Woran wir uns erinnern, wenn wir uns erinnern
Das deutsche Volk ist nicht erst am 8. Mai 1945 einer kollektiven Amnesie anheimgefallen. Ein Buchauszug
Die Geschichte ist das Objekt einer Konstruktion, wie Walter Benjamin einmal bemerkt hat. Diese Konstruktion geschieht nicht in einem abstrakten, luft- oder gar zeitleeren Raum, sondern an einem konkreten Ort, der mit Jetztzeit gefüllt ist. Bei jeder erneuten Konstruktion ist die Jetztzeit eine andere, sodass auch das Ergebnis jedes Mal ein anderes ist.
Dies gilt auch und gerade, wenn die Geschichtswissenschaft bei der Wahl ihrer Studienobjekte immer näher an die Gegenwart heranrückt. Noch vor wenigen Jahrzehnten endete die Geschichte nach dem Selbstverständnis der Zunft mit dem Ersten Weltkrieg. Danach kam die "Zeitgeschichte" hinzu, "die Epoche der Mitlebenden" nach der klassischen Definition von Hans Rothfels. Damit war vor allem die NS-Zeit gemeint, während die Beschäftigung mit der Bundesrepublik nach allgemeiner Meinung eher eine Aufgabe der Politikwissenschaft war.
Heute dagegen legen Historiker schon Darstellungen zur Geschichte der Wiedervereinigung vor. Der französische Historiker François Hartog spricht in diesem Zusammenhang vom Präsentismus.
Durch diesen Präsentismus wächst dem Gedächtnis eine ganze neue Bedeutung zu. Es wird zu einer metahistorischen Kategorie mit quasireligiösen Zügen. Gegen den Schlachtruf "Ich bin Zeitzeuge" hat der mit historischen Fakten operierende Historiker oft genug einen schweren Stand. Der frühere Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands, der Mediävist Johannes Fried, betont dagegen, dass das Gedächtnis den Menschen gerade nicht zum Historiker qualifiziert. Fried hat in seinen Arbeiten zur Interpretation historischer Quellen Ergebnisse der Psychologie, Neurobiologie und Anthropologie verarbeitet und eine Theorie der "historischen Memorik" entwickelt. Die Erinnerung ist, so Fried, die kontinuierliche Verformung der Vergangenheit unter dem Druck der Gegenwart.
Die deutsche 1968er-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür. Das Jubiläumsjahr 2008 hat uns eine Fülle von Büchern beschert, von denen etliche den Blick auf die Ereignisse eher verstellt haben, als dass sie erhellend waren. Eine der Ausnahmen war die Überblicksdarstellung von Norbert Frei, der 1968 noch ein Kind war und dem es deshalb leichter fiel, sich auf die Tugenden des Historikers zu besinnen. Die Jahreszahl 68 verwendet er in Anführungszeichen, "68" ist für ihn eine Chiffre, "ein Assoziationsraum gesellschaftlicher Zuschreibungen und auktorialer Selbstdeutungen, eine beispiellos florierende Begegnungsstätte, in der die Aussagen der Akteure und die Entgegnungen ihrer Kritiker, die Wahrnehmungen der Zeitgenossen und die Beobachtungen der Nachgeborenen aufeinandertreffen." Frei sind die historiografischen Tücken des Objekts bewusst, die nicht zuletzt in der medialen Omnipräsenz der Zeitzeugen liegen. Sein Befund, dass das deutsche "68" überkommentiert und zugleich untererforscht ist, ist noch immer richtig.
Vielfach hat sich die Figur des Zeitzeugen heute zwischen den forschenden Historiker und die interessierte Öffentlichkeit geschoben. Die Historiker sind in Gefahr, ihre Deutungshoheit an Schnittstellenakteure wie Journalisten, Filmemacher oder Fernsehredakteure zu verlieren, die nicht nur Zeitzeugen in Stellung bringen, die über den Distinktionsgewinn der Aura des Authentischen verfügen, sondern in ihren Einspielungen ständig neue Zeitzeugen produzieren, die diese Aura gleichfalls für sich in Anspruch nehmen. Ist der eigentliche Akteur verstorben, interviewt man eben seinen Chauffeur.
Und wenn auch der Chauffeur nicht mehr zur Verfügung steht, darf dessen Enkelin berichten, was der Opa früher immer von "damals" erzählt hat. Dieser Authentizitätswahn macht selbst vor Spielfilmen nicht halt, weswegen die entsprechenden Szenen des bemerkenswert schlechten Films Operation Walküre (Regie Bryan Singer, USA 2008) unbedingt an historischem Ort im Bendlerblock gedreht werden sollten. Irgendwann wird uns dann Tom Cruise erklären, was sich am 20. Juli 1944 wirklich zugetragen hat.
