Wo sind die Friedensstifter?

Seite 3: Die notwendige Debatte über eine friedenspolitische Perspektive

Ich stimme Rolf Mützenich zu, der im Oktober im IPG-Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb:

Es ist die Aufgabe auch deutscher und europäischer Diplomatie, alles dafür zu tun, damit das Denken in Macht- und Einflusszonen nicht unumkehrbar wird. Eine weitsichtige und umfassende Außenpolitik bleibt auch heute unerlässlich.

Will man die geopolitische Strategie in eine friedenspolitische Perspektive lenken, ist es unerlässlich, etwa über folgende Fragen eine ernsthafte Debatte zuführen:

  • Will man Russland Sanktionserleichterungen in Aussicht stellen, wenn Putin sich zu einem Waffenstillstand und zu einem möglicherweise darauffolgenden Friedensvertrag bereit erklärt? Es brauchte eine klare Antwort auf die Frage, ob die Sanktionen konditioniert sind, ob sie in einer Wenn-Dann-Beziehung stehen.
  • Sollte es ein offensives Angebot für eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen einen gestuften Rückzug des russischen Militärs geben? (Damit könnte man z.B. auch gleichzeitig an die russische Bevölkerung das Signal senden, dass ein Rückzug der Besatzungstruppen die sukzessive Aufhebung der belastenden Wirtschaftssanktionen nach sich ziehen würde.)
  • Wer könnte ausloten, ob es stimmt, dass im Kreml "eine Verhandlungslösung gewollt wird"? Ende Oktober hat Putin auf einem Moskauer Diskussionsforum seine Bereitschaft zu Friedensverhandlungen erklärt; es ist nachvollziehbar, dass er vor solchen Gesprächen keinerlei Kompromissbereitschaft angedeutet hat. Auf der anderen Seite hat auch Präsident Selenskyj in seiner Rede auf dem G20-Gipfel auf Bali maximale Positionen vertreten: Voraussetzung sei ein Abzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität seines Landes. Für dieses seien danach "effektive Sicherheitsgarantien" notwendig.

Die Ukraine schließt allerdings Verhandlungen derzeit sogar mit einem Präsidenten-Dekret aus. Wenn die deutsche Außenministerin die Weigerung des ukrainischen Präsidenten unterstützt, so ist dies das exakte Gegenteil von Diplomatie. Denn auch Annalena Baerbock müsste wissen, dass eines Tages über einen Waffenstillstand verhandelt werden wird, die Frage ist nur, ob in den nächsten Wochen, in einigen Monaten oder in einem oder zwei Jahren. Kann sich Frau Baerbock nicht vorstellen, was dann von der Ukraine noch übrig wäre?

Die Ablehnung einer diplomatischen Lösung würde auf Jahrzehnte hinaus Ressourcen vornehmlich in die Aufrüstung lenken.

Zu einer friedenspolitischen Strategie gehörte, dass über solche Fragen überhaupt erst einmal nachgedacht werden darf und kann.

Weil Verhandlungsangebote wohl nicht auf dem offenen Markt ausgetragen werden können, ist dabei nicht in erster Linie die Regierung gefragt. Verhandlungskompromisse müssten – wie bei der Lösung der Kuba-Krise – über Back-Channels gefunden werden.

Das heißt allerdings keineswegs, dass über etwaige Verhandlungspositionen nicht öffentlich diskutiert und auch gestritten werden darf. Vor allem eine Linke, die sich nicht der Gefahr aussetzen will, auf die populistischen Parolen der Rechten hereinzufallen, ist gefordert, Vorstellungen zu entwickeln, wie sie sich eine diplomatische Lösung vorstellt.

Dabei müssten u.a. folgende, eigentlich auf der Hand liegende Fragen diskutiert werden:

