Zahlen und Logik der Corona-Krise

Bild: NIAID/CC By-2.0

Muster in der Berichterstattung und den politischen Reaktionen

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Es ist zum täglichen Ritual geworden: Ich öffne am Morgen den Browser und sehe sofort Überschriften wie "1.000 neue Corona-Infektionen", "Über 100.000 infizierte in Deutschland" oder "Fast 2000 Corona-Tote binnen 24 Stunden in den USA". Diese Schlagzeilen haben zwei Dinge gemeinsam: Erstens klingen sie dramatisch und erzeugen wahrscheinlich Angst; zweitens sind sie irreführend und spekulativ.

Die Aussagen über neue Infektionen suggerieren, es gäbe so jemanden wie eine Frau Corona, die man am Ende des Tages befragen könnte: "Na, wie viele haben Sie denn heute so angesteckt?" In Wirklichkeit handelt es sich bei den berichteten Zahlen nur um bestätigte Infektionen, die durch viele Faktoren verzerrt sind: etwa wie rigoros getestet wird, wie zuverlässig diese Tests sind und wie sorgfältig und zügig die Ergebnisse verarbeitet werden.

Sensationelle Darstellungen

Vergleichen Sie einmal selbst die Wirkung der Schlagzeilen "1.000 neue Corona-Infektionen", die das Geschehen ins Hier und Jetzt platziert und das Tag für Tag aufs Neue, mit der Alternative: "1.000 neue bestätigte Corona-Infektionen", bei der immerhin mitschwingt, dass es um Vorgänge in der Vergangenheit geht, die erst durch menschliches Handeln in die Gegenwart transportiert wurden.

Mit etwas Hintergrundwissen weiß man, dass man - wegen der Inkubationszeit bis hin zur medizinisch-institutionalisierten Reaktion - gut und gerne ein bis drei Wochen in die Vergangenheit blickt. Ich erinnere noch einmal an Ziffer 14 aus dem deutschen Pressekodex:

MEDIZIN-BERICHTERSTATTUNG
Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.

Deutscher Pressekodex, 2017

Bei den Todesfällen ist es nun so, dass sich das Eintreten des Ereignisses zwar direkter feststellen lässt als eine Virusinfektion. Dafür lauert hier der Teufel aber im Detail der Todesursache: Die Bedeutung des Coronavirus kann einerseits überschätzt werden, indem alle Verstorbenen nach positivem Test und Symptomatik etwa einer schweren Lungenentzündung gezählt werden; das ist natürlich insbesondere bei sehr alten Menschen mit zum Teil schweren Vorerkrankungen gewagt. Die Bedeutung des Virus kann aber auch unterschätzt werden, wenn etwa Menschen tatsächlich an COVID-19 sterben, aufgrund mangelnder Tests aber gar nicht erfasst wurden.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Zahlen, mit denen uns die Medien tagtäglich füttern, sind nicht nur von den medizinisch-technischen Möglichkeiten und bürokratischen Regeln, sondern auf vielerlei Weise von menschlichem Handeln abhängig. Diese Unsicherheit muss man berücksichtigen und sollten die Medien stärker kommunizieren, insbesondere dann, wenn man sie in Bezug zu den seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nie dagewesenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens und Wirtschaftens stellt.

Von offiziellen Zahlen zur Dunkelziffer

Ich betrachte im Folgenden noch einmal selbst die offiziellen Zahlen, bevor ich auf eine Schätzung der Dunkelziffer komme. Fangen wir erst einmal mit der Anzahl der bestätigten Infektionen an:

Dargestellt ist die Anzahl bestätigter Infektionen für einige europäische Länder vom 15. Februar bis 7. April 2020 (gelb: Spanien, grün: Italien, schwarz: Deutschland; blau: Frankreich; orange: Niederlande; rot: Österreich). Quelle: ourworldindata.org