Ausgehend vom Wissen um die Historizität des Gedächtnisses gibt es Bestrebungen, eine historische Gedächtnisforschung zu etablieren, die den Vorzug für sich in Anspruch nimmt, die Grenzen der politischen Geschichte hinter sich zu lassen, und gleichermaßen auf individuelle wie kollektive Erinnerungen rekurriert. Sie beschäftigt sich zum Beispiel mit den symbolischen Dimensionen der Vergangenheit, mit kollektiver Imagination oder mit den Formen und Funktionen des Gebrauchs der Geschichte, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten in Gedenkstätten, Gedenktagen, historischen Museen, Denkmälern u.v.a. manifestiert hat. Noch nie gab es eine so reiche Memorialkultur wie heute, die uns daran erinnert, woran wir uns erinnern sollen.
Im Deutschen unterscheiden wir zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Die Memoria wird aufgespalten in das, was ich habe, das Gedächtnis, und das, was ich tue, mich erinnern. Ausgangspunkt für die Erinnerung sind Erfahrungen, die sich auf Vergangenes, aber auch auf Künftiges beziehen. In der Erfahrung steckt immer auch unabgegoltene Zukunft.
Die Erfahrung prägt die Deutung der Vergangenheit und determiniert so zugleich die Antizipation künftiger Ereignisse. Diese Dynamik kann in Umbruchszeiten wie 1945, in denen der gewohnte personale wie der soziale Bezugsrahmen verloren geht, zu einer massiven Verformung der Erinnerung führen.
Menschen können sich daran erinnern, dass sie sich erinnern. Sie können gezielt zugreifen auf Erinnertes. Die Entwicklung der Schriftkultur hat es zudem möglich gemacht, große Teile des Erinnerten aus dem Gehirn auszulagern und zu speichern. Auch in der Vorgeschichte, der schriftlosen Phase der Menschheitsgeschichte, hatten Gemeinschaften ein Gedächtnis, aber sie verfügten nicht über Speichermedien. Das Gedächtnis war noch weitgehend ungeformt, stützte sich auf mündlich überlieferte Mythen und Erzählungen und reichte über allenfalls drei Generationen. Eine Gemeinschaft von drei Generationen war lange Zeit typisch für den familialen Verband. Erst durch die Schriftlichkeit konnten Gemeinschaften diese Grenze überwinden und ein alltagsfernes und kodifiziertes kulturelles Gedächtnis ausbilden.
Der Mensch lebt auf einer Zeitachse. Er weiß um den steten Wandel, und er weiß um seine Endlichkeit. Zugleich ist der Mensch ein soziales Wesen, geprägt durch sein Eingebundensein in die Gemeinschaft. Der französische Sozialwissenschaftler Maurice Halbwachs hat es so formuliert: "Die Individuen erinnern ihre eigene Geschichte, aber nicht unter selbst gewählten Umständen." Im menschlichen Gedächtnis begegnen sich individuelle und gesellschaftliche Erfahrungen. Halbwachs, der im März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald umgekommen ist, verdanken wir den Begriff des kollektiven Gedächtnisses, von dem ausgehend Jan und Aleida Assmann ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses entwickelt haben.
Jede Generation hat ein anderes Bild von dem, was war. Die Vergangenheit ist nichts per se Existierendes, sie wird vielmehr von jeder Generation neu geschaffen. Was dann nach langen Jahrzehnten der stets sich wandelnden Erinnerung einsinkt in den Kanon des kulturellen Gedächtnisses wird zur "absoluten Vergangenheit", wobei auch diese noch Wandlungen, wenn auch sehr viel langfristigeren unterliegt. Das kulturelle Gedächtnis manifestiert sich in tradierten Riten und Festen, in einem Kanon grundlegender Texte, die mit Hilfe stabiler Medien überliefert und von Schriftgelehrten verwaltet werden. Die Bibel und der Koran sind vielleicht die berühmtesten Beispiele.
Das kollektive Gedächtnis ist eine Sache weniger Generationen, das kulturelle Gedächtnis hat einen ungleich größeren Zeitrahmen, der unter Umständen mehrere Jahrtausende umfassen kann. Wegen seiner großen Reichweite ist das kulturelle Gedächtnis der Feind jeder totalitären Autorität. Man denke etwa an das Wahrheitsministerium in Orwells Dystopie 1984, das ständig damit beschäftigt ist, die Wahrheit über die Vergangenheit auf den neuesten Stand zu bringen, und so in jedem kulturellen Gedächtnis eine widerständige Macht sehen muss.
Deshalb kommt es immer wieder zu Zerstörungsakten, die auf einen Memorizid abzielen, von den mittelalterlichen Bücherverbrennungen bis zur Zerstörung der beiden Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban 2001. Aleida Assmann hat in Anlehnung an den Ikonoklasmus hierfür den Begriff des Mnemoklasmus geprägt.
Das kulturelle Gedächtnis lässt sich nicht in den Dienst einer politischen, ideologischen oder religiösen homogenen Identitätskonstruktion stellen. Es ist gewissermaßen ein Raum der Freiheit, wenngleich der Einzelne in einen größeren kollektiven Zusammenhang eingebunden ist. Einerseits ist das kulturelle Gedächtnis an Medien und Institutionen gebunden, andererseits ist es so komplex und heterogen, dass es gegen einen ideologisch verengten Horizont weitgehend immun ist.
