"Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk"

Wahlplakat CDU 1990. Bild: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) / CC-BY-SA 3.0

In seinem neuen Buch erläutert Albrecht Müller Manipulationstechniken und zeigt, wie man sich gegen Meinungsmache wappnet

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Als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fiel, war auch unter jenen, die dafür in den verschiedenen Bürgerbewegungen der DDR gekämpft hatten, nicht klar, ob das Ergebnis zur deutschen Einheit führen solle oder nur zu mehr Demokratie und Selbstbestimmung in der DDR. "Wir sind das Volk" war die damals wohl mehrheitlich verinnerlichte Parole.

Aber dann wurden - und dies sehr schnell - drei Buchstaben ausgetauscht. Dieser folgenreiche Austausch war weniger zufällig, als viele heute noch denken. Der Ruf nach der deutschen Einheit, die Veränderung der Parole von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" war auch das Ergebnis einer bewussten und systematischen Kampagnenplanung, geplant und umgesetzt jedenfalls von der Bild-Zeitung und der CDU-Geschäftsstelle unmittelbar nach dem Mauerfall im November 1989.

"Wir sind ein Volk" wurde in Zeitungsartikeln, auf Flugblättern und Plakaten massenhaft unters Volk gebracht und hatte eine nachhaltige Wirkung. Auch die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wurde damit beeinflusst, die verschiedenen Kommunalwahlen in der DDR ebenfalls.

Deutschlandfunk Kultur hat den Vorgang am 29. September 2005 gut dokumentiert: "'Wir sind ein Volk' Die Geschichte eines deutschen Rufes.". Weil dieses Beispiel mustergültig zeigt, wie Meinungsbildungskampagnen geplant und umgesetzt werden, wird eine längere Passage aus der Sendung von Deutschlandfunk Kultur zitiert:

11. November 1989. Zwei Tage nach dem Mauerfall. Tausende von DDR-Bürgern strömen über die Grenze. Die Bild-Zeitung schreibt: "'Wir sind das Volk' rufen sie heute -'"Wir sind ein Volk' rufen sie morgen!" Am Tag zuvor sitzen Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje und Herbert Kremp, Chefkorrespondent der Welt in Brüssel, in Hamburg zusammen. Sie besprechen, wie auf die Maueröffnung zu reagieren sei. Herbert Kremp, Autor des Bild-Kommentars: "Als bei den Montagsdemonstrationen der Ruf erklang 'Wir sind das Volk!', war es für mich - bei meinen Auffassungen - selbstverständlich, dass ich sagte, das muss eigentlich heißen 'Wir sind ein Volk'." Für ihn ist auch klar‚ die Wiedervereinigung wird kommen, das war damals, also am 11.11. also genau in dieser Novemberzeit, eigentlich noch gar nicht so ein Tenor der offiziellen Politik.

Deutschlandfunk Kultur

Parallel zur Bild-Zeitung gibt es in der CDU-Zentrale die entsprechenden strategischen Überlegungen. Auch dazu aus den Recherchen von Deutschlandfunk Kultur:

Sofort nach dem Mauerfall notiert Peter Radunski, Chef der Öffentlichkeitsarbeit der Bundes-CDU, in seiner Kladde: Thema Wiedervereinigung jetzt besetzen! "Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!" Radunski: "Wir haben festgestellt, das war auch stark diskutiert worden im Bundesvorstand und Präsidium, dass eigentlich die Selbstbestimmung nicht das sein kann, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann." Hinter den Kulissen stemmt die Bundes-CDU in der Woche vom 11. bis 17. November einen Aktionsplan. Es gilt, die Meinungsführerschaft zu übernehmen: Radunski: "Eine Sitzung war am 16. abends im Adenauerhaus, eine sogenannte Kommunikationsrunde. Und bei dieser Kommunikationsrunde, das kann ich aus meinen Notizen deutlich sehen, ist gesagt worden: Kinder, wir machen ein Plakat 'Wir sind ein Volk'. Das heißt, in Weiterentwicklung des Slogans, der in der damaligen DDR skandiert wurde: 'Wir sind das Volk'." …

Die Bild-Zeitung weiß um ihre Durchschlagkraft. Herbert Kremp, Autor des Bild-Kommentars: "Wir hatten natürlich eine Multiplikationskraft, die war enorm, die lag natürlich weit über irgendeiner Plakataktion." … Die Meinungen auf den Montagsdemonstrationen beginnen sich zu spalten. Die CDU schwört ihre Landesverbände auf die neue "Aktion zur Deutschlandpolitik" ein. Radunski: "Wir haben das nicht zentral gemacht, aber wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft. Und dabei sind sicher auch Junge-Unions-Leute nach den einzelnen Teilen der DDR gekommen und haben sicher da auch die Wandzeitung oder das Plakat 'Wir sind ein Volk' hochgehalten.‹ …

Deutschlandfunk Kultur

Aus einem schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle geht hervor: Laut Aufzeichnungen aus der CDU-Zentrale wurden in der ersten Aktion folgende Werbematerialien an die Kreisverbände versandt: Plakate "'Wir sind ein Volk' - Erste Auflage 12 800 Stück. Aufkleber 'Wir sind ein Volk' - Erste Auflage: 100.000 Exemplare. Zweite Auflage: 300.000 Exemplare."