Das sind die absoluten Fälle. Wir vergleichen hier aber auch Äpfel mit Birnen, da etwa Deutschland rund 83 Millionen Einwohner hat, Österreich aber nur rund 9 Millionen. Berechnen wir die bestätigten Fälle pro Million Einwohner, dann ergibt sich folgendes Bild:

Bestätigte Infektionen per Million Einwohner (gelb: Spanien, grün: Italien, schwarz: Deutschland; blau: Frankreich; orange: Niederlande; rot: Österreich). Quelle: ourworldindata.org

Während Italien und Spanien bei den absoluten Zahlen gleichauf lagen und Deutschland wie Frankreich im Mittelfeld, zeigt sich nun doch ein deutlicher Unterschied zwischen Spanien, das hier im Vergleich das Land mit den größten Problemen zu sein scheint, und Italien. Deutschland, Frankreich und die Niederlande schneiden so gesehen sehr ähnlich ab. Österreich hat jetzt, bezogen auf seine Bevölkerung, deutlich mehr Fälle. Nun kann man noch berechnen, wie viele Tage es bis zur Verdopplung dauerte. (Wohlgemerkt, wir haben es immer noch mit den bestätigten Infektionen zu tun.)

Je höher die Balken für die Verdopplungsrate, hier gesehen vom 7. April in die Vergangenheit, desto langsamer steigen die bestätigten Infektionen an. Das gibt zumindest einen Hinweis auf die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus, sofern ein Land nicht zwischendurch seine Testpraxis veränderte. Quelle: ourworldindata.org

Demnach hätte Italien den Höhepunkt der Verbreitung hinter sich, wenn auch auf hohem Niveau. Ein ähnliches Bild zeigt Österreich, das zurzeit über Lockerungen der Schutzmaßnahmen diskutiert. Bei den restlichen Ländern liegt die Verdopplungsrate zwischen neun und neuneinhalb Tagen. Da Spanien mit Abstand die meisten (bestätigten) Infektionen hat, sowohl absolut als auch relativ zur Einwohnerzahl, hat es auch laut dieser Darstellung die größten Probleme. Übrigens wurde mitunter die Grenze von zehn Tagen als Hinweis darauf genannt, dass die Ausbreitung unter Kontrolle ist.

Schätzungen der tatsächlichen Infektionen

Wie mehrfach angemerkt, hängt die Aussagekraft dieser Daten davon ab, wie viele der tatsächlichen Infektionen mit dem Coronavirus erfasst werden. In der Wahlforschung reichen repräsentative Befragungen von tausend Menschen oft aus, um relativ zutreffende Prognosen abzugeben. Warum macht man das nicht auch beim Coronavirus und veröffentlicht solche Zahlen täglich in den Medien? Dazu noch einmal ein Blick auf die Daten für Deutschland.

So gab es am 7. April rund 1200 bestätigte Infektionen pro Million Einwohnern; oder anders formuliert: 1,2 pro 1000 (also Promille) oder 0,12 Prozent. Wenn man eine Stichprobe von nur 1000 Menschen untersuchen würde, wird so deutlich, dass die Ergebnisse leicht durch den Zufall verzerrt werden könnten: Wenn in der Auswahl keine, zwei oder fünf Infektionen bestätigt würden, wären die Unterschiede bei den Hochrechnungen dramatisch.

Statistiker können das genauer berechnen - aber ich vermute, dass man unter diesen Umständen eher 10.000 Menschen repräsentativ testen müsste, um ein gutes Bild für die Gesamtbevölkerung zu erhalten. Dann wäre das Ergebnis weniger stark vom Zufall abhängig. 10.000 Tests einer repräsentativen Zufallsstichprobe? Da könnte man meinen, dass es der Bundesregierung das wert sein sollte, um die Verhältnismäßigkeit ihrer einschneidenden Maßnahmen unter Beweis zu stellen.