Zuletzt haben die postkommunistischen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa gezeigt, wie wenig die jahrzehntelangen Schulungs- und Disziplinierungsversuche auszurichten vermochten.
Entscheidend für die Konstitution des Individuums ist das autobiografische Gedächtnis. Die autobiografische Erinnerung setzt bei Kindern im Alter von etwa drei Jahren ein, in manchen Kulturen auch etwas später. Es gibt dann eine ausreichend fortgeschrittene Ich-Entwicklung und Sprachkompetenz, und das Gehirn ist physiologisch so weit entwickelt, dass es über Kapazitäten zur Langzeitspeicherung verfügt. Durch autobiografische Geschichten konstruieren wir für uns selbst wie für andere unsere individuelle Identität. Durch diese interaktiven Erinnerungsakte entwickelt das Kind die Voraussetzungen für eine individuelle Lebensgeschichte. Und im Spannungsfeld zwischen familialer und öffentlicher Kommemoration vollzieht sich dann die stete Überformung der Vergangenheit. Das Familienalbum steht gewissermaßen im Wettstreit mit dem Geschichtslexikon.
Viele Autoren halten die sozial-kommunikativen Funktionen der autobiografischen Erinnerungen für die wichtigsten, sehen sie als konstitutiv für das menschliche Sein an. Wer etwas mitteilt, teilt zugleich auch sich mit, und er teilt das, was er mitteilt, mit anderen. Diesen sozial-kommunikativen Akten kommt eine elementare Bedeutung zu, was aber noch lange nicht heißt, dass die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit immer real sein müssen.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 erfolgte der schwerste Bombenangriff des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden. Es war der Höhepunkt der Strategie des Flächenbombardements, die die Royal Air Force seit 1942 verfolgte. "Dresden ist die größte bebaute Fläche, die noch nicht bombardiert wurde. Mit dem Angriff ist beabsichtigt, den Feind dort zu treffen, wo er es am meisten spüren wird. Hinter einer teilweise schon zusammengebrochenen Front gilt es, die Stadt im Zuge des weiteren Vormarschs unbenutzbar zu machen und nebenbei den Russen, wenn sie einmarschieren, zu zeigen, was das Bomberkommando tun kann." So lautete der Einsatzbefehl für die 773 britischen Lancaster, die in zwei Angriffswellen 650.000 Spreng- und Stabbrandbomben über der Stadt abwarfen.
Dresden galt mit seinem einzigartigen Barockensemble als eine der schönsten Städte der Welt. Bisher war dieses "Elbflorenz" von Luftangriffen verschont geblieben. Da die Deutschen glaubten, dass dies auch so bleiben würde, gab es keine effektiven Luftschutzvorkehrungen und kaum Flugabwehrgeschütze.
Doch nun entfachte der Bombenteppich ein Feuermeer, das aus der Luft bis nach Frankfurt an der Oder zu sehen war. Selbst in 4.000 Metern Höhe war die Glut des Feuerofens noch in den Kanzeln der britischen Bomber zu spüren. Die Frage, ob Flächenbombardements, die auf die Zentren der Städte zielten, nach dem Sommer 1944 noch gerechtfertigt waren, ob sie noch einer rationalen militärischen Strategie entsprachen oder bloße Racheakte geworden waren, ist bis heute umstritten, aber sie muss uns hier nicht beschäftigen.
Unmittelbar nach dem Feuersturm begannen die Spekulationen über die Zahl der Todesopfer. Eine schwedische Zeitung meldete 200 000 Tote, ein britischer Autor schrieb später von einer halben Million. Der deutsche Neonazi Manfred Röder vertrat die Meinung, bei diesem "Bomben-Holocaust" seien 480.000 Menschen umgekommen. Der britische Historiker und Rechtsextremist David Irving schwankt in seinen Veröffentlichungen zwischen 60.000 und 250.000.
Er veröffentlichte 1966 den Tagesbefehl Nr. 47 des Höheren SS- und Polizeiführers Dresden mit einer Zahl von 202.040 Toten. Inzwischen kennen wir das Original dieses Tagesbefehls, das die Zahl von 20.204 Toten enthält, und die kommt der Wahrheit ziemlich nahe.
Irving hatte einfach eine Null hinzugefügt, um durch dieses falsifizierte Faktum seine Sicht der Dinge zu untermauern. Eine von der Stadt Dresden beauftragte Expertenkommission aus Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen ist nach jahrelanger Arbeit zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gesamtzahl der Opfer bei höchstens 25.000 liegt, wobei diese Zahl schon einen Unsicherheitsaufschlag von 20 Prozent enthält.
Noch leben viele Dresdner, die damals dabei waren, und mit ihnen ihre Erinnerungen. Es gibt Überlieferungen unterschiedlicher Art von 1.314 Personen der Erlebnisgeneration. Dieses Material transportiert neben vielen anderen Erinnerungen eine ganze Reihe von populären Mythen: Es habe mehrere hunderttausend Tote gegeben; vor allem viele Flüchtlinge, die in der Stadt noch nicht registriert waren, seien umgekommen und rückstandslos verbrannt, sodass es keine dokumentarische Evidenz gibt.