Anzumerken bleibt noch: Der zitierte Aufkleber hatte die Form des damaligen CDU-Logos und verband so die Kampagne "Wir sind ein Volk" mit der allgemeinen CDU-Werbung. Außerdem schaffte die Schwesterpartei CSU ihrerseits eine große Zahl von Aufklebern und Plakaten dieser Art nach Mitteldeutschland.

Dass CDU und CSU die Meinungsführerschaft übernommen hatten, war schon im Dezember spürbar. So habe ich es jedenfalls empfunden: Vom 18. bis 20. Dezember tagte in Berlin der SPD-Parteitag zur Beratung des Berliner Grundsatzprogramms. Am Abend des 19. Dezember machte Willy Brandt einen Abstecher nach Magdeburg, einer früheren Hochburg der SPD. Ich fuhr mit, weil ich wissen wollte, wie die Menschen in der DDR reagieren. Da war schon Respekt und ein Stück Begeisterung zu spüren, aber in den Gesichtern vieler Menschen, die sich auf dem Domplatz versammelt hatten, war auch Skepsis abzulesen. Die Propagandaaktionen der Union, der Bild-Zeitung und anderer hatten vermutlich schon gewirkt.

Der CDU/CSU-Bundeskanzler, Helmut Kohl, wurde am nächsten Abend in Dresden begeistert empfangen. Das war schon eigenartig, wenn man berücksichtigt, welche Kärrnerarbeit sein Vorgänger Willy Brandt für den Abbau der Konfrontation zwischen Ost und West und damit auch für den Fall der Mauer geleistet hatte.


Dieser Text ist ein Auszug aus Albrecht Müllers neuem Buch "Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst". Darin beschreibt Müller zahlreiche gängige Methoden der Manipulation sowie Fälle gelungener oder versuchter Meinungsmache und analysiert die dahintersteckenden Strategien.


In der SPD-Führung herrschte im Übrigen auch die Meinung, dass die Sozialdemokratie in den neuen Bundesländern, insbesondere in Sachsen und Sachsen-Anhalt aufgrund der alten, in der Weimarer Republik sichtbaren Verankerung der SPD in diesem Teil Deutschlands, quasi ein Heimspiel haben würde. Aber das war eine Täuschung. Erstens überträgt sich eine solche Parteibindung nicht über Generationen und zweitens hat man offensichtlich die Kampagne der Union völlig unterschätzt.

Im Wahlkampf für die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 und auch in anderen Auseinandersetzungen setzten die Helfer der Union in der DDR auf eine zusätzliche Komponente: Sie verknüpften die SPD mit der SED. Die drei Buchstaben wurden virtuos ineinander vermischt: PDSPDSEDSPDPDS.

Später dann wurde die Kampagne weitergezogen, vielleicht ist manchen noch in Erinnerung, wie die Union agitierte: "Rote Socken". Es ist schon bewundernswert, welche Kontinuität die geplanten Kampagnen der Meinungsbeeinflussung haben.

Der Prozess der Vereinigung in Deutschland war noch durch eine Fülle anderer Propagandaaktionen und Strategien der Meinungsmache geprägt. Kohls Versprechen, blühende Landschaften in der DDR schaffen zu wollen, muss man auf die beschriebene Methode der Manipulation "Übertreiben, es wird etwas hängen bleiben" spiegeln.

Der gesamte Vorgang der Vereinigung der beiden Teile DDR und Bundesrepublik Deutschland ist ein Tummelfeld für nicht endende Versuche der Meinungsmache, politisch sehr erfolgreich und sachlich hoch problematisch, wie auch der nächste Vorgang zeigt: 1989 und 1990 war ich Mitglied des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages. Wir waren dort ernsthaft und bemüht darum, eine gute Lösung zu finden, es wurde die Frage besprochen, wie die Währungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland West verbunden und vereinigt werden sollten, zu welchem Kurs, wann und so weiter.

Von diesen Diskussionen im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages berichtete ich bei einer Wahlveranstaltung im Kreis Strausberg, im Vorfeld der Volkskammerwahl vom 18. März 1990. Da meldete sich ein Bürger der DDR etwa so: Ich solle nicht weiter über die Währungsrelationen herumquatschen, entscheidend sei, dass Helmut Kohl die D-Mark bringe. - Was soll man darauf sagen? Die hochemotionale Propaganda wirkte und zerstörte jeden Versuch, Zeitpunkt und Kurs der Währungsumstellung rational und das heißt auch unter Beachtung der Frage, wie in der DDR möglichst viele Betriebe und Arbeitsplätze erhalten werden können, zu besprechen.

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