Wo Initiatoren und Kritiker von #ZeroCovid richtig liegen - und wo nicht

Seite 2: Keine Schlussfolgerungen aus eigener argumentativer Schwäche

Irgendwie wissen auch die Autoren, dass ihre schöne Vorstellung von einem Shutdown bei der Politik nicht auf offene Ohren stoßen wird. Eine Schlussfolgerung bezüglich der Ziele der Politik wollen sie aber auch nicht ziehen. Dann wäre es aus mit dem "Wir" und sie müssten Gegensätze bemerken, zum Beispiel zwischen Arbeitnehmern und der Politik.

Weil der Versuch der Kontrolle der Pandemie, ohne der Wirtschaft wirklich wesentlich zu schaden, auf Kosten der Gesundheit derer geht, die während der Pandemie weiterarbeiten müssen. Deshalb wäre es notwendig, den Widerstand der Arbeitnehmer gegen die Politik von Arbeitgebern, Politikern und Medien zu stärken, damit sie sich dies nicht mehr gefallen lassen. Diesen Schluss wollen die Autoren aber keinesfalls ziehen. Auch sie wissen, dass ein Fernbleiben von der Arbeit für die Mehrheit der Menschen gleich Einkommensverlust bedeutet: "Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig."

Und so können sie sich vorstellen, wo der Staat doch so viel Geld für Rettungspakete ausgibt, dass er das genauso gut für die Bürger tun könnte, die von ihrer Arbeit leben müssen. Man braucht bloß davon abzusehen, wofür der Staat Geld ausgibt und wofür nicht - und schon gibt es keine Probleme mehr.

Der "Wumms" des Finanzministers soll ja die Wirtschaft vor der Krise schützen und hat offenbar auch Wirkung gezeigt wie die Gewinnmeldungen nicht nur in der Automobilindustrie zeigen. Dass dieses Geld genauso gut an Obdachlose oder für Migranten ausgegeben werden könnte, wie der Aufruf vorschlägt, will die staatliche Zwecksetzung nicht zur Kenntnis nehmen.

Und wenn man schon dabei ist, von allen staatlichen Zwecken abzusehen und den Staat für eine Wohlfahrtseinrichtung zu halten, dann kann man auch gleich den Ausbau des Gesundheitswesens fordern, die Impfstoffe für ein globales Gemeingut erklären, obgleich alle Staaten damit beschäftigt sind, dass diese möglichst bei ihnen als Geschäftsmittel mit staatlicher Förderung entwickelt werden und sie als Mittel in der staatlichen Konkurrenz um Einfluss zur Verfügung stehen.

Und in der gleichen Ignoranz gibt der Aufruf sich dann auch realistisch: "Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen finanzierbar."

Dass es in Europa viel Reichtum gibt, stimmt. Dass er sich in den Händen von Vermögenden befindet auch. Nur besteht der ganze Zweck der europäischen Staaten darin, diesen privaten Reichtum weiter zu befördern. Schließlich profitieren die Staaten von dem so produzierten Reichtum, indem sie ihnen Mittel für ihre Macht bescheren.

Der Rest ist als abhängige Größe vorgesehen, die diesen Reichtum schaffen darf, aber von ihm weitgehend ausgeschlossen ist. Und so ist denn auch der Schluss von Ignoranz geprägt, denn schließlich organisieren die demokratischen Staaten genau diesen Gegensatz: "Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andrerseits."

Wenn es keinen Gegensatz zwischen dem demokratischen Staat und dem Gesundheitsschutz seiner Bürger gibt, warum denn dann überhaupt der Aufruf? So einfach in Eins zu setzen sind Gesundheitsschutz und Demokratie offenbar doch nicht.

Wo die Kritik an Zero Covid ebenfalls danebenliegt

In seinem Artikel zu #ZeroCovid in Telepolis sorgt sich Karl Reitter um das Image der Linken. Damit schafft er ein neues Geistersubjekt. Ist im Aufruf von #ZeroCovid ständig vom "Wir" die Rede, so schafft Reitter mit der Linken ebenfalls eine Gemeinsamkeit, die es in der Realität nicht gibt.

Er meint ja nicht eine bestimmte Partei, sondern die vielfältigen Gruppen und Grüppchen sowie Individuen, die sich irgendwie als links verstehen, aber weder sich in einem informellen noch organisatorischen Zusammenhang bewegen.

