Wollen wir wirklich die maximale Katastrophe?
Wir leben in einer Phase von Krisen-Eskalationen. Wird nichts dagegen getan, droht langfristig der Kollaps. Welche Rolle spielen vor diesem Szenario Energiekrise, Inflation und Ukraine-Krieg?
Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er drängen sich förmlich auf, trotz aller Unterschiede. Auch damals kam es zu sozialen und politischen Umwälzungen, während nationalistische Kriegshysterie den Weltfrieden untergrub.
Auch damals schwankten die Gesellschaften in den USA und Europa zwischen Fortschritt und Reaktion, wobei das staatskapitalistische System von innen heraus zu implodieren drohte. Europa ging schließlich unter im Faschismus, während in den USA Arbeiterbewegungen eine sozialdemokratische Stabilisierung erringen konnten.
Hundert Jahre später scheint sich die Situation zum Teil umgekehrt zu haben. In Europa hält man (noch) an einigen Aspekten der Sozialdemokratie fest, während der Trumpismus die Gefahr des Proto-Faschismus hervorruft.
Aber auch in Europa wird die Lage zunehmend instabil. Die sozialen Schieflagen sind immer deutlicher zu spüren. Die Ungleichheit ist im Zuge neoliberaler Politiken in den letzten Jahrzehnten angewachsen. Durchlauferhitzt wurde diese Tendenz durch die Weltfinanzkrise 2008, bei der Bankencrashs das an sich schon morsche Eurozonen-Gebäude in den Fundamenten erschütterten.
Die politische Reaktion darauf beförderte soziale Spaltungen und verlief nach dem altbekannten Nanny-State-Motto: Gewinne privatisieren, Verluste und Schäden sozialisieren. Während Banken und die, die über große Finanzvermögen verfügen, gerettet wurden, sorgten Spardiktate unter deutscher Führung dafür, dass viele Europäer:innen den Gürtel enger schnallen mussten. Der Troika-Angriff auf den Wohlfahrtsstaat vergrößerte wie prognostiziert Armut in der Union, vernichtete wirtschaftliche Entwicklung und eliminierte Jobs in betroffenen Ländern und Regionen.
Ein Studie des Investmentmonitors "Europe’s growing inequality problem" kommt nach der Covid-19-Pandemie, aber noch vor dem Ukraine-Krieg im Januar diesen Jahres zu dem Ergebnis:
Von Einkommensunterschieden bis hin zur Energiearmut – die sozioökonomische Ungleichheit in Europa ist weit verbreitet, und die Daten zeigen, dass die Situation in Süd- und Osteuropa am prekärsten ist.
In Griechenland haben danach fast 40 Prozent der Haushalte Schwierigkeiten, finanziell über die Runden zu kommen. In süd- und osteuropäischen Ländern können viele Bürger:innen ihre Wohnungen nicht angemessen beheizen (40 Prozent der Bevölkerung in Bulgarien z.B. schon vor der Energiekrise), haben nur unzureichende Mittel, sich zu ernähren (im Kosovo über 60 und in der Slowakei noch 15 Prozent) oder leben ohne Computer, weil sie ihn sich nicht leisten können (fast 50 Prozent in Albanien, 21 Prozent in Kosovo, 12 bis 15 Prozent in Nordmazedonien, Bulgarien, Rumänien, Serbien und der Türkei).
Diese und viele andere Facetten von Armut und Unterversorgung in Europa werden sich im Zuge der gegenwärtigen Inflations- und Energiekrise intensivieren, gerade dort, wo die Not bereits jetzt schon sehr hoch ist.
Angesicht der unfairen Politik fühlen sich viele Menschen in ihren Ländern abgekoppelt, vernachlässigt, betrogen und allein gelassen mit ihren Sorgen. Das kann Autoritarismus befördern, wie in Ungarn und anderswo zu beobachten. In den USA wird sich zeigen, ob Trump oder ein Trump-2.0-Republikaner wie Ron DeSantis wieder an die Macht gelangen kann, mit allen Folgen, die das für Demokratie, sozialen und Weltfrieden im mächtigsten Staat der Erde bedeutet.