Es habe Phosphor geregnet, der die Stadt in Brand gesetzt habe. Es habe am 14. Februar Tieffliegerangriffe gegeben, die Amerikaner hätten die Fliehenden mit Bordwaffen beschossen und auf den Elbwiesen ein Blutbad angerichtet. Teilweise konnten die Zeitzeugen sogar die Kennzeichen der Flugzeuge benennen.
Die Kommission hat diese lebensgeschichtlichen Zeugnisse sehr sorgfältig ausgewertet. In ihrem Abschlussbericht heißt es dazu:
In den Auseinandersetzungen um die Dresdner Luftkriegstoten kommt den subjektiven Erinnerungszeugnissen der Erlebnisgeneration eine große Bedeutung zu, denn die Bombardierung im Februar 1945 hat tiefe Spuren in den Biografien der Überlebenden hinterlassen. (...) Im Mittelpunkt steht dabei die Bedeutung dieser traumatisierenden Erlebnisse für die weitere Lebensgeschichte: Dies sind Fragen nach den Folgen des Verlustes von nahen Verwandten und Freunden, von Hab und Gut, von Lebensumfeld und Orientierung. Oder Fragen nach den Auswirkungen von Umsiedlungen, eingeschränkter Ausbildung oder anderen, teils weitreichenden Folgen des Krieges. Und es geht darum, den Einfluss der öffentlichen Debatten, der politisch-ideologischen Kontroversen im Kalten Krieg und danach, die Überlagerungen dieser Diskurse auf die ‚eigentlichen‘ Erinnerungen und auf die Erzählungen in Rechnung zu stellen. Die ‚verarbeitete Geschichte‘ steht im Zentrum der Oral History. Dagegen ist die Rekonstruktion der Realgeschichte – also von 'facts and figures' – nicht ihre besondere Stärke.
Anders gesagt: Für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen sind Zeitzeugen sehr wertvoll. Wenn es aber um die Rekonstruktion des Faktografischen geht, sind ihre Aussagen eher zur Illustration des Befundes von Bedeutung.
Die Kommission hat auch die dokumentarische Überlieferung ausgewertet. Sie hat darüber hinaus archäologische und militärtechnische Untersuchungen durchgeführt. Experten für Stadtarchäologie haben Keller untersucht, um nach Überresten von Leichen zu suchen, denn eine rückstandslose Verbrennung von Leichen ist auch bei sehr hohen Temperaturen nicht möglich.
Experten für Kampfmittelbeseitigung haben Bodenuntersuchungen durchgeführt und nach Munition gesucht. Im Ergebnis konnte keine einzige der zitierten Erinnerungen durch die Überprüfung an der Realität erhärtet werden. Insbesondere die seit Jahrzehnten diskutierten und von so vielen Zeitzeugen erinnerten Tieffliegerangriffe haben mit Sicherheit niemals stattgefunden, es gab kein Blutbad auf den Elbwiesen, und die so detailgenau beschriebenen Flugzeuge waren nachweislich zur selben Zeit ganz woanders im Einsatz – ein auf den ersten Blick erstaunlicher Befund.
Tatsächlich ist dies nur ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Überformung von Erinnerung, ein Vorgang, den wir im Alltag ständig erleben. Es gibt wohl kaum einen Verkehrsunfall, bei dem sich nicht später vor Gericht die verschiedenen Augenzeugen mehr oder weniger lebhaft widersprechen. Autobiografische Erinnerungen unterliegen der steten Veränderung, nicht zuletzt durch all das, was wir nach dem Ereignis selbst von anderen darüber hören.
Hier wirken grundlegende Prozesse der menschlichen Informationsverarbeitung wie Selektion, Abstraktion, Interpretation, Integration und Rekonstruktion. Teile des Erlebten bzw. Erinnerten werden ausgewählt, verallgemeinert, gedeutet, umgedeutet, veränderten Kenntnissen, Überzeugungen oder Absichten angepasst.
Man kann aber auch vollständig falsche Erinnerungen erzeugen. Es gibt Experimente, die das eindeutig belegen. In einer Versuchsanordnung wurde etwa Studierenden von ihren Angehörigen erzählt, sie seien als Kind in einem Supermarkt verloren gegangen. Diese erfundene Geschichte wurde in den folgenden Tagen immer wieder thematisiert.
Im Laufe der Zeit erinnerten sich immer mehr Versuchspersonen an dieses Ereignis, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hatte. Es gibt eine Reihe ähnlicher Experimente, wobei den Versuchspersonen zum Teil manipulierte Fotos gezeigt wurden, die angeblich Ereignisse aus ihrer Kindheit zeigten. Im Durchschnitt entwickelten etwa 30 Prozent der Versuchspersonen im Laufe der Zeit Scheinerinnerungen (Kryptomnesie).
Aus der Medizin kennen wir das Krankheitsbild der Pseudologia fantastica. Der Patient erzählt Erfundenes, glaubt aber selbst an den Wahrheitsgehalt seiner Erzählung. Der Schriftsteller Karl May litt zum Beispiel an dieser Krankheit, die ihn als Jugendlichen sogar ins Gefängnis brachte, weil er die Uhr, von der er glaubte, sie gehöre ihm, in Wirklichkeit unrechtmäßig an sich genommen hatte. Ein prominentes Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist der Schweizer Bruno Dösseker, der unter dem Namen Binjamin Wilkomirski das Buch Bruchstücke vorgelegt hat.
