismus; Herrenmenschentum und Recht des Stärkeren) aus der Mitte der kapitalistischen Gesellschaft mit dem Konkurrenzprinzip kommen, haben die Corona-Leugner eben auch vor allem großbürgerliche Fürsprecher.

Überall auf der Welt, wo lautstark ein "Ende des Lockdowns", die "Normalisierung", die "Öffnung" des Landes etc. gefordert wird, stehen die rechten Parteien (FDP, AfD, FPÖ, US-Republikaner) und Politiker wie Christian Lindner, Alexander Gauland, Mark Rutte, Donald Trump oder Jair Bolsonaro an der Spitze dieser Proteste.

Dahinter verbirgt sich ein ausgesprochen materieller Aspekt: Lockdown bedeutet, dass die Profitmaschinerie stoppt. "Öffnung" bedeutet: grünes Licht für die Mehrwertproduktion via Arbeitskraftausbeutung. Oder auch: Kapitalakkumulation und Profitmaximierung gehen auch über Corona-Leichen. Absurd ist dabei, dass man mit dieser Politik der Öffnung, wie sie seit Mai 2020 betrieben wird, dazu beigetragen hat, dass die Zahl der Corona-Infektionen wieder erheblich ansteigt und damit ein zweiter Lockdown droht, was dann die Krise in kaum vorstellbarer Weise beschleunigen könnte.

Interessanterweise kommen diese Proteste nur dort auch aus der Linken, wo die Epidemie bislang - eben durch die bekannten Restriktionen, einschließlich der Masken-Pflichten - relativ gut eingedämmt werden konnte. Meines Wissens gibt es in Ländern mit hohen Corona-Opfer-Zahlen keine prominente Person der verdienten Linken, der oder die vergleichbaren Unsinn verbreitet hat - kein Noam Chomsky, keine Naomi Klein und kein Jean Ziegler.

Ich glaube, dieses Anknüpfen an die kapitalistische Ideologie in der "Mitte" der Gesellschaft, von dem Sie sprechen, ist tatsächlich zentral für das Verständnis dieser Verschwörungsbewegung, die mitunter protofaschistische Züge trägt. Könnten Begriffe wie "autoritäre Revolte" und "Extremismus der Mitte" helfen, dieses Phänomen zu erklären, da ja auch große, scheinbar "progressive" Nachrichtenportale auf diesen reaktionären Zug aufgesprungenen sind? Diese ehemaligen linken Kräfte sehen sich ja nicht selber als Rechte: Man wähnt sich in Rebellion gegen eine halluzinierte, allmächtige Verschwörung, die Massen scheinen hinter einem zu stehen - während man das Geschäft des Kapitals betreibt. Das ist ja so bequem, so friktionsfrei.

Winfried Wolf: Ich will nicht von "ehemaligen linken Kräften" und auch nicht von "protofaschistischen Zügen" sprechen. Ich hab mir drei der Wasen-Demos in Stuttgart-Bad Cannstatt auf Videomitschnitten und die Berliner Demo vom 1. August 2020 angeschaut. In Stuttgart gab es bis zum 1. August die größten dieser Demos der Coronas-Relativierer. Das war eine wilde Mischung. Der Cheforganisator ist ein mittelständischer Unternehmer, der jetzt auch als OB-Kandidat im November in Stuttgart antritt.

Der ist ein typischer, radikalisierter Kleinbürger; glücklicherweise ohne Charisma. Klar, man muss von Glück sagen, dass diese Bewegung bislang keinen "Führer" fand - und auch, dass die herrschenden Kreise es bisher nicht für sinnvoll halten, sich auf diesem Gebiet in großem Maßstab zu engagieren und sich zu "bedienen", auch wenn hinter der AfD bereits Unternehmer und zumindest ein Milliardär stehen.

Es gab auch eine Reihe Leute, die ich als Menschen respektiere und die sich seit langer Zeit im Widerstand gegen Stuttgart 21 engagieren - und die auf diese Wasen-Demos gingen oder sie zumindest mit Sympathie betrachten. Da gibt es viel Irrungen und Wirrungen. Was auch heißt: Wir müssen harte Aufklärungsarbeit leisten. Das hat auch damit zu tun, dass die Linke - auch die in Großbuchstaben Geschriebene - in der Corona-Krise weitgehend versagt hat.