Das Unbehagen an der Gesellschaft und das Gefühl der Verunsicherung dringen zugleich immer tiefer ins öffentliche Bewusstsein. So halten laut einer aktuellen US-Umfrage mehr als zwei Fünftel der Amerikaner einen Bürgerkrieg in den nächsten zehn Jahren für einigermaßen wahrscheinlich – eine Zahl, die sich bei den überzeugten Republikaner-Anhängern auf mehr als die Hälfte erhöht. Während dessen prophezeit der Senator von South Carolina Lindsey Graham "Unruhen auf den Straßen", falls Trump wegen der Aufbewahrung von geheimen Dokumenten nach seinem Ausscheiden aus dem Weißen Haus angeklagt werden sollte.
Wo bleibt der fürsorgende Staat für die Bürger:innen?
Auch im vergleichsweise stabilen Powerhouse der EU, in Deutschland, das die europäische Wirtschaftskrise durch Outsourcing der Kosten auf die Eurozonen-Peripherie einigermaßen gut überstehen konnte und sogar in manchen Aspekten von der Schwächung der anderen Länder profitierte, wird das Leben Stück für Stück ungemütlicher für die, die nicht über Vermögen, gutes Einkommen oder Kapital verfügen.
Altersarmut, Niedriglohn und unwürdige Arbeitsverhältnisse, Mietkrise in den Städten, fehlende oder dysfunktionale Infrastrukturen insbesondere in abgehängten Vierteln bilden einen Nährboden für Dauer-Frust. Auch die Mittelschichten sind längst in den Strudel von Auszehrung und Überforderung geraten.
In dieser Situation gießen Energiekrise und Inflation im Zuge der Covid-19-Pandemie, des Ukraine-Kriegs und steigender Lebensmittelpreise Öl ins Feuer. Die Preissteigerung könnte ab September noch weiter anziehen, in Deutschland wird dann eine Teuerungsrate von zehn Prozent erwartet. In ganz Europa und vielen anderen Staaten sieht es nicht besser, eher schlimmer aus.
Es droht eine zum Teil extreme Belastung für viele Haushalte, vor allem, da die Energiepreise – die alle treffen und denen man nur bedingt ausweichen kann – im Moment nur eine Richtung kennen: nach oben. Die Gaskosten für Verbraucher haben sich bereits nach Angaben des Vergleichsportals Verivox verdreifacht, und das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Zudem steigen viele Mieten, da Indexmietverträge an die Inflation gebunden sind. Explodierende Mieten von bis zu 15 Prozent mehr im Monat plus explodierende Nebenkosten: eine toxische Mischung. Die Politik schaut von der Seitenlinie aus zu.
Dabei muss man im Hinterkopf haben, dass die allgemeine Kaufkraft in Deutschland bereits seit dreißig Jahren stagniert, wie eine Auswertung der Daten des Statistischen Bundesamtes zeigt, während die Einkommen und Vermögen der reichsten Schichten zugenommen haben. Jetzt geht die Kurve im Krisenmodus sogar nach unten. Die Löhne sind aufgrund der Preissteigerungen im ersten Quartal dieses Jahres real um 1,8 Prozent gesunken. Im Corona-Krisenjahr 2020 gab es bereits ein Minus von 1,1 Prozent.
Die Bundesregierung hat auf die aktuelle Energiekrise mit einer Gasumlage für Unternehmen reagiert, die auch denen zu Gute kommen soll, die sich gar nicht in einer Krise befinden, während die Bürger:innen dafür zahlen sollen. Wen wundert es, als nun herauskam, dass Energiekonzerne und Ratingagenturen wohl an der Umlage mitgewirkt haben, ja die Idee dazu erst aufbrachten. Es ist nicht neu, dass die Profiteure an den für sie günstigen Gesetzen selbst mitschreiben dürfen, wie man an der Billionen Dollar schweren globalen Bankenrettung gut studieren kann.
Für die Bürger:innen, die echte Not leiden, gibt es bisher lediglich eine eher symbolische Energiepauschale von einmalig 300 Euro, die zudem meistens noch besteuert werden muss. Die Ungerechtigkeit ist derart offensichtlich und spürbar, dass öffentlicher Druck die Ampelkoalition schließlich dazu zwang anzukündigen, "bald" ein Entlastungspaket vorzulegen. Man darf gespannt sein, was der Regierung einfällt. Vielleicht ein Förderpaket in der Dimension, wie man es im Hauruckverfahren für Militär und Rüstung zusammenschnürte: 100 Milliarden Euro an Sondervermögen für die Bundeswehr, dazu eine massive Aufstockung des Verteidigungsbudgets? Das wäre mal was.