Er schildert darin, wie er als kleines Kind in Riga der Ermordung eines Mannes durch "Uniformierte" habe zusehen müssen. Dieser Mann sei möglicherweise sein Vater gewesen. Nachdem er sich dann zusammen mit seinen Brüdern auf einem Bauernhof in Polen habe verstecken können, sei er verhaftet worden und in zwei Konzentrationslager gekommen.
Im ersten Lager sei er seiner sterbenden Mutter, an die er vorher keine Erinnerung gehabt habe, ein letztes Mal begegnet. Nach der Befreiung aus dem Vernichtungslager sei er zunächst in ein Waisenhaus nach Krakau und dann in die Schweiz verbracht worden. Bruchstücke wurde in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen bedacht. Manche verglichen den Autor mit Elie Wiesel und Anne Frank.
Inzwischen wissen wir, dass Dössekers alias Wilkomirskis Holocaust-Verfolgungsschicksal komplett imaginiert ist. Den Bauernhof, den er so detailgenau beschrieben hat, gibt es tatsächlich, aber nicht in Polen, sondern in der Schweiz. Er wuchs dort bei Pflegeeltern auf. Das Buch, das 1995 in dem zu Suhrkamp gehörenden Jüdischen Verlag erschienen war, musste zurückgezogen werden.
Nun gibt es zu dem bemerkenswerten Phänomen der erfundenen Erinnerung ein nicht minder bemerkenswertes Pendant – das emphatische Vergessen dessen, was tatsächlich stattgefunden hat. 1988, zum 50. Jahrestag der "Reichskristallnacht", fand in Nürnberg eine Konferenz statt, die den Titel trug "Niemand war dabei und keiner hat’s gewusst". Dieser Satz beschrieb die nach 1945 in der Bundesrepublik lange Zeit anzutreffende Haltung.
Es war eine Zeit, in der unser Wissen über das Dritte Reich und seine Verbrechen durch die Erzählungen der Täter, allen voran Albert Speer, dominiert war. Doch mit den Jahren geriet diese Position des Nichtsgewussthabens immer mehr unter Druck. Die wesentlichen Wegmarken dieser Entwicklung sind bekannt: Ulmer Einsatzgruppenprozess, Errichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Eichmann-Prozess, Auschwitz-Prozess, schließlich 1965 die zweite Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag.
Inzwischen gibt es eine überwältigende dokumentarische Evidenz nicht nur für die entsetzlichen Verbrechen des Holocaust, sondern auch für die mindestens partielle Mitwisserschaft breiter Kreise der deutschen Bevölkerung. 2004 erschien eine von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel herausgegebene Dokumentation, für die 3.744 Dokumente aus über 50 Archiven ausgewertet wurden.
Sie zeigt in zahllosen Berichten: Die allermeisten Deutschen begrüßten die Kennzeichnungspflicht für deutsche Juden, die Einführung des sogenannten Judensterns, die den ersten Deportationen unmittelbar vorausging. Es gab nicht wenige, denen diese Maßnahme nicht weit genug ging. Kritisiert wurde zum Beispiel, dass die Juden nicht verpflichtet waren, auch auf dem Rücken einen Stern zu tragen, sodass man sie von hinten gar nicht erkennen und ihnen aus dem Weg gehen konnte.
An all das konnte sich später keiner mehr erinnern. Vor einigen Jahren erschien ein in diesem Kontext hochinteressantes Buch des Holocaust-Forschers Peter Longerich. Er konnte durch die systematische Auswertung der NS-Stimmungsberichte und einer Reihe anderer Quellen zeigen, dass das deutsche Volk nicht erst am 8. Mai 1945 einer kollektiven Amnesie anheimfiel. Je deutlicher im Verlauf des Krieges wurde, dass der von Hitler versprochene "Endsieg" sich nicht einstellen würde, desto mehr flüchtete sich die Bevölkerung in Indifferenz und Passivität, in eine "ostentative Ahnungslosigkeit" (Longerich).
Die Menschen begannen schon 1943, das Gewusste zu vergessen. Sie ahnten, dass eine Zeit kommen würde, in der es besser war, wenn man von nichts gewusst hatte. Sie wollten nicht, wie Hitler das in seinem Testament gewünscht hatte, mit ihrem "Führer" zur Hölle fahren, sondern nach den Jahren des Infernos einen Weg zurück in die Normalität menschlicher Zivilisation finden. Die Flucht in die Unwissenheit war die Voraussetzung für einen Neubeginn, den man mit dem Mythos von der "Stunde Null" zu legitimieren suchte.
1941 war das entscheidende Jahr der Holocaustgeschichte. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann der ideologisch motivierte Vernichtungskrieg im Osten. Gleichzeitig wurde die bis dahin geförderte jüdische Emigration nun unterbunden, und es begannen die systematischen Vergasungen in den Vernichtungslagern. In dieser Zeit wurden die Deutschen eingestimmt auf das Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn.