  • Mal angenommen, Russland forderte als Gegenleistung für eine Waffenruhe die Aufhebung westlicher Sanktionen. Würden wir einer solcher Aufhebung zustimmen bzw. welche Sanktionen würden wir aufheben? Oder wären wir erst bei einer umfassenden Friedensregelung bereit nachzugeben?
  • Mal angenommen, ein Waffenstillstand rückte in erreichbare Nähe. Wer sollte und könnte als Vermittler auftreten? Etwa Erdoğan, wie beim Abkommen über die Getreidelieferungen? US-Präsident Biden? Chinas Staatschef Xi Jinping oder Indiens Premierminister Modi? UN-Generalsekretär António Guterres? Was könnten Scholz oder Macron beitragen? Könnten die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zusammen mit der Europäischen Union und der Ukraine eine Verhandlungsgruppe bilden? Was könnten Scholz oder Macron beitragen?
  • Wie könnte ein Beobachtungs- und Verifikationsmechanismus für einen Waffenstillstand aussehen? Welche Garantiemächte gäbe es dafür?
  • Warum versucht eigentlich UN-Generalsekretär António Guterres nicht die Kriegsparteien an einen Verhandlungstisch zu laden. Wenn dann jemand nicht erschiene, wäre wenigstens klar, wer den Krieg weiterführen will und wer nicht.
  • Wäre es möglich, dass dieser Krieg eingefroren werden könnte, (so Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer), wäre es etwa möglich einen ähnlichen Status zu erreichen, wie in Abchasien mit der Abspaltung von Georgien oder mit dem de jure unabhängigen, aber de facto von Russland abhängigen Transnistrien? (Moldau) Oder wäre dies nur eine "Kaschmir-Lösung" mit immer wieder aufflammenden Kämpfen?
  • Würde die Ukraine – wie bei den Verhandlungen in Istanbul im März dieses Jahres noch angedeutet – eine Lösung wie nach 2014 akzeptieren, wonach die Krim-Frage und der Status der autonomen Republiken Luhansk und Donezk im Osten offengehalten würden? (Also ähnlich, wie das im Minsker Abkommen von 2015 vorgesehen war.)
  • Was könnte Präsident Selenskyj angeboten werden, um ihn wieder von seiner Forderung abzubringen, Mitglied der Nato zu werden? Fände der Verzicht auf eine Mitgliedschaft in der Nato (wie das gleichfalls im März Selenskyj kurz nach Ausbruch des Krieges angedeutet hatte) eine verfassungsändernde Mehrheit in der Ukraine? Sollte ein Beitritt zur Europäischen Union zur Verhandlungsmasse gehören?
  • Wie könnten alternativ zur Nato stabile Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen und durch wen gewährleistet werden?
  • Könnte man – um die Verhandlungsbereitschaft der Ukraine zu fördern – das Angebot eines multilateralen Fonds für den Wiederaufbau und für die vom Krieg zerstörten Regionen machen?
    • Müsste nicht weit über die militärische Friedenssicherung in der Ukraine hinaus gedacht werden und etwa die künftige Rolle Russlands
    • bei der Bekämpfung des Klimawandels und
    • bei der Bewältigung der sozial-ökologischen Wende,
    • bei der Verhinderung eines weltweiten Rüstungswettlaufs bzw.
    • bei einer weltweit kontrollierten Abrüstung oder bei einer Ächtung von Atomwaffen mit ins politische Kalkül gezogen werden? (So etwa die Forderungen in der Erklärung des DGB zum Antikriegstag am 1. September 2022; in diese Richtung denkt offenbar auch Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD)

Mit ins Auge gefasst werden müssten auch die dramatischen Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland auf die globale Ernährungslage.

Die Lösung sämtlicher großen Zukunftsaufgaben sind auf mehr auf globale Gemeinsamkeit angewiesen – auch mit Russland.

Wie soll es zu einem globalen Klima- und Ressourcenschutz und zu einem schonenden Umgang mit den Naturgütern kommen, wenn das flächenmäßig größte Land der Erde nicht beteiligt wird.

Die Finanzierung militärischer Aufrüstung und der Verlust an wirtschaftlicher Leistung dürfe nicht zu Lasten der notwendigen Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau gehen, verlangt nicht nur der DGB.

Schon jetzt droht der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine zum Beschleuniger neuer globaler Blockbildungen zwischen dem industrialisierten Westen und dem Globalen Süden einerseits, aber auch zwischen den USA bzw. dem Westen und China zu werden, mit der Gefahr des Rückfalls in einen neuen globalen kalten wie heißen Krieg.

Nicht zuletzt stärkt Putins Angriffskrieg die Präsenz der USA in Europa und schwächt die Bemühungen um eine strategische Unabhängigkeit Europas.

Das sind nur einige wenige Elemente einer Debatte um eine friedenspolitische Perspektive. Man müsste noch eine Vielzahl weiterer Überlegungen für einen Weg hin zu einem Frieden diskutieren.

Es sind im Übrigen nicht nur naive Friedensfreunde, die auf Verhandlungen drängen. Auch Papst Franziskus hat am 2. Oktober Putin und Selenskyj zu einer sofortigen Waffenruhe aufgefordert. Ein dauerhafter Frieden könne nur "unter Einbeziehung Russlands" erfolgen, meint etwa auch die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Nach dem Deutschlandtrend vom 14.10.22 sind 60 Prozent für mehr diplomatische Anstrengungen. (Auf jeden Fall für diplomatische Anstrengungen (26 Prozent) und 34 Prozent für eher ja.)

Aber für diplomatische Lösungen müsste erst einmal eine öffentliche Debatte eröffnet werden und diese fehlt derzeit nahezu komplett. Die entscheidende Frage ist ja nicht, ob, sondern wann das gegenseitige Töten und Zerstören endet, und wie viele Menschen bis dahin Kriegsopfer werden.

Man wird sich arrangieren müssen. Wie schon Egon Bahr sagte: Amerika ist unverzichtbar, Russland unverrückbar.

"Frieden muss gestiftet werden. Doch wo sind die Stifter?"
Vortrag auf einer Diskussionsveranstaltung der DL 21 Köln, am Montag den 21. November 2022.

Quellen für viele der genannten Fakten (ich habe den Text zwischenzeitlich fortgeschrieben) finden Sie im "Blog der Republik":

Statt einer gefährlichen weiteren Emotionalisierung, wäre eine sachlich, nüchterne Debatte über den Schaden und den Nutzen der Sanktionen gegen Russland geboten

Ist der "Wirtschaftskrieg" zu gewinnen? Wie wirken die Sanktionen auf Russland und auf uns selbst? Das Fehlen einer ernsthaften Sachdebatte ist politisch brandgefährlich

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