Wo Initiatoren und Kritiker von #ZeroCovid richtig liegen - und wo nicht
Seite 3: Falsche Fragen an die Initiatoren von #ZeroCovid
- Wo Initiatoren und Kritiker von #ZeroCovid richtig liegen - und wo nicht
- Keine Schlussfolgerungen aus eigener argumentativer Schwäche
- Falsche Fragen an die Initiatoren von #ZeroCovid
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Offenbar fanden die so Befragten die Fragen zu oberflächlich und sind auf sie nicht eingegangen. Wieso fällt Reitter sofort die Lebensmittelbranche und andere für die Versorgung notwendige Bereiche ein und nicht etwa die Automobilproduktion, die Chemieindustrie mit ihrer Herbizid- und Pestizidproduktion, mit denen diese Bereiche den Weltmarkt beglücken?
Für ihn scheint jede Begrenzung der sozialen Kontakte, und seien sie auch zum Gesundheitsschutz, ein Gewaltakt gegen den Bürger zu sein, weswegen jeder Verweis des Aufrufs auf Demokratie und Beteiligung der Bürger nur "gutklingende Phrasen" von Linken sind: "Ich fragte die Initiatoren: ‚Demokratie ist ein komplexer Begriff. Ist folgende vorläufige Definition ok? Die Menschen entscheiden per Abstimmung vor Ort. Was ist nun, wenn die Belegschaften, Betreiberinnen von Kindergärten und Schulen usw. sich in den demokratischen Prozessen gegen den radikalen Shutdown aussprechen, wenn sie dagegen stimmen?‘ (…) Dem Vertrauen, gerade jetzt würden die Massen sich mit Begeisterung dem totalen Shutdown anschließen, ja ihn mit Nachdruck fordern, liegt eine weitere naive, blauäugige Unterstellung zugrunde. #Zero Covid kann nur der Staat mit repressiven Mitteln durchsetzen, keine Betriebsversammlung und kein Bürgerkomitee kann dies."
Demokratie ist nicht einfach ein Begriff, den man beliebig definieren kann, sondern eine bestehende Staatsform. Insofern ist der erste Satz der Anfrage eine beliebige Phrase. Die folgende Definition ist dann blauäugig und naiv, weil sie nicht die Demokratie erfasst, sondern behauptet, bestimmte Entscheidungen könnten einfach so von Betriebsversammlungen oder Belegschaften von Kindergärten getroffen werden. Mit der so konstruierten Demokratie will Reitter dann die Initiatoren blamieren.
Damit Arbeitnehmer sich in Betrieben welcher Art auch immer nicht mehr gefallen lassen, ihre Gesundheit zu riskieren, muss man sie erst davon überzeugen, dass dieser Schaden nicht hinnehmbar ist. Einfach darüber abstimmen zu lassen, diese Vorstellung entspringt nicht unbedingt dem Aufruf - denn dann könnten sie ihn sich sparen - sondern der Vorstellung des Kritikers. Und nachdem er erst den Popanz einer Bürgerdemokratie aufgebaut hat, schießt er diesen ab, in dem er konstatiert, dass diese Gremien diese Kompetenz gar nicht besitzen.
So wie der Autor sich die Demokratie zurecht konstruiert hat, verfährt er auch mit dem Begriff der Solidarität: "Ebenso wie der Begriff der Demokratie wird der Begriff der Solidarität jeden Inhalts beraubt und ins Gegenteil verkehrt. Solidarität setzt im Kern verschiedene Betroffenheit voraus. Solidarität ist kein Ausdruck des eigenen, unmittelbaren Interesses. Seine eigenen hoch individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, hat mit Solidarität nichts zu tun. Man ist solidarisch mit Menschen und ihren Bedürfnissen und Kämpfen, obwohl sie nicht unmittelbar die eigenen sind."
Leider ist diese Vorstellung von Solidarität sehr verbreitet und macht Solidarität zu einer rein moralischen Veranstaltung. Schaut man jedoch zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung, auf deren Fahnen dieser Begriff prangte, so verdankt sich der Begriff der Erkenntnis, dass abhängig Beschäftigte der Macht der Arbeitgeber nichts entgegen zu setzen haben, wenn sie allein ihnen gegenübertreten.
Druck ausüben können Arbeitnehmer nur, wenn sie die Konkurrenz untereinander aufheben und sich gemeinsam wehren. Es geht um ihr Interesse auf ein Auskommen durch Lohn und Gehalt. Dieser Ausgangspunkt ist heute kaum noch präsent. Wenn von Solidarität die allgemeine Rede ist, hört schon jeder heraus, dass es um weiteren Verzicht gehen soll.
