Wirtschaftspolitik, Migration und das Brexit-Referendum

Seite 3: Ignoranz gegenüber Sinn und Zweck von Gesetzen und Menschenrechten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gemäß der No-Bailout-Klausel von Artikel 125 Nr. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) haften weder die Union noch ein Mitgliedstaat für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten und treten nicht für solche Verbindlichkeiten ein. In anderen Worten, weder die EU noch ihre Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Schulden anderer Mitgliedstaaten zu übernehmen und treten damit nicht in die Stellung eines Schuldnerstaates ein, wie zum Beispiel Griechenland.

Um nicht gegen diese Klausel zu verstoßen, haben sich die Institutionen für eine andere Herangehensweise entschieden: zum Kauf von Ansprüchen und Forderungen gegenüber notleidenden Staaten mit Hilfe von öffentlichen Geldern. Ursprünglich sollte die No-Bailout-Klausel die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten sicherstellen. erantwortungsloses Verhalten sollte nicht noch dadurch belohnt werden, indem das Ausfallrisiko oder Schulden auf andere Mitgliedstaaten übertragen würden, da dies zu Verlusten unbeteiligter Staaten führen könnte, was insbesondere die Bundesrepublik Deutschland befürchtete.

In seiner Pringle-Entscheidung interpretierte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die No-Bailout-Klausel und die Befugnisse des ESM jedoch auf eine Art und Weise, die genau diese Risikoverlagerung ermöglicht. Vereinfacht gesagt stellte der EuGH fest, dass die No-Bailout-Klausel nicht verletzt wird, indem der ESM Forderungen gegen insolvente Staaten von Investoren kauft, weil dies nur der EZB verboten ist und weil Griechenland und andere überschuldete Staaten die Schuldner bleiben. Gläubiger von bankrotten Staaten zu werden, ist laut EuGH hingegen nicht rechtswidrig.

Auch wenn dieses Vorgehen nunmehr legal ist, führt es zu einer enormen und falschen Risikoverlagerung, da das Risiko jetzt nicht mehr von den Investoren getragen werden muss, die sich an riskanten und daher hochprofitablen Geschäften beteiligen, sondern von Staaten und internationalen Organisationen. Im Gegenzug werden diese Staaten und internationalen Organisationen zu Gläubigern hochverschuldeter Staaten und versuchen die noch verbliebenen Aktiva mittels "memoranda of understanding" und dem Auferlegen lokaler Haushaltsgesetze zu liquidieren.

Das klingt sehr nach Singers Elliott Heuschreckenfund, der Staatsanleihen insolventer Staaten wie Argentinien für Minimalbeträge aufkauft, in der Hoffnung später mit der Hilfe von Gerichten und Pfändungen an die restlichen Vermögenswerte zu kommen. Diese Herangehensweise der Institutionen wirft die folgenden beiden Fragen auf: Erstens, umfasst das Mandat der Institutionen auch den Einsatz von Steuergeldern in hochriskante Investitionen? Denn schließlich ist es für den Steuerzahler unerheblich, ob er als Gläubiger oder als Schuldner seine Steuergelder verliert, wenn Griechenland insolvent ist. Und zweitens, waren die Institutionen wenigstens clever genug die PIIGS-Staatsanleihen von gefährdeten Banken und Investoren genau so billig zu kaufen, wie sie Singer normalerweise erwirbt, um Verluste für die Steuerzahler so weit wie möglich zu reduzieren?

Nachdem die neueste Studie belegt, dass nur fünf Prozent der gesamten Bail-out-Summe dem griechischen Budget zugutekamen, während 95% für die Bezahlung von Forderungen und Zinsen aufgewendet wurden, ist es wahrscheinlich, dass der Einkauf nicht ganz so günstig war.8

Natürlich ist Haushaltskontrolle durch Marktdisziplin notwendig. Aber die Troika und die Wortführer in der Eurogruppe sind bislang eine Erklärung schuldig geblieben, in wie weit die Marktdisziplin auf Staaten und Finanzinvestoren gleichermaßen angewendet werden soll. Auch der EuGH, der sich in seiner Entscheidung als Anhänger der Marktdisziplinierung outet, kann offenbar nicht erklären, warum er mit seiner Entscheidung Staaten dieser Disziplinierung unterwirft, während er mit eben diesem Urteil Finanzinvestoren vor Marktdisziplinierung geradezu schützt.

Obwohl sie in Theorie und Praxis nachweislich falsch liegen, zeigen die Verantwortlichen ein kollektives kognitives Versagen, wenn es darum geht, die Schadfolgen ihrer Politik zu erkennen. Während die Krise anhält, reagieren sie mit denselben Programmen, davon jedoch mehr. Wo aber ist die Garantie für Griechenland und die anderen betroffenen Staaten nach acht Jahren des Beschwörens von Indikatoren, der falschen Risikoverteilung und des Ignorierens von Sinn und Zweck von Gesetzen?

Die UN-Leitprinzipien zu Auslandsschulden und Menschenrechten (UN guiding principles on foreign debt and human rights) stellen klar, dass sich Entscheidungen hinsichtlich Staatsschulden an den Menschenrechten messen lassen müssen:

6. Alle Staaten, egal, ob sie individuell oder kollektiv handeln (auch durch internationale oder regionale Organisationen, deren Mitglieder sie sind), haben die Pflicht, Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen. Sie haben sicherzustellen, dass alle ihre Aktivitäten hinsichtlich ihrer Entscheidungen bezüglich Kreditvergabe und -aufnahme, die Entscheidungen von internationalen oder nationalen öffentlichen oder privaten Institutionen zu denen sie gehören oder an denen sie beteiligt sind, die Verhandlung und Umsetzung von Darlehensvereinbarungen oder anderen Schuldinstrumenten, die Verwendung von Kreditfonds, Schuldenrückzahlungen, die Neuverhandlung und Restrukturierung von Auslandsschulden, und die Bereitstellung von Schuldenerlassen soweit angebracht, nicht von diesen Pflichten abweichen.

