Wo Bücher brennen ...

George Orwells "1984" ist wieder in aller Munde. Aber ein anderes Buch trifft die Probleme unserer Zeit viel treffender: Bradburys "Fahrenheit 451". Ein deutsch-türkisches Beispiel

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In Schulbüchern für den Deutschunterricht finden sich literarische Texte, aber auch journalistische Beiträge. Die Schüler sollen lernen, die unterschiedlichen Textgattungen auseinanderhalten und ihre Eigenschaften erkennen zu können. Was ist eine Erzählung, was ein Gedicht? Was ist ein Kommentar, was macht einen Bericht aus? Und so weiter. Das Ziel ist letztlich auch, Medienkompetenz zu erlernen - in Zeiten von Fake News umso wichtiger.

In der Türkei waren die Schulbücher bislang ähnlich strukturiert. Heute, nach einer umfangreichen Reform, sieht das wieder anders aus. Die Evolutionstheorie ist komplett verschwunden, Atatürk wird nur noch marginal behandelt. Erst vor wenigen Monaten wurden gar 900.000 Schulbücher vernichtet und dann neu gedruckt. Doch in der neuen Auflage fehlte ein Text des Journalisten Can Dündar. "Man muss sich an die Einsamkeit gewöhnen", hieß dieser unpolitische Beitrag. Doch dem Erziehungsministerium ging es nicht um den Inhalt, sondern darum, den Namen des ehemaligen Cumhuriyet-Chefredakteurs zu tilgen. Die Schüler sollen mit ihm nicht in Berührung kommen.

Denn Dündar, der heute in Berlin lebt, wird als Terrorunterstützer gebrandmarkt. Was hat er falsch gemacht? Im Grunde nichts. Im Gegenteil. Als er im Jahr 2015 Waffenlieferungen des türkischen Staates an syrische Extremisten offenlegte und in seiner Zeitung darüber berichtete, machte er vor allem einen guten Job.

Für die regierende AKP wurde er zum Staatsfeind, man brandmarkte ihn als "Verräter". So heißt auch sein unlängst erschienenes neues Buch, seine "Aufzeichnungen im deutschen Exil", in dem er von der Schulbuch-Angelegenheit berichtet. "Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen", zitiert er Heinrich Heine. Und erinnert daran, dass genau das in der Türkei bereits geschehen ist: Beim Sivas-Massaker 1993 wurden 33 Schriftsteller und Intellektuelle von einem wütenden nationalistischen Mob ermordet. 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul erschossen.

In der Türkei wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 über 30 Verlage geschlossen, dazu über 100 Medienhäuser. Aktuell sind 176 Journalisten in Haft. Bücher und Zeitungen werden zensiert. Menschen, die auf die Menschenrechtsverletzungen der AKP hinweisen, werden festgenommen.

Kritik ist nicht erwünscht in Erdogans neuer Türkei, und mit den Fakten hapert es auch bisweilen. Wenn mehr als 50.000 Menschen unter dem Vorwand des Terrorismus inhaftiert werden, dann hat das mit der Realität nichts mehr zu tun. Wenn die türkische Regierung krampfhaft versucht zu vermitteln, die PKK, der IS und die Gülen-Bewegung seien ein und dasselbe, dann ist das bestenfalls aberwitzig. Und wer sich dabei an das Wahrheitsministerium aus George Orwells "1984" erinnert fühlt, liegt nicht falsch.

Nach der Parlamentswahl in der Türkei im Sommer 2015 sagte mir ein AKP-Wähler: Wenn es nicht in Deutschland so viele Leute gäbe, die Terroristen wählen (er meinte die Partei HDP), hätte die AKP 90 Prozent der Stimmen geholt. Ich versuchte, ihm mit Fakten zu begegnen. Zum einem hatte die Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland für die AKP gestimmt. Zum anderen liegt deren Zahl bei knapp 1,2 Millionen. Viel zu wenig also, um das Ergebnis ernsthaft zu beeinflussen. Darauf ging mein Gegenüber gar nicht ein. Stattdessen beschimpfte er mich und fragte, wie ich dazu käme, mich in türkische Angelegenheiten einzumischen.