Und weil auch der Aufruf sich nicht unmittelbar an die Betroffenen wendet, sich die Gesundheitsgefährdung nicht länger bieten zu lassen, steht das Urteil von Reitter fest: "Praktisch bedeutet die von #Zero Covid geforderte Solidarität gerade nicht, sich als gesellschaftlich handelndes Subjekt zu konstituieren. Die Appellationsinstanz ist der Staat, der als verkörperte Vernunft endlich zum guten Herrscher wird. Und das soll wie Göbel schreibt, am Ende linke Politik sein? (…) Der Aufruf #Zero Covid fällt in eine Zeit, in der die bedrohlichen Züge des Staates und der mit ihnen verbundenen Medien immer offensichtlicher werden."
Es stimmt, dass sich der Aufruf an den Staat wendet und ihn als eine Instanz unterstellt, die eigentlich für das Wohl der Bürger da zu sein hätte. Mit dem Aufruf wenden sich die Initiatoren auch an die Bürger, denn sie stellen schließlich fest, dass der Staat seinen von ihnen zugeschriebenen Aufgaben nicht nachkommt. Deshalb sind die Bürger aufgerufen, sich der Initiative anzuschließen.
Insofern kennzeichnet dies vielfach wirklich "linke Politik", die mittels Mobilisierung der Bürger den Staat zu einer wohltätigen Einrichtung für sie machen will. Warum es dazu einer Gewaltinstanz braucht, um die Bürger zu beglücken, bleibt dabei eine offene Frage.
Besonders verkehrt soll eine solche Politik angesichts der jetzigen Zeit sein, in der sich der Staat als autoritär erweist. Auch eine seltsame Kennzeichnung. Zu welcher Zeit ist denn ein Gewaltapparat nicht autoritär und lässt über seine Maßnahmen abstimmen?
Allseits Illusionen in den Staat
Die Kennzeichnungen "autoritär" und "Corona-Staat" verraten, dass der Autor ebenso wie die von ihm kritisierten Initiatoren der Vorstellung anhängt, der demokratische Staat sei ein Dienstleister für seine Bürger, der aus welchem Grund auch immer seine Macht zu Corona-Zeiten missbraucht und seine Bürger mehr drangsaliert, als es sich für einen ordentlichen Staat gehört. Deshalb gehört es sich nicht, sich an ihn zu wenden.
So kommt Reitter zu seinem abschließenden Urteil: "Realpolitisch hat die #ZeroCovid-Initiative keine Bedeutung. Weder werden sich die zerstrittenen EU-Staaten, die sich derzeit im Rette sich wer kann-Modus befinden, synchron und gemeinsam auf derart radikale Maßnahmen einigen können, noch werden viele Menschen mitspielen wollen - und auch nicht können. Die reale Bedeutung ist symbolisch und ideologisch. Der autoritäre Covid-19-Staat hat seine linke Flankendeckung bekommen."
Dass eine Bewegung, die etwas ändern will, keinen Erfolg hat, kann man ihr schlecht vorwerfen, schließlich ist jede Bewegung auf das Mitmachen von anderen angewiesen. Wenn jedoch der Vorwurf auf Realpolitik geht, dann wird einer solchen Bewegung schon ein Maßstab vorgegeben, der der Machbarkeit. Dass aber ausgerechnet eine unbedeutsame Bewegung für den Staat von Nutzen sein soll, bleibt das Geheimnis des Schreibers.
Fazit: Beide täuschen sich im Staatszweck
Der Aufruf wie die Kritik sind sich in einem Punkt einig: Dass der demokratische Staat nicht seinen ihm zugedachten Auftrag erfüllt, zum Wohle seiner Bürger zu handeln. Die einen wollen ihn mit einem Aufruf durch Unterstützung von möglichst vielen Unterschriften dazu bringen, dass er seine Politik zum Wohle der Wirtschaft ändert in Richtung Versorgung der Bürger.
Reitter sieht in dem Appell an den Staat eine Rechtfertigung für dessen Einschränkungen der Bürger. Die er für eine Perversion seiner eigentlichen Bestimmung hält, weswegen er ihn als autoritär und Corona-Staat bezeichnet.
Das wirkliche Handeln des Staates und seine Zwecke kommen so nur als Abweichung von dem Ideal vor, das Initiative und Reitter vorschweben. Daraus speist sich ihre Enttäuschung und das Bestreben, andere Bürger zu gewinnen, ihn wieder auf den "richtigen" Weg zu bringen. Und so wechseln Mahnung und Verweis auf die Realität sich ab, Hoffnung und Enttäuschung. Solange die Parteien sich nicht mit den wirklichen Zwecken von Staat und Kapital auseinandersetzen, wird es dabei auch bleiben.
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