Der Initiative kommt der Autor zunächst mit sozialpsychologischem Verständnis entgegen, weil die Pandemie es den Menschen schwer macht. Auch kann er einigen Forderungen des Aufrufs etwas Positives abgewinnen. So der Forderung nach dem Ausbau des Gesundheitswesens, der Entkopplung der Impfstoffproduktion von Profitzielen und der Forderung einer europaweiten "Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen".

Dass diese Forderungen völlig davon absehen, welche Zwecke die europäischen Staaten verfolgen, ganz unabhängig von der Parteienzusammensetzung ihrer Regierungen, ist dem Autor keine Kritik wert. Er denkt sich auch den Staat als eine Instanz, die beliebig umgestaltet werden kann, findet man nur ausreichend Wählerunterstützung. Dass diese gar nicht darüber entscheiden, was staatlicherseits an Aufgaben anstehen, sondern Personen wählen, die die feststehenden Aufgaben ausführen, wird offenbar übersehen.

Stein des Anstoßes am Aufruf ist die Forderung nach Zero Covid, also Null Infektion: "Es ist die Orientierung auf eine völlige Ausrottung des Virus, die der Initiative jene offenbar faszinierende Aura beschert. Die Vorstellung, alles soziale und gesellschaftliche Leben so lange stillzulegen, bis die Infektionsrate absolut null beträgt, hat etwas Religiöses an sich. Denn es ist ebenso irrwitzig zu meinen, eine Welt ohne Schnupfen und Husten sei möglich, wie eine Welt ohne Viren."

Es ist schon etwas anmaßend, wenn der Initiative vorgehalten wird, sie würde davon ausgehen, dass mit einem Shutdown, der auch die Arbeitswelt miteinschließt, alle Viren auszurotten wären. Davon ist in dem Text nichts zu finden. Wenn dort von einer vorsichtigen Lockerung und langfristigen Visionen die Rede ist, dann gehen auch die Autoren des Aufrufs davon aus, dass nach einem totalen Lockdown mit dem Virus umzugehen ist.

Ausgerechnet dort, wo der Aufruf einen reellen Kern hat – dass die Pandemie nur dann stark einzuschränken ist, wenn auch die Wirtschaft in den Lockdown einbezogen wird – liegt der Hauptangriffspunkt der Kritik von Reitter. Während er ansonsten bereit ist, jeden Idealismus des Aufrufs mit zu unterschreiben.

Die Einsicht der Initiative, dass die Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Bürger immer ihre Grenzen am Funktionieren der Wirtschaft hat, will der Autor ebenfalls so nicht stehen lassen: "Diese Botschaft lässt sich auch so dechiffrieren: Da die herrschende Klasse unwillig ist, den Lockdown radikal durchzuführen, muss die Arbeiterinnenklasse ran. Angesichts des trotzkistischen Hintergrundes mancher Initiatorinnen könnte man auch sagen: Lockdown unter Arbeiterinnenkontrolle. Daher erklärt sich auch der befremdliche Appell an die Gewerkschaften."

Da wo #ZeroCovid sich auf die Arbeiter bezieht, weil sie irgendwo noch eine Ahnung davon haben, dass von der Politik wie von der Wirtschaft eine Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu erwarten haben, hält Reitter dies für einen Witz. Der Übergang zur Denunziation verschwimmt, wenn er auf den Hintergrund einiger Initiatoren verweist.

Ein Rätsel bleibt zudem, wieso es befremdlich ist, die Gewerkschaften aufzufordern, sich für die Gesundheit ihrer Mitglieder einzusetzen.

Seine Kritik mündet in dem Vorwurf der "Realitätsverweigerung". Ein seltsamer Vorwurf, zielt er doch darauf, dass diejenigen, die diese Realität verändern wollen, gefälligst die Anforderungen dieser Realität zu akzeptieren haben.

Und so sieht er in der falschen Kapitalanalyse den Grund für das illusionäre Ziel von null Ansteckungen. Doch er entdeckt weitere Ungereimtheiten wie die Stilllegung der nicht dringlich erforderlichen Bereiche der Wirtschaft: "Ich habe am 18. Januar den Initiatoren via E-Mail mehrere Fragen gestellt, unter anderem auch folgende:<Was bedeutet das konkret? Werden Lebensmittelgeschäfte geschlossen, die Lebensmittelproduktion stillgelegt? Werden Post, die Zustelldienste, die Müllabfuhr, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxis stillgelegt?"

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.