Ihre Entfernung, die Deportation, war ein zentrales Thema der Propaganda. Die Vernichtungsaktionen am Zielort der Deportationen wurden dagegen nicht thematisiert, sie blieben ein "öffentliches Geheimnis" (Longerich), weswegen auch im Jahr 1942, als die meisten Juden umgebracht wurden, die "Judenfrage" in der nationalsozialistischen Propaganda nur eine untergeordnete Rolle spielte.
1943 dagegen erreichte die antisemitische Hetze einen letzten Höhepunkt. Das Regime hatte den totalen Krieg erklärt, einen Krieg, der zur vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums führen sollte. Doch spätestens seit der deutschen Niederlage vor Stalingrad im Januar 1943 ließ sich nur noch schwer verbergen, dass das Deutsche Reich diesen Krieg wohl nicht gewinnen würde. Es setzte ein Dissimilationsprozess zwischen dem Regime und der Bevölkerung ein. Die Menschen wollten nicht länger Mitwisser des furchtbaren Mord- und Vernichtungsgeschehens sein, selbst diejenigen nicht, die unmittelbar daran beteiligt gewesen waren.
Nun könnte man fragen, ob es denn nicht gut ist, so schlimme Dinge einfach zu vergessen. Kann Amnesie nicht etwas Heilsames sein? Nicht nur sprachlich liegt in der Nähe der Amnesie die Amnestie. Es gehört zu den Kennzeichen der Adenauer'schen Bundesrepublik wie auch anderer posttotalitärer Gesellschaften, dass man das Ziel politischer Befriedung über den Rechtsfrieden stellte.
Der Philosoph Hermann Lübbe prägte für den dissoziativen Umgang der Menschen mit ihrer NS-Vergangenheit in jenen Jahren den Begriff des "kommunikativen Beschweigens". Das Beschweigen der Untaten schloss ihre Sühnung aus. Als dann in den 1960er-Jahren eine ernsthafte Verfolgung der NS-Verbrechen einsetzte, waren bereits alle Straftaten außer Mord verjährt. Um wenigstens hier noch etwas zu erreichen, wurde die Verjährungsfrist für Mord mehrfach verlängert, schließlich ganz aufgehoben.
Amnesie und Amnestie haben in der europäischen Geschichte eine jahrtausendealte und lange Zeit unumstrittene Tradition. Der Althistoriker Christian Meier hat dazu einen bemerkenswerten Essay vorgelegt. Meier geht es um den öffentlichen Umgang in verschiedenen Gemeinwesen mit "schlimmer Vergangenheit", was die willkürliche Tötung einiger hundert Griechen ebenso meinen kann wie den fabrikmäßigen Mord an sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg. Entscheidend ist, dass die Erinnerung daran als störend empfunden wird und dem Gemeinwesen zu schaffen macht.
Ausgangspunkt des Essays ist ein zunächst überraschender Befund. Da ist auf der einen Seite die Überzeugung, dass uns nur stete Erinnerung an die namenlosen Untaten des Nationalsozialismus vor der Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei bewahren kann. Uns, die wir in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind, ist diese Position sehr präsent, und sie erscheint auch absolut plausibel. Es gab keinen seriösen Widerspruch, als Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 sagte:
Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Genau entgegengesetzt ist die Überzeugung, wonach vergangene Übel nur dadurch überwunden werden können, dass sie vollständig aus dem Gedächtnis getilgt werden.
Christian Meier zeigt, dass diese dem Gebot der Erinnerung diametral widersprechende Auffassung über Jahrtausende hinweg die vorherrschende war. Ausgehend von der griechischen Antike führt er eine Fülle von Beispielen dafür an. So wurde etwa in Milet ein Dichter zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil er eine Tragödie geschrieben hatte, die an ein schlimmes Ereignis der Stadtgeschichte erinnerte und die Zuschauer stark erschüttert hatte. Weitere Aufführungen des Stückes wurden verboten. Die Vergangenheit wurde als Belastung empfunden, Heilung versprach man sich vom gemeinsamen Beschweigen.
Auch im Mittelalter folgte dem Friedensschluss das Vergessen und die Vergebung. Das schloss die Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch nicht aus, doch zog die Schuldanerkenntnis in der christlichen Ethik die Vergebung unweigerlich nach sich. Dies galt auch noch in der Neuzeit. Nach Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen wollte man die aufgerissenen Gräben wieder zuschütten, das Kriegsbeil begraben, auf dass es nicht mehr gefunden werde, und so Voraussetzungen für einen von Erinnerungen unbelasteten Neubeginn schaffen.
Der französische König Heinrich IV. ordnete 1598 im Edikt von Nantes an, dass die Erinnerung an das, was beide Seiten im vorausgehenden Religionskrieg einander angetan hatten, "ausgelöscht und eingeschläfert" werden solle. Jede Erwähnung des Geschehenen war fortan verboten. Folgerichtig war auch die Strafverfolgung der Täter untersagt. Wer sich an diese Anordnung nicht hielt, wurde als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung bestraft.