Ähnliche Szenen habe ich in Deutschland mit AfD-Anhängern erlebt. Fakten, die diesen Leuten nicht in den Kram passen, nennen sie "Lügen". Folglich wird auch jede nicht genehme Berichterstattung als "Lügenpresse" bezeichnet, hier wie dort. Der Unterschied ist freilich, dass es in der Türkei heute tatsächlich eine gleichgeschaltete und staatlich gelenkte Medienlandschaft gibt, im Gegensatz zu Deutschland. Nur sind es nicht jene Hofberichterstatter, denen die Wut entgegenschlägt, sondern jene, die dem einfachen Weltbild mit Tatsachen widersprechen, die es ins Wanken bringen könnten.

Freie Medien, Literatur und Kunst geraten in jeder Diktatur zuerst ins Fadenkreuz

Vor nichts haben Despoten mehr Angst, als dass sie am Ende ohne Kleider dastehen, weil die Realität nicht das ist, was sie propagieren. Manche Bücher, so sagte Recep Tayyip Erdogan einmal, seien "effektiver als Bomben". Mit Angst herrschen kann man nur, wenn es genug Menschen gibt, die sich Angst machen lassen. Mit Fakten verträgt sich diese Taktik in der Regel nicht. Zu beobachten ist das auch bei Donald Trump in den USA. Wer den Klimawandel und die dahinterstehenden anerkannten wissenschaftlichen Fakten leugnet (auch hier ist die AfD in der ersten Reihe mit dabei), der hat sich in eine postfaktische Parallelrealität verabschiedet.

In Deutschland herrscht - zum Glück - die Freiheit von Meinung, Kunst und Kultur. Es gibt keine Bücherverbote, von Vernichtungsaktionen ganz zu schweigen. Die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit ist zu präsent, und an diesem konkreten Beispiel sieht man, wie wichtig das ist.

Doch es gibt eine Partei im Bundestag, die dazu eine andere Position hat. Die AfD wettert in ihrem Programm gegen "die Ideologie des Multikulturalismus" und sieht die "deutsche Leitkultur" gefährdet, ohne näher definieren zu können, was sie genau darunter versteht. Die Partei will "nicht zulassen, dass Deutschland aus falsch verstandener Toleranz sein kulturelles Gesicht verliert". Dabei ist es eben dieses pluralistische und auch multikulturelle Gesicht, das Deutschland heute ausmacht. Die Partei tut so, als wäre in der Abschottung nach außen eine kulturelle Entwicklung möglich.

Dass das nicht stimmt, hat die Weltgeschichte oft genug bewiesen. Im Gegenteil. Abgeschottete Kulturen gehen nach kurzer Zeit ein. Sie können nicht wachsen, sich nicht entwickeln. Die Partei demonstriert zugleich aber auch, dass sie gar nicht verstanden hat, wie Kultur eigentlich entsteht.

In der gesamten, multikulturell geprägten deutschen Kulturlandschaft wird sich kaum jemanden finden, der bereit wäre, auf den interkulturellen Dialog und grenzüberschreitende Kooperationen zu verzichten. Sie steht mit ihrer Position - und das ist gut so! - auf völlig verlorenem Posten. Darüber hinaus macht sie in der bundesdeutschen Kulturförderung "ideologische Zielvorgaben" aus - natürlich ohne die Behauptung zu konkretisieren, denn das könnte sie gar nicht, weil solche Vorgaben schlicht nicht existieren.

Sie blendet dabei aus, dass sie selbst es ist, die ideologisiert, wenn sie ein positiveres Bild der deutschen Geschichte fördern will und dasselbe auch von Künstlern erwartet. Sie will damit nichts weniger als eine Umdeutung der deutschen Geschichte und insbesondere eines ganz bestimmten Zeitraums, das haben mehrere Parteimitglieder unmissverständlich klargemacht. Kurz: Die AfD will ein Wahrheitsministerium.

"Wer Bücher liest, schaut in die Welt, und nicht nur bis zum Zaune."

Die Grundlagen für Vieles davon hat Thilo Sarrazin in seinem längst durchweg widerlegten Buch "Deutschland schafft sich ab" im Jahr 2010 gelegt, in dem er sich nicht einmal zu schade war, Zitate von Goethe aus dem Zusammenhang zu reißen und damit ihren Inhalt zu verfälschen, was Hadayatullah Hübsch in der FAZ eingehend analysiert hat. So zitierte Sarrazin aus Goethes "West-östlichem Divan" den Vers: "Der Stil des Koran ist seinem Inhalt und Zweck gemäß streng, groß, furchtbar", um damit zu belegen, welche niedrige Meinung Goethe vom Islam gehabt haben soll. Tatsächlich lautet der komplette Vers aber: "Der Stil des Koran ist seinem Inhalt und Zweck gemäß streng, groß, furchtbar, stellenweise wahrhaft erhaben."

