Zehn Störfaktoren der freien Wissenschaft

Seite 3: 3. Bezahlte Forschung

Während der Großteil der Drittmittel aus der öffentlichen Hand stammt (2020: 41,9 Prozent), werden besonders im Gesundheitswesen und im Technologiesektor Drittmittel aus der Privatwirtschaft und privaten Stiftungen (2020: 23,3 Prozent) angezapft. Für alle Drittmittel gilt dasselbe Prinzip: "Wer den Impuls für die Forschung gibt, ist entscheidend", stellt Christian Kreiß klar.

In seinem online frei verfügbaren Buch "Gekaufte Wissenschaft" (2020) nennt der Ökonom zahlreiche Beispiele – angefangen bei Studien der Tabakindustrie, die die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Zigarettenrauchs verharmlosten über die fragwürdigen Forschungsinstitute im Kontext des Dieselskandals bis hin zur Kooperation von Universitäten mit Supermarkt- und Pharmakonzernen sowie der Industrienähe der Ständigen Impfkommission (STIKO).

Im Gespräch mit Telepolis verweist Kreiß auch auf die Arte-Doku "Schlank durch Schokolade – eine Wissenschaftslüge geht um die Welt" (2015).

Als Musterbeispiel für seine "sechs Schritte ins Verderben" gilt Kreiß allerdings das dubiose "unrestricted research gift", das der Social-Media-Konzern Facebook der Technischen Universität München Anfang 2019 – erfolgreich – angeboten hat, um das Institut für Ethik in der Künstlichen Intelligenz (IEAI) aufzubauen. Die sechs Schritte beschreibt Kreiß wie folgt1:

  1. Auswahl besonders vielversprechender, industrienaher (Nachwuchs-) Wissenschaftler.
  2. Fördern der besonders industrienahen Forscher.
  3. Maximale Intransparenz herstellen und Geheimhalten der Verbindungen zur Industrie.
  4. Für gewinnfreundliche Ergebnisse sorgen.
  5. Confounder (Verwirrfaktoren) einführen und Fehlfährten legen.
  6. Verzögern politischer Gegenmaßnahmen durch den Ruf nach noch mehr Forschung, Paralyse durch Analyse

So ist das Projekt an der TU bei weitem nicht so unbeschränkt, wie der Name vermuten lässt: Die 7,5 Millionen Fördergeld, die gemäß des nicht öffentlichen Vertrags über fünf Jahre hinweg gezahlt werden sollen, knüpft Facebook an Bedingungen.

Eine ist, die Förderung jederzeit zurückziehen zu können, eine weitere, dass der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge das Institut zu leiten hat (Lütge sollte unter Markus Söders (CSU) Corona-Regime später seine eigenen Erfahrungen mit Wissenschaftsfreiheit machen. Aber das fällt unter einen anderen Punkt).

Kreiß führt die Präferenz Facebooks auf eine neoliberale und gegenüber Monopolen unkritische Haltung Lütges zurück. Das gönnerhaft anmutende Vorhaben des US-Konzerns bezeichnet er mit den Worten des Philosophen Thomas Metzinger als "ethics washing": Die Konzerne versuchten zunehmend, künftige Debattenfelder schon in ihrer Entstehung zu beeinflussen und sich dabei den Anstrich zivilgesellschaftlichen Engagements zu geben.

Eskalationsleiter weiter oben

Eine Stufe höher auf der Eskalationsleiter der kommerziellen Einflussnahme steht das "ghostwriting" von Studien. Wie der Guardian 2011 festhält, haben auf Medizin spezialisierte PR-Firmen das Geschäftsmodell für sich entdeckt, gegen Geld den guten Namen eines Wissenschaftlers einzukaufen, um Studien aus der Industrie den Anschein der Seriosität zu verleihen.

So geschehen beim Schmerzmittel Vioxx, das der Hersteller Merck 2004 nach fünf Jahren wegen des erhöhten Risikos für Herzinfarkte und Schlaganfälle vom Markt nehmen musste.

Es gibt vereinzelte Bemühungen um mehr Transparenz bezüglich der Einflussnahme kommerzieller Interessen auf wissenschaftliche und medizinische Berufe. So unterstützt die Anti-Korruptions-NGO Transparency International das Portal leitlinienwatch.de und das seit Ende 2019 im Umbau befindliche hochschulwatch.de.

Eine der US-Datenbank Open Payments vergleichbare Initiative von Spiegel und Correctiv zur Überwachung von Zahlungen im Medizinsektor, "Euros für Ärzte", wurde 2021 eingestellt. Das Gesundheitswesen gilt Transparency als "besonders anfällig für Korruption".