Diese Art der Konfliktbewältigung blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominant. Das erste Dokument, in dem sich ein ganz neues Denken Bahn bricht, ist der Versailler Friedensvertrag vom Juli 1919. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg mit völlig neuen Dimensionen gewesen, der ganze Landschaften verheert und Millionen Tote und Verwundete zurückgelassen hatte. Bis dahin hatte Krieg – bei Beachtung gewisser Regeln – als ein legitimes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen gegolten, nun wurde er von den Siegermächten als "das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Freiheit der Völker" geächtet.
Der deutsche Kaiser sollte wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" vor ein internationales Gericht gestellt werden. Das scheitere nur daran, dass Wilhelm II. Zuflucht in den Niederlanden suchte, die sich weigerten, ihn auszuliefern, dennoch markiert dies den Beginn einer neuen Epoche.
In den 1920er-Jahren wurden vor dem Reichsgericht in Leipzig eine ganze Reihe von Kriegsverbrecherprozessen geführt, die sogenannten Leipziger Prozesse. Das war der erste Versuch, Kriegsverbrechen juristisch zu bewältigen.
Im Nachhinein erscheint dies wie ein Präludium für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocaust, die mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 in Nürnberg einen ersten Höhepunkt erlebte und bis heute andauert. Angesichts dieses singulären Menschheitsverbrechens kam es zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Deutschland befand sich 1945 in einer welthistorisch völlig neuen Situation: Das Land war nicht nur militärisch und politisch, sondern auch moralisch zusammengebrochen.
Es hat lange gedauert, bis diese Tatsache auch im Bewusstsein der Deutschen angekommen ist. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde die Judenvernichtung in den Geschichtsbüchern kaum thematisiert. Auch in den Hitler-Biografien der 1950er-Jahre war sie ein Randereignis, im Zentrum stand bei der Darstellung der Kriegsjahre Hitler als Feldherr. Heute dagegen ist Auschwitz der zentrale Bezugspunkt jeder Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der Ortsname ist zur Chiffre geworden für ein Geschehen, das auch jenseits aller Geschichtsschreibung stets präsent ist.
Die dauerhafte Präsenz von Auschwitz hat auch damit zu tun, dass das, was sich dort zugetragen hat, jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Es sprengt die historische Trias von Erinnern, Verdrängen und Vergessen und verlangt nach völlig neuen Formen der Auseinandersetzung. Sie zu entwickeln, ist keine leichte Aufgabe. Jürgen Müller-Hohagen hat gezeigt, dass traumatische Belastungen oftmals in einem transgenerationellen Transfer an die nächste und auch die übernächste Generation weitergegeben werden.
1967 erschien Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern, dessen Titel rasch zum Schlagwort wurde. Die Autoren diagnostizierten im deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit eine intensive Abwehr von Schuld und Scham sowie eine Verleugnung der emotionalen Bindungen an die NS-Ideologie und an Hitler.
Diese Abwehr der Trauer habe zu einem politischen und psychosozialen Immobilismus in der Bundesrepublik geführt und eine demokratische Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft behindert. Die bundesdeutsche Gesellschaft war eine "kalte Gesellschaft" (Levi-Strauss), war der Versuch, historische Evolution in einem konsumorientierten erinnerungslosen Hier und Jetzt einzufrieren, wobei die "deutsche Katastrophe" der Jahre 1933-1945 aus dem Blick geriet.
Mitscherlichs Begriff der "Unfähigkeit zu trauern" ist abgeleitet von Sigmund Freuds berühmtem Essay Trauer und Melancholie, in dem es heißt: "Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst."
Der Trauernde muss sich am Verlust seines Liebesobjekts abarbeiten. Der Melancholiker erträgt den Verlust nicht, er empfindet das eigene Ungenügen als so schmerzhaft, dass er der Opferrolle als Projektionsfläche bedarf. Ulrike Jureit und Christian Schneider sprechen von "gefühlten Opfern", einer Hoffnung auf Erlösung, die in Gestalt der Identifikation mit den Opfern auftritt.
Dies zeigt sich in einer Umfrage unter jungen Deutschen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes. 48 Prozent der Befragten waren der Meinung, die Deutschen seien in der Zeit des Nationalsozialismus eher die Täter gewesen, 44 Prozent dagegen glaubten, sie waren eher die Opfer. Diese offensichtliche Begriffsverwirrung ist eine Konsequenz der imaginierten Opferrolle.
Um die schale Geborgenheit solcher Scheinwelten hinter sich zu lassen, bedürfte es des Mutes der Konfrontation mit der Realität. In den Worten von Margarete Mitscherlich: "Um die Fähigkeit zu trauern zu entwickeln, ist eine besondere Art der Erinnerung notwendig, die die Wiederbelebung unserer damaligen Verhaltensweisen, unserer Gefühle und Fantasien einschließt." Doch in den frühen Jahren der Bundesrepublik sind die energetischen Potenziale vor allem zur Verdrängung genutzt worden, zur personalen Dissoziation von der "schlimmen Vergangenheit".