Nun kommt aber noch die Sache mit der Dunkelziffer: Es wird ja überwiegend gar nicht repräsentativ, also ohne medizinischen Anlass, nach dem Virus gesucht, sondern nur bei bestimmten Symptomen und, je nach Regeln, zusätzlichen Bedingungen, etwa ob man vorher in einem Corona-Risikogebiet war. Jetzt haben aber zwei Ökonomen von der Universität Göttingen, Christian Bommer und Sebastian Vollmer, Schätzungen der Dunkelziffer berechnet:

Unzureichende und verzögerte Tests könnten erklären, warum einige europäische Länder wie Italien und Spanien viel höhere Opferzahlen (im Vergleich zu den gemeldeten bestätigten Fällen) aufweisen als Deutschland. Hier wurden bislang schätzungsweise 15,6 Prozent der Infektionen festgestellt, verglichen mit nur 3,5 Prozent in Italien oder 1,7 Prozent in Spanien.

Pressemitteilung der Universität Göttingen vom 6. April 2020

Wenn man diese Schätzung übernimmt, kommt man für den 7. April für Deutschland auf 7.663 Infektionen pro Million Einwohner, für Italien auf 62.803 und für Spanien auf satte 170.087! Anders ausgedrückt wären das rund 0,8% für Deutschland, 6% für Italien und sogar 17% für Spanien. Das wäre dann, wohlgemerkt, die Zahl der tatsächlichen und nicht nur bestätigten Infektionen.

In diesen Größenordnungen müssten sich repräsentative Tests unter vertretbarem Aufwand durchführen lassen - und ich finde, dass die Bundesregierung diese Erkenntnisse nun der Bevölkerung schuldet. (Im Detail müsste man freilich noch einmal akute von bereits genesenen Infektionen unterscheiden.)

Wenn man übrigens, Stichwort "Herdenimmunität", die Resistenz in der Bevölkerung als Wirtschaftsfaktor sieht, wie es Eichenberger, Hegselmann und Stadelmann taten (Der Weg zurück in die Normalität), dann hätten Italien und vor allem Spanien zwar eine große, bittere Pille schlucken müssen, stünden für die Zukunft aber viel besser da als andere Länder. Vielleicht erfüllt sich hier einmal das biblische Sprichwort: Die Letzten werden die Ersten sein.

Politische Rechtfertigung

Ich kam gerade auf die Politik zu sprechen. Repräsentative Tests in der Bevölkerung scheinen nun nicht nur möglich, sondern auch zwingend nötig: Denn nicht nur die Freiheitseinschränkungen, sondern auch die gesundheitlichen und wirtschaftlichen "Kollateralschäden" der Maßnahmen werfen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf. Die Bundesregierung kann sich meiner Meinung nach nicht länger hinter Unsicherheiten verstecken, wenn mehr Sicherheit mit vertretbarem Aufwand erlangt werden könnte.

Denken wir über diese Krise noch einmal im größeren Kontext nach: Der Physiker und Unternehmer Peter Grassmann beschrieb hier gerade, wie Taiwan wegen Corona bereits am 3. Januar Maßnahmen wie eine Einreisesperre verhängte (Starker Virus - schwache Demokratie). In den Wochen und Monaten danach sahen wir bei regierenden Politikern von Ost bis West ein stets ähnliches Muster: Erst lange abwiegeln, bis die Anzahl der Infektionen außer Kontrolle geraten schien. Und dann mit schweren Grundrechtseingriffen das Land abriegeln.

Ich will hier nun keinen Vorsatz unterstellen. Aber auffällig und fahrlässig ist es schon, wenn man frühere Erfahrungen mit Viren aus Asien bedenkt, die schon vor Jahren Anlass zu offiziellen Risikostudien gaben. Dabei scheint die Pandemie mit systematischen Vertuschungen in China ihren Anfang genommen zu haben (Für die Coronavirus-Pandemie ist die KP-China verantwortlich).