Nein, Goethe als Kronzeugen für die Islamophobie zu nehmen, das funktioniert nicht und verfängt nur bei jenen, die Goethe nicht gelesen haben - und die sich folglich erstmal ganz weit hinten anstellen müssen, wenn es darum geht zu verhandeln, was denn eigentlich unter deutscher Kultur zu verstehen ist.

Goethes Leitmotiv im "Divan" war der lyrische Wettstreit mit seinem persischen Dichtervorgänger Hafis, den er zutiefst verehrte - und dessen eigener "Divan" bis heute zu den wegweisenden, zeitlosen Werken im Kanon der Weltliteratur zählt. Goethe sagte auch: "Wer Bücher liest, schaut in die Welt, und nicht nur bis zum Zaune."

Der türkische Präsident Erdogan hingegen sagte einmal, er habe keine Zeit, um Bücher zu lesen, er lasse sie sich lieber von seinen Mitarbeitern zusammenfassen. Einen Vizerektor einer türkischen Universität zitiert Can Dündar mit folgenden Worten: "Den Fortbestand der Türkei sichert das ungebildete, unwissende Volk." Dass Erdogans Anhänger in den Tagen nach dem Putschversuch, als die Hexenjagd auf Andersdenkende bereits in vollem Gange war, Buchhandlungen stürmten und zerlegten, wundert da kaum noch.

In keinem anderen europäischen Land wird weniger gelesen als in der Türkei

Die Grundlagen für solch kultur- und bildungsfeindliche Einstellungen werden aber schon gelegt, lange bevor rechtsradikale Politiker sie sich zunutze machen. So wird in keinem anderen europäischen Land weniger gelesen als in der Türkei. Obwohl das Land eine reichhaltige literarische Kultur und mit Schriftstellern wie Orhan Pamuk, Mario Levi, Hakan Günday, Oguz Atay und vielen weiteren Literaturschaffende von Weltrang zu bieten hat, ist die Rezeption von Literatur auf eine sehr kleine gebildete Schicht beschränkt.

In Deutschland ist das noch anders, es wird hier vergleichsweise viel gelesen. Immerhin rund neun Millionen Menschen hierzulande lesen täglich Bücher, fast ein Drittel der Bevölkerung liest mehr als zwanzig Bücher pro Jahr. Alles gut also? Leider nein. Denn es gibt seit Jahren einen kontinuierlichen Abwärtstrend. Seit 2010 ist die Zahl der jährlich verkauften Bücher um deutlich über zehn Prozent gesunken. Es wird also noch viel gelesen - aber immer weniger. Und das ist eine insgesamt besorgniserregende Entwicklung, die uns von Orwell zu Bradbury führt.

Dass nach dem NSA-Skandal und der Fake-News-Debatte der Roman "1984" wieder in die Aufmerksamkeit rückte, hatte gute Gründe. Parallel dazu ist es aber angebracht, Ray Bradburys "Fahrenheit 451" wieder zu lesen. In seiner düsteren Vision beschreibt der Brite ein Land, in dem das Lesen oder nur der Besitz von Büchern unter Strafe steht, wer Bücher hat, dessen Haus wird angezündet. Nur eine kleine Gruppe widersetzt sich, lebt in den Wäldern und ist damit beschäftigt, Bücher auswendig zu lernen, um sie der Nachwelt zu bewahren.

Auf die gängige Interpretation einer Diktatur angesprochen, sagte Bradbury einmal, dass er beim Schreiben eigentlich etwas anderes im Sinn gehabt hätte: Nämlich eine Kritik an Menschen, die immer weniger lesen und sich stattdessen passiv vom TV berieseln lassen. Der Punkt ist: Genau das ist die Vorstufe einer Gesellschaft, in der Bildungsfeindlichkeit herrscht, in der Bücher zensiert, verboten und verbrannt werden. Es ist die Vorstufe zu Orwell. Es ist der Grund, warum sinkende Leserzahlen oder Angriffe auf die Freiheit von Kultur und Bildung uns alle in höchstem Maße alarmieren müssen.

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