Angesichts des bisherigen Krisenmanagements darf man sich nicht wundern, dass laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA 65 Prozent der Deutschen unzufrieden sind mit der Arbeit der Bundesregierung. Es ist nicht zu erwarten, dass der "Winter der Verzweiflung", gekoppelt mit möglichen Maßnahmen gegen eine neue Pandemie-Welle, diese Werte positiv beeinflussen wird – wenn nicht sozial entschlossen gegen gesteuert wird.
Wie gesagt, Inflation und Energiekrise lösen weit höhere Belastungen in den Staaten aus, die schlicht nicht fähig sind wie Deutschland, die Kostensteigerungen aufzufangen – ganz zu schweigen von Ländern des Globalen Südens, die mit den Pandemie-Effekten, der Nahrungsmittelkrise und Energiepreisrally allein gelassen werden. Auch das macht die Welt nicht sicherer, schon gar nicht humaner.
Chinesische Manöver und Methanbombe
Zu der weiter eskalierenden sozioökonomischen Krise kommt die sich zuspitzende geopolitische Konfrontation des Westens unter Führung der USA mit Russland und China. Der Ukraine-Kriegs droht wie im Fall Afghanistan zu einem schwelenden Dauerkrieg zu mutieren, wenn Diplomatie weiter unter Tabu gestellt wird. Gleichzeitig fluten Waffen in das Land, ohne irgendeine Perspektive auf Verhandlungen.
Nach dem Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taiwan und der Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, Waffen im Wert von über einer Milliarde US-Dollar nach Taipeh zu liefern, nehmen zugleich die Spannungen mit Beijing mehr und mehr zu. China hat bereits den Druck auf Taiwan erhöht und militärische Manöver rund um die Inselrepublik angekündigt. All das ist brandgefährlich und steigert das Risiko einer atomaren Auseinandersetzung inklusiver nuklearer Endlösung.
Die Sanktionen gegen Russland treiben zugleich die Preise für fossile Energien weiter in die Höhe, was einen Run auf Öl und Gas nach sich zieht, den die Staaten zusätzlich befördern, während sie die Erneuerbaren Energien weiter stiefmütterlich behandeln. Das wiederum verstärkt eine dritte Krise, die Klimakrise.
Die Folgen der Erderhitzung sind selbst für Hardcore-Klimawandelleugner und -verdränger kaum mehr zu übersehen. Dieses Jahr waren es Mega-Hitzewellen und -Dürren inklusive Waldbrände von den USA über Europa und den Iran bis Indien und China. In Ostafrika wütete die längste Dürre seit Jahrzehnten, am Horn von Afrika kam es wegen der Trockenheit zur Hungersnot. Dazu kommen historische Überschwemmungen in Bangladesch und Pakistan. Wie Attributionsforscher:innen feststellen, werden solche Extremwetterereignisse in Häufigkeit und Stärke im Zuge der Klimakrise weiter zunehmen. All das erzeugt jetzt schon Zerstörung, Leid, Tod.
Wer glaubt oder sich beruhigen möchte damit, dass die Welt im Zuge der Erderhitzung einfach ein wenig wärmer und ungemütlicher wird, woran wir uns dann schon anpassen werden (wobei die Menschen im globalen Süden dazu gar nicht in der Lage sind), dem sei gesagt: Es ist erst der Anfang. Wenn bestimmte Kipppunkte im Erdsystem erreicht werden, und einige könnten bereits erreicht sein, dann wird die Welt buchstäblich in einen Zug gesetzt Richtung Kollaps – und das ohne Rückfahrschein.
Um nur auf zwei aktuelle, besorgniserregende Entwicklungen hinzuweisen. Forscher haben nun schockiert feststellen müssen, dass die Konzentration des sehr aggressiven Treibhausgas Methan in der Atmosphäre deutlich schneller ansteigt als erwartet und immer neue Rekordniveaus erreicht. Sie gehen davon aus, dass vor allem Feuchtgebiete und auftauende Permafrostböden dafür verantwortlich sind. Dort sind riesige Methanmengen gespeichert, umgerechnet 1500 Milliarden Tonnen an Kohlenstoff, die im Zuge der globalen Erwärmung nun beginnen, langsam zu entweichen.