Chance in der Krise

Wenn man nun die Brücke zur wirtschaftlichen Lage schlägt, dann ist das Folgende zwar spekulativ, scheint sich aber doch ein bestimmtes Muster beziehungsweise eine bestimmte Logik aus dem Umgang von Regierungen rund um den Globus mit dem Coronavirus zu ergeben: Die Welt steuerte auf eine Rezession zu; in China ließ sich die Flaute mit immer absurderen Maßnahmen wie etwa sinnlosen Infrastrukturprojekten immer schwerer verbergen; der Absatz der Autoindustrie, einer Schlüsselwirtschaft Deutschlands, wurde immer schlechter; im europäischen Raum ließen sich immer mehr Banken und schließlich auch Firmen nur noch mit billigem Geld am Leben erhalten.

Crash-Propheten, und das meine ich keinesfalls abwertend, sagten die nächste Finanz- und Wirtschaftskrise für den Zeitraum von 2019 bis 2021 voraus - und schrieben damit abseits der Mainstream-Medien einen Bestseller nach dem anderen, wie etwa die Ökonomen Marc Friedrich und Matthias Weik. Man braucht sich nur einmal die Entwicklung des Marktes für die (angebliche?) Krisenabsicherung Gold im Laufe des letzten Jahres anzuschauen, um zu verstehen, dass viele individuelle, wirtschaftliche und nicht zuletzt auch öffentliche Anleger - allen voran Russland, die Türkei, Polen, China und Indien - mit einem bevorstehenden Crash zu rechnen schienen. (Deutschland zählte 2018 und 2019 zwar zu den Top-Verkäufern, hält aber nach wie vor nach den USA die größten Reserven.)

Als ich über das Coronavirus als Chance schrieb, hatte ich im Sinn, nach der Epidemie für eine nachhaltigere Gesellschaftsordnung zu sorgen. Ist aber der Gedanke so abwegig, dass regierende Politiker das Virus als Chance in ihrem Sinne verstanden und verstehen? Indem sie beispielsweise die Gelegenheit nutzen, den ohnehin bevorstehenden wirtschaftlichen Crash einem Virus in die Schuhe zu schieben, wodurch die Akzeptanz in der - obendrein verängstigten - Bevölkerung für einschneidende Rettungsmaßnahmen zunimmt?

Eine gut gelegene Ablenkung?

Damit würden sie auch davon ablenken, dass sie es jahrelang verschlafen haben, aus den Fehlern der letzten Finanzkrise zu lernen und die nötigen strukturellen Veränderungen einzuleiten. Wir halten, salopp gesagt, in Europa verkrampft am Status quo fest, in dem wir nicht einmal mehr einen Flughafen oder großen Bahnhof fertig bekommen oder bemerken, dass die Messgröße Wirtschaftswachstum schon lange kein Wohlstandswachstum mehr widerspiegelt.

Mangels besserer Einfälle sollten wir alle endlich in Aktien investieren - durch die jüngsten Börsencrashs wurden 30% des Werts solcher Anlagen mal eben vernichtet - oder unser Gesundheitssystem weiter zerschlagen und privatisieren lassen. Dabei wurde das Auseinanderdriften in der Gesellschaft, vor allem die wachsenden Unterschiede zwischen den Ärmeren und Reicheren, stillschweigend zur Kenntnis genommen. Diese Menschen, die sich zunehmend abgehängt fühlten, wurden für radikale politische Strömungen empfänglich. Das hat uns letztlich wohl auch den Brexit beschert. Ich bin gespannt, ob es am Ende der Corona-Krise bei Großbritannien bleiben wird.

Wie ich hier darlegte, schuldet uns die regierende Politik jetzt Antworten auf brennende Fragen zur tatsächlichen Gefährlichkeit des Coronavirus. Die Medien, auch gemessen an ihrem eigenen Pressekodex, sollten die tagtägliche Dramatisierung mit irreführenden Berichten endlich unterlassen. Regelmäßige repräsentative Stichproben zur Häufigkeit der Infektionen sind ein erster Schritt hin zu einer vernunft-, nicht angstgeleiteten Politik.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.