Würzburg: Amok oder Terror?

Seite 3: Taten mit politischem Motiv nicht immer exakt von Amok zu trennen

Der letzte spektakuläre Fall ereignete sich im Jahr 2016 in München, wo ein 18-Jähriger in einem Einkaufszentrum neun Menschen tötete und zahlreiche weitere verletzte. Er hatte seine Tat zu Ehren von Anders Breivik begangen, der exakt fünf Jahre zuvor in Oslo und auf der Insel Utøya aus rechtsradikalen Motiven 77 Menschen umgebracht hatte. Solche aus politischen Gründen begangenen Taten stellen eigentlich einen anderen Typus dar, auch wenn dieser vom Amok oft nicht exakt zu trennen ist. Der klassische Amokläufer handelt nicht im Bann einer Ideologie. Als man Brenda Spencer, die 1979 mit einem halbautomatischen Gewehr aus einem Fenster ihres Elternhauses auf das gegenüberliegende Gelände einer Schule in San Diego geschossen und dabei den Schulleiter und den Hausmeister getötet hatte, nach ihren Motiven fragte, antwortete sie: "I don’t like Mondays."

Im Unterschied zur gänzlich diffusen Motivlage Brenda Spencers beherrschen gegenwärtig faschistische und dschihadistische Täter die Gewaltszene. Die Täter von Halle und Hanau handelten aus antisemitischen und rassistischen Motiven, die jungen Männer, die aus Afghanistan oder Syrien nach Westeuropa gekommen sind und denen es nicht gelungen ist, hier Fuß zu fassen, stechen auf Repräsentanten - oder in diesem Fall Repräsentantinnen - einen Lebensweise ein, die ihnen fremd ist und bedrohlich vorkommt. Im November 2020 wurde berichtet, dass in schweizerischen Lugano eine IS-Sympathisantin in einem Kaufhaus mit einem kurz zuvor dort entwendeten Messer unter Allahu akbar-Rufen auf Kundinnen einstach. Eine Frau wurde schwer verletzt.

Früher schritt ein Amokläufer einfach so zur Tat, heute brüllt er Allahu akbar, und damit gilt die Angelegenheit als geklärt. Dabei ist gar nichts klar. Wir denken lediglich, es sei geklärt, weil wir erleichtert sind und sagen: "Aha, das ist es also wieder mal! Ein Islamist." Unbekanntes scheint in Bekanntes verwandelt und dadurch weniger bedrohlich. Diese Taten scheinen auf dem Vormarsch und gegen sie gibt es aus den oben genannten Gründen kaum Schutz. Wir können natürlich auf die alte malaiische Tradition zurückgreifen und an den Straßenecken Lanzen aufstellen.

Dialektik der Einsamkeit

Die Messerattacken sind Ausdruck einer Dialektik der Einsamkeit und gehören zur kriminellen Physiognomie des globalen Zeitalters. Man versetze sich für einen Moment in die Lage eines jungen Mannes aus Syrien, Somalia oder Afghanistan, den es nach Wien, Paris oder Berlin verschlagen hat. Was fühlt er, was hofft er, wonach sehnt er sich? Hat er Heimweh? Er kam nach Europa mit dem Kopf voller Träume, die an einer gänzlich anderen Realität zuschanden wurden. Die geflüchteten jungen Männer bleiben unter sich, hausen in Ghettos und finden keinen Zugang zu Frauen. Das lässt in ihnen einen Hass auf Frauen wachsen, denen sie auf den Straßen begegnen, die aber in unerreichbarer Ferne bleiben. Schon sprachlich können sie sich ihnen nicht nähern. Wie der Fuchs die Trauben, an die er nicht herankommt, für sauer erklärt, so werden den jungen Migranten die Frauen in ihrem verführerischen Outfit, das ihre Fantasien stimuliert, zu "Schlampen".

Aus einem überschaubaren ländlich-dörflichen Leben sind sie in eine Welt der Unübersichtlichkeit, Anonymität und Einsamkeit geraten. All die Dinge, von deren Erwerb sie geträumt hatten und um derentwillen sie sich auf den Weg gemacht haben, bleiben außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten. Nur plündernd kommen sie gelegentlich an sie heran. Das Leben in der Stadt befreit sie von den Beschränkungen ihrer Herkunft und den Festlegungen durch Familie und Dorfgemeinschaft, aber sie sind aufgrund ihrer Lage nicht imstande, Gebrauch von den neuen Freiheiten zu machen. Die neu gewonnen Freiheit erweist sich als Danaergeschenk. Und so fliehen sie innerlich zurück unter die Fittiche der Religion. Im Extremfall attackieren sie in ihren Namen eine Umwelt, die sie zurückgewiesen hat und die sie als bedrohlich erleben. Das entschuldigt nichts, liefert aber vielleicht einen Ansatz, das rätselhafte Phänomen des Dschihadismus zu verstehen, das sich mitten unter uns ausbreitet.

Camus‘ Roman Die Pest klingt so aus: Die Seuche ist auf dem Rückzug, die Menschen ergießen sich auf Straßen und Plätze und feiern Freudenfeste. Plötzlich schießt ein Mann blindlings in die Menge. "Ein Verrückter, was sonst!" beschwichtigen sich die Leute - genau wie heute, wenn jemand mit seinem Auto in den Karnevalszug rast, blindlings in die Menge schießt oder mit einem geklauten Messer auf Menschen einsticht. Der Schrecken steckt im bürgerlichen Alltag, wie der Wurm in der nach außen gut aussehenden Frucht.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Jahrzehntelang arbeitete er als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Eisenberg schreibt an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Seine Alltagsbeobachtungen und Miniaturen erscheinen fortlaufend unter dem Titel "Durchhalteprosa" im Online-Magazin der GEW Ansbach.