"Wohlstand", Kapitalrendite und das gute Leben

Seite 3: Problem Wohlstand

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Corneo teilt die bislang mehrheitsfähige Auffassung, der Kapitalismus sei ein effizienter Mechanismus zur Erzielung hohen Wohlstands. In seinem "Aktienmarktsozialismus" verhält sich die Gesellschaft wie ein Aktionär zum Kapital. Seine Aufmerksamkeit gilt den Renditen. Die im Kapitalismus übliche Form des Wohlstands und seiner Bemessung (Bruttosozialprodukt, Einkommenshöhe, Kapitalrendite) wird ihm nicht zum Problem.

Dabei erhöht sich das Bruttosozialprodukt auch durch schädliche und überflüssige Arbeiten und Dienstleistungen.15 Die Vermehrung von Absatzchancen durch verkaufbare Güter im Unterschied zu gemeinsamem oder öffentlichem Konsum, das Desinteresse von Warenanbietern an problemvermeidender Vorsorge aus Interesse an kompensatorischen Angeboten, die den jeweiligen Mangel voraussetzen, sowie die massiven Ausmaße des künstlichen Verschleißes - diese drei Formen, in denen sich der Wohlstand im Kapitalismus auf recht spezielle Weise entwickelt, spielen bei Corneo keine Rolle.

Im von Corneo akzeptierten volkswirtschaftlichen Wohlstandsbegriff kommen die Schädigungen menschenfreundicher ökologischer Bedingungen nicht vor. Wie will man schon dem Verschwinden einer Tierart einen Preis zuschreiben und dessen Kosten feststellen? Preise sind unterkomplexe und eindimensionale Informationskonzentrate. In der Sprache der Preise lassen sich viele Qualitäten nur sehr eingeschränkt ausdrücken.

Die friedliche Koexistenz von Schäden verursachenden Unternehmen und kompensatorischen Reparaturmaßnahmen steigert das Bruttosozialprodukt. Die Verschleißproduktion kostet die Verbraucher im Jahr 2013 100 Milliarden Euro. Diesen Betrag hätten Konsumenten durch den Wegfall von Produkten einsparen können, in die vorzeitiger Verschleiß eingebaut ist.16 Zugleich erhöht die Verschleißproduktion denjenigen Wohlstand, den die Volkswirtschaftslehre als Wohlstand bezeichnet.

Auch für die Bauwirtschaft gilt: "Wir steigern das Bruttosozialprodukt." Was die Bauten mit den Menschen "machen" kommt in der Sprache der Preise nur sehr bedingt vor. Ebenso wenig in der Profitorientierung des Immobilienkapitals. In der Stadtbauwelt bringen viele Gebäude "depressive Elemente in permanenter Weise in den Alltag" ein (Mitscherlich). Der Architekt und Philosoph Georg Franck beschreibt17 die Wirkungen weiter Bereiche der gegenwärtigen Stadtbauwelt ("zusammengewürfelte Zwischenstädte, Vororte und Gewerbegebiete") auf die Menschen prägnant:

Da unterscheidet die Bauweise häufig nicht zwischen den Behausungen für Menschen und Müllcontainer. … Wer hier aufwächst, kommt mit dieser Situation am besten zurecht, indem er abstumpft und eben nicht darauf achtet, wo er ist und wo er sein will.

Arbeit

Zur kapitalistischen Form des Reichtums gehört, dass die Lebensqualität in der Arbeit und die Arbeit als Medium der Entfaltung von Sinnen und Fähigkeiten, Reflexionsvermögen und Sozialbeziehungen kein maßgeblicher Bestandteil dessen ist, was als Wohlstand gilt. Befragungen von Arbeitnehmern geben Aufschluss über deren Erwartungen an die Arbeit.

An erster Stelle stehen dabei Bedürfnisse, die Arbeit solle interessant, sinnvoll und verantwortungsvoll sein. Die Befragungen ergeben, dass die Arbeitenden in Bezug auf diese Arbeitsmotivationen "relativ weite Abstände zwischen Soll und Ist wahrnehmen".18 Aus dieser Differenz resultiert eine eher geringe bis mäßige Identifikation der Arbeitenden mit ihrem Unternehmen. Das renommierte Gallup-Institut beziffert die finanziellen Schäden auf jährlich 120 Milliarden Euro, die durch mangelnde Motivation der Arbeitenden entstehen, insofern dieser Mangel zu Fehltagen, Fluktuation und schlechter Produktivität führt.