Wissenschaftler sprechen von einem "schlafenden Riesen" oder einer "Methanbombe". Sie könnte eine gefährliche Rückkopplungsschleife in Gang setzen, bei der ein sich erhitzender Planet auf natürliche Weise mehr Methan freisetzt und die Temperaturen weiter in die Höhe treibt, was wiederum die Methanfreisetzung verstärkt.
Eine beängstigende Aussicht, die Wissenschaftler nachts nicht schlafen lässt. Durwood Zaelke, Präsident des Institute for Governance & Sustainable Development und Befürworter strengerer Maßnahmen zur Reduzierung der Methanemissionen, stellt fest:
Wenn man sich vorstellt, dass die Emissionen fossiler Brennstoffe die Welt langsam zum Kochen bringen, dann ist Methan eine Fackel, die uns heute zum Kochen bringt. Die Befürchtung ist, dass es eine sich selbst verstärkende Rückkopplung auslöst. Wenn wir zulassen, dass sich die Erde so stark erwärmt, dass sie beginnt, sich selbst weiter zu erhitzen, werden wir diesen Kampf verlieren.
Die zweite schlechte Nachricht in Sachen Klimakrise: Jüngste Forschungen über die Arktis deuten darauf hin, dass sie sich nicht, wie bisher angenommen, zwei- bis dreimal so schnell erwärmt wie der Rest des Planeten, sondern viermal so schnell. Zugleich zeigt der ostantarktische Eisschild Anzeichen von Instabilität (er birgt den größten Teil des Gletschereises der Erde – der Meeresspiegel würde um 52 Meter ansteigen, wenn der gesamte Eisschild in den kommenden Jahrtausenden schmelzen würde).
Wenn die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius begrenzt werden kann, so die Forscher, könnte der riesige ostantarktische Eisschild stabil bleiben. Darüber hinaus würde das Schmelzen den Meeresspiegel sehr wahrscheinlich um viele Meter ansteigen lassen.
Auf die Regierungen in den Industriestaaten haben all die wissenschaftlichen Horrormeldungen – wie in der Vergangenheit – bisher keine feststellbaren Auswirkungen, jenseits rhetorischer Bekundungen. Es gibt weder eine ernsthafte Diskussion über Gegenmaßnahmen, noch ein Anzeichen dafür, dass die Staaten ihren Kurs ändern wollen. Sollten die Klimapläne der Regierungen aber nicht bald verschärft werden, ist die Obergrenze von zwei Grad nicht mehr zu halten.
Die Mathematik der Emissionen ist unerbittlich: Die Industriestaaten müssen für die Einhaltung der wissenschaftlich eindringlich empfohlenen Obergrenze ab jetzt jedes Jahr ihre Treibhausgase um 15 Prozent senken, um bis spätestens 2035 zu dekarbonisieren. Für die Entwicklungsländer muss 2050 Schluss sein mit Kohle, Gas und Öl. Doch, wie gesagt, Schweigen im Walde. Keine Regierung plant das. Die maximale Katastrophe könnte allein in Hinsicht auf Klimaschutz in diesem Jahrzehnt besiegelt werden.
Alle drei Kriseneskalationen – die sozioökonomische, die geopolitische und klimatische – sind miteinander verbunden und können sich wechselseitig verstärken. So erhöht soziale Ungleichheit Gleichgültigkeit gegenüber Umweltschutz und macht Menschen anfällig für nationalistische Abschirmung und Kriegsgerassel. Kriege und Konfrontationen zwischen Großmächten sowie Umweltzerstörungen haben wiederum destruktive Effekte auf die wirtschaftliche und soziale Stabilität der Länder.
Daher sollten und müssen letztlich auch alle drei Krisen gleichzeitig angegangen und abgemildert werden, um die Gefahr der maximalen Katastrophe zu bannen. Lösungen wie ein Green New Deal oder diplomatische Konfliktentschärfungen liegen auf dem Tisch. Die Frage ist, ob sie ergriffen werden. Den Regierungen zu vertrauen, dass sie das schon irgendwann freiwillig tun werden, wäre naiv bis töricht, auf die Gattung Mensch bezogen selbstmörderisch.