Schon bald nach dem Ende der von den Alliierten durchgeführten Strafprozesse hatte eine Amnestierungs- und Begnadigungspraxis eingesetzt, deren Weiterführung von vielen Politikern und starken gesellschaftlichen Kräften, etwa den Kirchen, lautstark eingefordert wurde. Die "wirklichen" Kriegsverbrecher sollten ihre Strafen verbüßen, aber es wurde bald deutlich, dass dies nach der Vorstellung der Protagonisten der Vergangenheitspolitik jener Jahre ein winziger, ins Nichts tendierender Personenkreis war.
Alles, was darüber hinausging, wurde empört als Konsequenz angeblichen Kollektivschuldglaubens zurückgewiesen. Das Naziregime wurde verurteilt, auch die "in deutschem Namen" begangenen Untaten, doch man verdrängte, dass die Täter ebenfalls deutsche Namen hatten. Kaum einer stellte einen Zusammenhang zwischen den Naziverbrechen und der eigenen Biografie her.
Auf der anderen Seite wuchs der Widerstand gegen Hitler nach dem 8. Mai 1945 stetig weiter an, schließlich fast ins Unermessliche. 26 Prozent aller Deutschen hatten Verfolgten geholfen und 13 Prozent waren im Widerstand aktiv gewesen, während nur drei Prozent Antisemiten waren und gerade einmal ein Prozent sich an Verbrechen beteiligt hatte.
Diese völlig absurden Zahlen ergeben sich, wenn man die Ergebnisse einer Befragung hochrechnet, die der Sozialpsychologe Harald Welzer durchgeführt hat. Für die Studie "Opa war kein Nazi" wurden Familienangehörige aus drei Generationen nach dem Verhalten ihrer Eltern und Großeltern in der NS-Zeit befragt. Dies ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Phänomen der "Gedächtnisverzerrung" (Rüdiger Pohl).
Sollte die zweite Demokratie auf deutschem Boden ein Erfolg werden, konnte sie nicht gegen, sondern nur mit der einheimischen Bevölkerung errichtet werden. Die Prägung durch die Vergangenheit und das Lernen aus ihr betraf dieselben Menschen; beides war so miteinander verbunden, dass es einer wirklichen Aufarbeitung des Geschehenen und der damit einhergehenden Trauerarbeit im Wege stand. Ein Problem, mit dem alle posttotalitären Gesellschaften – von Osteuropa bis Südafrika – konfrontiert sind. Ein Neubeginn gegen die eigene Bevölkerung ist nicht möglich.
Eingebettet in die Vergangenheitspolitik der frühen Adenauerzeit war ein Viktimisierungsdiskurs, der zu einer diametralen Veränderung der Perspektive führte. Aus der Sicht der Alliierten waren Opfer die dem SS-Staat Verfallenen, die ermordeten Juden, Russen, Polen und all die anderen durch die deutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge Umgekommenen gewesen. Doch in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre waren nicht die Opfer der Deutschen, sondern vor allem die Deutschen als Opfer im kollektiven Gedächtnis präsent.
Man könnte die Fragen der historischen Erinnerungsforschung und der Erinnerungspolitik, der Entwicklung einer deutschen und europäischen, ja globalen Memorialkultur noch an vielen interessanten Beispielen illustrieren: der Anerkennung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, die Jahrzehnte in Anspruch nahm; dem Umgang mit herausragenden Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte wie zum Beispiel dem 17. Juni 1953; der Frage der Einzigartigkeit des Holocaust und der angemessenen Formen der Erinnerung daran; dem deutsch-deutschen Diktaturenvergleich und den konkurrierenden Memorialkulturen; der Initiative rechtskonservativer Europaabgeordneter, am 23. August einen europäischen Gedenktag für sämtliche Opfer aller totalitären und autoritären Regime zu begehen.
In jedem Fall bleibt es stets aufs Neue abzuwägen, wie man nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Umstürzen mit "schlimmer Vergangenheit" umgehen soll. Einen abstrakten, ahistorischen Maßstab dafür gibt es nicht. Jeder Fall liegt anders und will in seinen spezifischen Besonderheiten bedacht sein.
Daher ist es auch keineswegs ausgemacht, dass sich seit der unabweisbaren deutschen Erinnerung an Auschwitz nun auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten alles anders verhält als früher. Die südafrikanischen Wahrheitskommissionen sind ein bemerkenswertes Beispiel für einen gänzlich anders gearteten Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Es ist zudem durchaus nicht sicher, dass tätige Erinnerung eine Wiederholung der Untaten ausschließt.
Zur Erinnerung an Auschwitz gibt es keine Alternative. Deshalb gibt es auch zum Ringen um eine entzerrte Erinnerung keine Alternative, wobei dieses Ringen immer neue Formen annehmen und immer wieder zu anderen Ergebnissen führen wird. Wenn zu Beginn gesagt worden ist, dass die Deutung der Vergangenheit korrespondiert mit der Antizipation des Künftigen, sollte das in diesem konkreten Fall vor allem bedeuten, dass die Erfahrung dazu beiträgt, die Wiederholung zu verhindern.
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