"Humanpotential" ist anders als "Human Capital" nicht instrumentell aktivierbar. Klages bezeichnet19 "die alltägliche Verschwendung von Humanpotenzial" als Phänomen, angesichts dessen von "Institutionenversagen" zu sprechen sei. Die in Unternehmen feststellbaren Bemühungen, per materiellen Anreizen, Motivationstraining, Firmenkultur u. ä. Leistung und Kreativität der Mitarbeiter zu steigern, verfehlen mit ihrem technokratischen, ködernden und bestenfalls verführenden Zugriff die Tiefendimensionen menschlicher Bereitschafts- und Fähigkeitspotentiale.20

Zugrunde liegen oft "sehr schlicht anmutende Vorstellungen über Input-Output Beziehungen" oder "Äquivalenzvorstellungen übervereinfachender Art", "wo Bemühungen unternommen werden, das Leistungsverhalten mit Hilfe materieller Leistungsanreize zu aktivieren".21 Eigenmotivation lässt sich nur in sehr engen Grenzen nutzen, wenn "die Notwendigkeit außer Acht gelassen" werden muss, "auf Menschen mit Selbstentfaltungsbedürfnissen und -interessen in angemessener Weise einzugehen, um ihr Potenzial zu erschließen".22

Die Sorge, zu qualifizierte "Mitarbeiter" und zu autonome Arbeitsgruppen könnten für die Unternehmensführung zum Problem werden, bildet eine Grenze, die der selbstorganisierten Gestaltung des Arbeitsprozesses im Kapitalismus gesetzt ist.23

Wohlstandsbegriff, Sozialbeziehungen und Reichtum

In Bezug auf die Lebensqualität sind last not least die Sozialbeziehungen zentral. Der Wohlstandsbegriff, den die Volkswirtschaftslehre vertritt, ist untrennbar mit einer "ungeselligen Gesellschaft" (Kant) verknüpft. Er blendet souverän die negativen Folgen von Privateigentum, Konkurrenz, Arbeitslosigkeit und krisenhaften Verwerfungen (bzw. schon der Angst und Sorge vor ihnen) auf das Mit- und Füreinander der Menschen aus.

Der (auch) von Corneos unbefragt verwendete kapitalismusimmanente Wohlstandsbegriffs sieht ab von den negativen Effekten des kapitalistischen Reichtums auf den Reichtum der Natur, der menschlich geschaffenen Gegenstandswelt, der Arbeit und der Sozialbeziehungen. Das im Kapitalismus produzierte Bruttosozialprodukt steigt, die Einkommen und die Kapitalrendite erhöhen sich, auch wenn all diese Qualitäten leiden.

Ihr Reichtum ist nicht identisch mit dem kapitalistischen Reichtum. Kritik kommt von unterscheiden. Corneos Beanstandung des Kapitalismus kommt ohne diese Unterscheidung aus. Corneos Beanstandung des Kapitalismus baut auf seiner Affirmation dieses grundlegenden Konstruktionsfehlers des Kapitalismus auf. Corneos Begriff von "gutem Leben" bezieht sich nicht auf die Arbeitsinhalte, das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur, die Stadtbauwelt und die gesellschaftlich dominierenden Formen der Sozialbeziehungen.

Sowohl Goethe wie Marx nennen ein tätiges Leben der Menschen, das deren Vermögen leiblich, seelisch und geistig ausbildet und etwas für sie selbst und andere bewirkt, Lebenstätigkeit. … Lebenstätigkeit meint bei beiden, dass wir unsere Anlagen ausbilden, indem wir an der Welt mit uns tätig sind, also in einer wohl reflektierenden, immer neu zu gewinnenden Verbindung von sinnenhafter Wahrnehmung, von Wissen, das in Begegnungen reift, und bewusster Tätigkeit.

Die für die nachkapitalistische Gesellschaft charakteristische Lebensweise, ihr Gefüge der verschiedenen "Lebenstätigkeiten" und deren Wechselbeziehungen, die Dimensionen ihrer Entfaltung sowie die dafür notwendige Gestaltung und Strukturiertheit der Gesellschaft mache ich andernorts zum Thema.24

Corneo äußert Vorbehalte gegen Verschwendung, Ungerechtigkeit und Entfremdung. Er warnt davor, ohne entscheidende Veränderungen befänden wir uns in 20 Jahren auf einem so schlechten Sozialstaatsniveau wie in den USA. Er wendet sich gegen die "Tabuisierung" der "Systemfrage".25

Wer sie stellt, gilt schnell als unseriös. Ich finde diese Tabuisierung intellektuell feige und politisch kontraproduktiv.

Mit all dem und mit seinem Votum für "Aktienmarktsozialismus" befindet sich Corneo am linken Rand der Volkswirtschaftslehre. Das sagt aber vor allem etwas über den Zustand dieser universitären Disziplin aus.

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