Wirtschaft will Jugendschutz stärker selbst in die Hand nehmen

Jugendschutz im Internet kann Verbänden und Rechtsexperten zufolge nur mit Hilfe von Filtertechniken und in Eigenregie der Unternehmen gewährleistet werden

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Der "neue" Jugendschutz kann nach Ansicht der Wirtschaft nur über technische Filter, Vorsperren und Altersverifikationssysteme gewährleistet werden. Das machten Vertreter von Unternehmen und aus der Forschung auf einem Workshop vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) am Montag in Berlin klar.

"Der Staat kann nicht mehr für den Schutz sorgen", sagte der Rostocker Kommunikationsrechtler Hubertus Gersdorf. Er verwies darauf, dass die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften nur 673 Websites indiziert habe - angesichts einer viel höheren Anzahl jugendgefährdender Online-Angebote. Bei solchen Ergebnisse müsse man sich Gedanken darüber machen, ob der Staat überhaupt eine Medienkontroll-Kompetenz habe. Auch für Marcel Machill von der Bertelsmann-Stiftung gibt es das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Selbstregulierung und staatlicher Kontrolle im Netz nicht mehr, da es ohne die Wirtschaft dort keinen effektiven Jugendschutz gebe.

Als Alternative präsentierten die Workshop-Teilnehmer vor allem die Internet Content Rating Association (ICRA), die sich schon seit Jahren als vielversprechende Jugendschutz-Lösung präsentiert (Filterinitiative ICRA: Wir sind die Guten). Die Non-Profit-Organisation, hinter der Namen wie die Bertelsmann Stiftung, IBM, die britische Internet Watch Foundation oder Microsoft stehen, arbeitet an einem weltweit einsetzbaren Filtersystem und basiert auf zwei Säulen: Zum einen auf der Selbstklassifizierung von Web-Inhalten durch die Content-Provider selbst. Da dabei allerdings nicht alle mitmachen, gibt es für die "schwarzen Schafe" ein zweites Standbein, wie Machill erläuterte. Es besteht aus Negativlisten, die Organisationen wie die amerikanische Anti Defamation League zu "Hate-Sites" erstellt haben. Die Deutschlandpremiere des bereits mehrfach überarbeiteten Systems, das auch die EU in ihrem Aktionsplan für ein Sauberes Internet unterstützt hat, kündigte Machill für den 19. Juni an.

ICRA und die darunter liegende Filterplattform sind allerdings nicht ganz unumstritten. Vor allem amerikanische Internet-Rechtler wie Lawrence Lessig sehen darin den Grundstein für eine weiter gehende Internetzensur gelegt. Derlei Vorwürfe kann Machill allerdings nicht verstehen. Ein totalitäres System etwa brauche ICRA nicht, da es "mit Proxy-Servern" agieren und so selbst eine virtuelle Mauer aufbauen könne, wie es die chinesische Regierung versuche. ICRA dagegen "gibt den Eltern ein Stück Macht zurück", da diese eigenständig einstellen könnten, was ihre Kinder sehen sollen. Mit dem neuen Katalog lasse sich sogar eine pornographische Darstellung von einer sexuellen Aufklärung oder ein gewaltverherrlichendes Medium von Gewalt im Rahmen der Berichterstattung unterscheiden. Wolfgang Osthaus vom Bitkom hält das System sogar für Schulen und Internet-Cafés für einsatzreif und fordert an öffentlichen Surf-Stationen seinen Einsatz: "Dort muss überwacht werden", stellte der Medienreferent klar. Dass in den USA der Einsatz von Filtersystemen gerade gerichtlich untersagt und von einer umfangreichen Studie zum Jugendschutz als ineffektiv bezeichnet wurde, erklärt er mit einem "gänzlich anderen Verständnis von Meinungsfreiheit."

Heftige Kritik äußerten Vertreter der Internet- und Medienwirtschaft unisono auf der Veranstaltung an den Plänen der Länder, im Rahmen des neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrags eine Zertifizierung der Selbstkontrolle einzuführen. Die Medienpolitiker der Länder hätten damit "den größten Angriff auf die Selbstkontrolle seit Bestehen der Bundesrepublik gestartet", sagte Arthur Waldenberger, Vorstandsvorsitzender der über 400 Mitglieder vertretenden Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia (FSM. Wenn die an sich ein Unding darstellende "regulierte Selbstregulierung" als System greifen würde, wären in Zukunft auch die Offline-Medien oder der Datenschutz davon betroffen. Osthaus drängte ebenfalls darauf, "dass die unabhängige Selbstkontrolle gewährleistet werden muss".

Die Wirtschaft stört sich vor allem daran, dass der Staat in Zukunft den Selbstkontrolleinrichtungen in die finanzielle Planung schauen, bei Aufklärungskampagnen der Mitglieder ein Wörtchen mitreden will und künftig schier jede Entscheidung von oben abgesegnet werden soll. Andernfalls droht Lizenzentzug. Für die freiwillige Vorabkontrolle von Inhalten durch die Anbieter selbst bedürfe es aber generell keiner hoheitlichen Erlaubnis, sagte Waldenberger. Bestimmte Voraussetzungen der Selbstkontrolle in den Telemedien müssen laut Gersdorf jedoch durchaus kodifiziert und damit vom Staat mit überwacht werden.

Auch Hansjörg Kuch, Leiter der Mediengruppe der Bayerischen Staatskanzlei, erklärte gegenüber Telepolis, dass der Staat einen Verfassungsauftrag zu erfüllen habe und die Selbstkontrolle nicht die letzte Entscheidung fällen dürfe. Gelegenheit, ihr gespanntes Verhältnis auszudiskutieren und den drohenden Eklat zu vermeiden, sollen die Landespolitiker und die Wirtschaft nun im Rahmen einer zweitägigen Anhörung zum Staatsvertragsentwurf nächste Woche in Berlin haben.