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Englands Jugend soll wieder höflicher werden

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Bei manchen Engländern sitzen die Fäuste recht locker in der Tasche, auch wenn die Taschen zu einem Anzug gehören und der Anlass harmlos ist. Diese Erfahrung, die auch in Berichten von Englandreisenden gelegentlich auftaucht, steht am Anfang eines „Experiments“, das ein Reporter des Independent an einem Wochenende in London durchführte.

„Die Briten von heute sind grob und werden immer gröber. Sie sind nur an sich selbst interessiert, Autorität gegenüber verächtlich und sie sehen andere Menschen als Bedrohung“: Mit dieser Ausgangsthese, die der Ansicht beider großen Parteien in England entsprechen soll, machte sich der Reporter Cole Moreton auf die Suche nach der verschwundenen Höflichkeit in Londons öffentlichen Verkehrsmitteln an einem Freitagabend. Und fand, was sich schon abgezeichnet hatte, stumpfe Roheit als Antwort auf höfliche Hinweise, die auf den public spirit zielten. Auf sein "Excuse me, I think you've dropped something", reagiert der Angesprochene, der ein Plastik-Bierglas fallen ließ, mit der Androhung körperlicher Gewalt und ein Jugendlicher, der mit seinem Taschenmesser den Sitzbezug in einem Zug aufschlitzt, geht auf das höfliches Gesprächsangebot, das ebenfalls mit „Excuse me“ eingeleitet wird, erst gar nicht ein.

Man kennt solche Situationen auch anderswo, für Moreton sind sie aber deutliche Symptome für eine Krankheit, an der das einst für seine höfliche Kultur so berühmte Großbritannien leidet und dafür hat er noch ein paar andere, allgemeinere Beispiele parat:

Jeden Tag wird ein Lehrer in Großbritannien angegriffen. Ein Teenager von zehn wurde wegen schlechten Benehmens zeitweilig vom Unterricht ausgeschlossen. Ein Drittel der Mädchen beteiligte sich letztes Jahr an einem Kampf. Fast ein Viertel der Jugendlichen wird beschuldigt, sich „anti-sozial“ zu verhalten – nach der Definition des Innenministeriums zählt darunter „Graffiti, Grobheit, die durch Rasse oder Religion motiviert sind, Ruhestörung und ungehöriges Gebaren in der Öffentlichkeit, die Beschwerden erregen oder andere Verhaltensweisen, die zu Schwierigkeiten mit der Polizei führen.

Seit längerer Zeit versucht die Regierung Blair mit einem umfassenden Programm (vgl. Blair will "antisoziales Verhalten" ausrotten), das auch vor heiklen und hysterischen Maßnahmen nicht zurückschreckt (vgl. Frühkindliche Entwicklung unter Staatsaufsicht?), Respekt und Umgangsformen in der Gesellschaft und besonders unter Jugendlichen neu zu etablieren. Von der neuesten Maßnahme erhofft sich der Independent-Reporter nach seinen Erfahrungen nun, dass sie Leben retten könnte: An weiterführenden Schulen sollen die Jugendlichen jetzt in sogenannten „civility classes“ Wohlverhalten lernen und „Emotionale Intelligenz“, um in schwierigen Situationen die Fäuste in den Taschen zu lassen.

Ab Herbst soll das "Social and Emotional Aspects of Learning (Seal)"-Programm fester Bestandteil des Curriculums an den secondary schools sein. Den Schülern soll in Gruppengesprächen beigebracht werden, wie sie starke Affekte wie Zorn, Neid und Verlustgefühl bändigen können. Schwierigere Individuen bekommen Einzel-Coaching. An den Schulwänden können sie die goldenen Regeln ablesen:

We are gentle, we are kind, we work hard, we look after property, we listen to people, we are honest, we do not hurt anybody. We do not waste or damage things.

Ob solche Regeln, die etwas an Kindergarten-Regeln erinnern („Wir schlagen nicht, wir beissen nicht, wir zwicken nicht.“), in dem forcierten Gutsein, das darin zum Ausdruck kommt, Schüler nicht auch zu Verstößen anregen, mit der Aussicht auf eine markige Reputation, ist eine der Ambivalenzen solcher Slogans, die bei Grundschülern wahrscheinlich weniger Widerspruch auslösen als bei Pubertierenden. Dass das Programm bei Grundschulen so gut funktioniert hat, ist die Paradeerwiderung auf die Kritiker des „Therapiekonzepts“ (vgl. Schulfach: Anleitung zum Glücklichsein). Diese wollen vor allem eine Schule, die ihre Schüler mit fachlichen Inhalten und Lernmethoden auf die Universität vorbereiten. Die moralischen Erziehungsziele solle man vor allem den Eltern überlassen. Doch was tun, wenn es gerade dort an den nötigen Werten, die vermittelt werden sollen, mangelt?

Die Eltern auch gleich miterziehen! - so zumindest konzipiert es ein weiteres Regierungsprogramm, das vergangene Woche vorgestellt wurde. Demnach sollen 30 Millionen Pfund in eine nationale „parenting academy“ investiert werden, wo die richtige Erziehung erforscht und Kurse angeboten werden sollen, welche u.a. die Bindung zwischen Vätern und ihren Söhnen verbessern sollen. Der Psychologin Judith Rich Harris zufolge führen solche Ambitionen zu keiner besonderen Wirkung (vgl. Warum die Kinderstube unwichtig ist). Das ist allerdings ebenso anfechtbar wie der Satz eines anglophilen Kollegen, dem zufolge Respektlosigkeit in Großbritannien von Margret Thatcher eingeführt wurde. Immerhin hat dieser Elias Canetti auf seiner Seite, der an der Kultur, die unter der "Gouvernante" aufkeimte, kein gutes Haar ließ.