Würzburg: Amok oder Terror?
Seite 2: Die Geschichte des Amok
In gewisser Weise kommt der Amok in jüngster Zeit auf seine Ursprünge zurück, die im südostasiatischen Raum liegen. Dort besaß der Amoklauf den Status eines kulturellen Musters, einer Ventilsitte, wie man es in der Ethnologie nennt. Ventilsitten fungieren als sozialpsychologische Schleusen, durch die Gesellschaften den Spannungs- und Panikpegel des Gesellschaftskörpers und ihrer Mitglieder regulieren. Wer einen nicht zu verkraftenden Gesichtsverlust, eine außerordentliche Kränkung, ein schweres Trauma erlitten hat, dem stellte zum Beispiel die malaiische Kultur den Ausweg zur Verfügung, nach einer Phase des sozialen Rückzugs und "Brütens" mit dem Ruf "Amok! Amok!" und "verdunkeltem Blick" auf die Straße zu stürzen und mit seinem Dolch auf jeden einzustechen, der seinen Weg kreuzt.
Auf diesen Ruf, so der französische Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux, reagierten die Malaien etwa so, wie wir auf eine Alarmsirene reagieren. An den Straßenecken hatten die Behörden Lanzen aufgestellt, mittels derer die Passanten versuchen konnten, sich den Amokläufer vom Leib zu halten. Der Amoklauf endete im Regelfall mit dem Tod des Amokläufers.
Die westliche Variante
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen wir einer abgewandelten Form des Amoklaufs in den USA, wobei der Krummdolch durch Schusswaffen ersetzt wird, gegen die keine Lanzen mehr Schutz bieten. Der Ur-Amoklauf dieses neuen Typs fand im August 1966 in Austin/Texas statt. Der ehemaligen Marinesoldat, Pfadfinderführer und Waffenliebhaber Charles Whitman erstach zunächst seine Mutter und seine Frau, verbarrikadierte sich anschließend auf der Aussichtsplattform eines Turms, von wo aus er das Feuer auf den Campus der Universität von Austin eröffnete und 15 weitere Menschen tötete, bevor er selbst schließlich von einem Polizisten erschossen wurde.
Im Rückblick bildet die Campus-Schießerei des 25-jährigen Charles Whitman den Auftakt einer nicht mehr abreißenden Serie von Amokläufen in den USA und der westlichen Welt. In Sandor Márais Tagebüchern stieß ich auf einen Eintrag über einen Amoklauf, der sich vor seiner Haustür im amerikanischen Dan Diego ereignete. Ich zitiere den Eintrag vom 20. Juli 1984 ausführlich, weil er er uns in seinem letzten Satz unter die giftigen Bäume unseres eigenen Dschungels führt und es uns erschwert, die alte Büchner’sche Frage: "Was ist das, was in uns lügt, stiehlt und mordet?" von uns zu weisen und das Problem auf die Anderen zu verschieben.
"Einige Straßen weiter ist um vier Uhr nachmittags ein Mann in eine Imbissstube getreten, er hielt eine Waffe im Anschlag und forderte, dass sich die Gäste und das Personal bäuchlings auf den Fußboden legten, dann machte er eine Stunde lang Zielschießen auf die liegenden Opfer. Er war ganz ruhig, immer wieder lud er nach, er beobachtete, wer noch lebte und sich verdächtig machte, indem er sich scheintot stellte, der bekam dann noch einen Schuss.
Hin und wieder schoss er durch die Glastür auf die Straße und traf Passanten. Die Polizei umstellte das Gebäude, und nach einer Stunde traf ein Scharfschütze von der Straße aus den Massenmörder. Insgesamt wurden zweiundzwanzig Menschen getötet, darunter drei Angestellte. Am Abend äußerte sich die Witwe auf dem Bildschirm. Sie sagte, ihr Mann habe gelegentlich ‚Stimmen gehört’. Das ist möglich. Manchmal flüstert einem der Teufel etwas zu. Wir müssen ihn nicht suchen, er ist ganz nah, in uns drinnen."
Nahezu alle spektakulären Schulmassenmorde und Amokläufe wurden mit Schusswaffen durchgeführt. Mit verheerenden Folgen und Opferzahlen, die teilweise weit im zweistelligen Bereich liegen. So erschoss zum Beispiel der aus Südkorea stammende Cho Sueng-Hui im April 2007 an der technischen Universität von Virginia 32 Studenten und Dozenten, bevor er sich selbst tötete. In Deutschland tötete im April 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Seit einigen Jahren ist es hierzulande zu solchen Amoktaten nicht mehr gekommen.