Es gab keine eigenständige Linie, keine klaren Forderungen im Interesse der arbeitenden Menschen, keine Forderung, dass diejenigen, die für die Krise letzten Endes verantwortlich sind oder auch "nur" diejenigen mehr als 1,3 Millionen Dollar-Millionäre in Deutschland, die ausreichend Geld und Vermögen durch Umverteilung von unten nach oben akkumuliert haben, die Krisenkosten zu tragen haben.

Vor allem gab es auch keine Forderungen und kein Rote-Linien-Ziehen der Linken beim Thema Grundrechte. Beispielsweise hätte man unzweideutig fordern müssen, dass eine Einschränkung des Demorechtes an enge Grenzen zu binden ist und dass jede Einschränkung des Streikrechtes tabu ist. Notwendig wären klare Forderungen nach zeitlicher Befristung aller Einschränkungen gewesen und die eindeutige Bindung der entsprechenden Regelungen und Kontrollen an das Parlament und nicht an die Exekutive und schon gar nicht an das Gesundheitsministerium.

Unter diesen Bedingungen des linken Versagens erschien vielen Menschen die Einschränkung der Grundrechte als ein gefährliches Auftürmen eines "starken Staates" - zumal es dann diese Wodarg & Co.-Leute gab, die alles als "eine Art Grippe" abtaten.

Sie formulieren abschließend die Grundzüge einer progressiven, linken Strategie, in der Pandemiebekämpfung und Vorsorge mit Schritten zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung einhergehen sollten. Es gehe um eine "sozialökologische Transformation", um die "Aneignung gesellschaftlichen Reichtums", um "lokale wie globale Solidarität". Könnten Sie das bitte kurz skizzieren?

Winfried Wolf: Die Corona-Epidemie erscheint uns als Vorbote für weit größere Prozesse mit einer massenhaften Infragestellung von menschlichem Leben und einer Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Selbst wenn ein Impfstoff 2021 zur Verfügung stehen sollte - das ist dann ja wieder eine end-of-the-pipe-Lösung. Wenn die skizzierte Art des Umgangs mit Flora und Fauna, deren Ursprung der Kapitalismus selbst ist, nicht beendet wird, dann wird es in Bälde die nächste - dann vielleicht eine weit tödlichere, Ebola-gleiche - Pandemie geben. Die Klimakrise droht, wie ich bereits sagte, in eine solche Richtung umzukippen.

Es muss also darum gehen, an die Wurzel des Systems zu gehen - und die kapitalistische Grundprinzipien - das Eigentum an den großen Produktionsmitteln, die alles beherrschende Konkurrenz, die Produktion um der Produktion willen - in Frage zu stellen. Das beginnt beim Gesundheitssektor und der Pharmabranche, die beide unter öffentliche Kontrolle gestellt werden und allein dem Ziel der Förderung der menschlichen Gesundheit dienen müssen.

Das geht weiter mit der Massentierhaltung, die aufzugeben und wo der Fleischkonsum massiv einzuschränken und eine Förderung von vegetarischer und veganer Ernährung und der Biolandwirtschaft auf der Tagesordnung gestellt werden müssen. Und das endet noch lange nicht bei der Luftfahrtbranche und der Autoindustrie, wo Konversionsprozesse, die Umstellung auf völlig andere, sinnvolle Produkte und Dienstleistungen, einzuleiten sind.

Nicht zuletzt muss die WHO aus den Fängen der privaten Pharma-Konzerne und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung gelöst und zu einer echten Weltgesundheitsorganisation, die sich ausschließlich der Förderung der Gesundheit in der Welt verschrieben hat, umgewandelt werden.

Die Corona-Epidemie und die aktuelle weltweite Krise zeigen doch beides: Auf der einen Seite, wie der Kapitalismus menschliches Leben zerstört und das Überleben der Menschheit gefährdet. Auf der anderen Seite auch, wie groß der Anteil an unnötigen und zerstörerischen Produktionen und Dienstleistungen, an bullshit-jobs, ist, wie absurd und wie zerstörerisch die kapitalistische Globalisierung ist - und wie schnell in einer solchen Krise neue emanzipatorische Bewegungen mit Massencharakter erwachsen können.

Im letzten Jahr war dies die weltweite Klimabewegung. 2020 ist es die weltweite Bewegung gegen Rassismus und gegen alten und neuen Kolonialismus. Was bringt hier 2021? Wir wissen es nicht. Was wir jedoch wissen ist, dass wir alle Kräfte anspannen und breite Bündnisse bilden müssen, wenn die Chancen auf eine menschenwürdige Zukunft gewahrt bleiben sollen.

Das im Interview diskutierte Buch Corona, Krise, Kapital erscheint Ende August.