UN-Leitprinzipien zu Auslandsschulden und Menschenrechten

Dank Merkel, Schäuble, Draghi, Regling, Dijsselbloem und Lagarde haben die Staaten und internationalen Organisationen, die sie repräsentieren nun die Pflicht, Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen, indem sie sich dazu entschieden haben, zu Gläubigern insolventer Staaten zu werden. Wie oben erwähnt haben die Entscheidungsträger die wörtliche No-bailout Klausel zwar nicht verletzt, wohl aber ihren Sinn und Zweck, indem sie die Forderungen von Banken und Finanzinvestoren gegen die PIIGS-Staaten übernahmen. Aber indem sie dieses Problem umgingen, haben sie Banken und Funds, die als Firmen keine Verpflichtung zur Verwirklichung der Menschenrechte haben, mit Staaten und internationale Organisationen ersetzt, die zu deren Schutz und Verwirklichung verpflichtet sind.

Wenn sie sich nicht dazu entschieden hätten, Banken und Funds zu retten, hätte eine Staatspleite Griechenlands selbst innerhalb der Eurozone stattfinden können, wie es in der No-Bailout-Klausel vorgesehen ist. Ein Neustart mit internationaler Hilfe wäre dann ohne Altlasten auf freiwilliger Basis sofort möglich gewesen. Doch dank einer Hedgefonds-mäßigen Herangehensweise haben diese Entscheidungsträger eine Situation geschaffen, in der sie rechtlich verpflichtet sind, die Menschenrechte in den betroffenen Staaten zu respektieren, zu schützen und durchzusetzen.

Hinzu kommt, dass die Repräsentanten der Troika wiederholt öffentlich erklärten, sie hätten die vollständige Kontrolle über die Entscheidungen von Regierung und Parlament in Athen. Das sogenannte summit statement SN 4070/15 vom 12. Juli 2015 stellt auf Seite 5 klar: "Die [griechische] Regierung muss bei allen Gesetzentwürfen in relevanten Bereichen rechtzeitig die Institutionen konsultieren und deren Zustimmung einholen, bevor der Entwurf zur öffentlichen Debatte dem Parlament vorgelegt wird." Eine rechtliche Verantwortung für die Maßnahmen der Troika kann daher schwerlich in Frage gestellt werden.

In dem Artikel "Die Gesundheitskrise in Griechenland: von Austerität zu Dementierung", veröffentlicht 2014 in The Lancet, einem der renommiertesten medizinischen Fachjournale weltweit, wird der desaströse Effekt der Troikapolitik auf die Gesundheit untersucht. Demnach steigen beispielsweise HIV-Infektionen, Säuglingssterblichkeit und psychische Krankheiten seit 2008 an. 2009 gab es lediglich 15 neue HIV-Infektionen unter Drogenabhängigen, im Jahr 2013 bereits 1000 Neuinfektionen. In derselben Gruppe haben sich die Tuberkulosefälle innerhalb eines Jahres verdoppelt. Es gab einen sprunghaften Anstieg an Depressionen und Selbstmorde nahmen zwischen 2007 und 2011 um 45% zu. Zwischen 2008 und 2010 stieg die Säuglingssterblichkeit um 43% und das, obwohl die Geburtenrate generell zurückgeht. Zusätzlich legt die Datenlage eine reduzierte Lebenserwartung in Griechenland nahe.

Abgesehen vom medizinischen Standpunkt, zeigen die Daten auch, dass die gestiegenen Krankenzahlen auch zu höheren Kosten führen werden. Ein Gesundheitssystem, das vor erhöhten Ausgaben steht, während von der Troika scharfe Einschnitte erzwungen werden, ist nicht mehr in der Lage, sich um die Gesundheitsvorsorge der Bürger zu kümmern, für die es aufgebaut wurde.

Eine weitere Studie vom 25. Mai 2016 stützt diese Annahme. In einem Vergleich medizinischer Daten von mehr als 2.1 Milliarden Menschen in mehr als 75 Staaten über eine Dauer von 20 Jahren konnten die Verfasser eine Verbindung zwischen Wirtschaftskrisen und einem Anstieg an Krebserkrankungen nachweisen. Die Wirtschaftskrise verursachte in den beiden Jahren von 2008 bis 2010 ungefähr 260.000 zusätzliche Todesfälle durch Krebs in der OECD-Region.9

Die Lage in den anderen PIIGS-Staaten ist nicht viel anders. Eine spanische Nichtregierungsorganisation, Marea Granate, hat nachgewiesen, dass die Regierung Rajoy die Anzahl der Emigranten drastisch in den offiziellen Statistiken nach unten manipuliert hat, um eine generelle Zufriedenheit der Bevölkerung mit der spanischen Arbeitsmarktpolitik vorzutäuschen. In einigen Fällen zählten die Behörden der Zielländer sogar zehn Mal mehr Immigranten, als die spanische Regierung Emigranten. Und momentan leben und arbeiten in etwa eine Million Iren in Großbritannien, die wirtschaftliche Schwierigkeiten befürchten, falls es zu einem Brexit kommt.