Zeitgeistsurfer
Seite 2: Schnellpolitisierte und die Analyse der Verhältnisse
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Schnellpolitisierte schreiben "den Reichen" eine Gestaltungsmacht zu, die keine eigenen Strukturen und Logiken der Ökonomie kennt, sondern nur enorm wirkmächtige Subjekte, die überall die Fäden ziehen. Statt Kapitalismuskritik wird personalisierende und moralisierende Kritik an Kapitalisten angeboten.
Statt Kritik an den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie Elitenkritik. Die der kapitalistischen Ökonomie immanenten und durch die Konkurrenz durchgesetzten Zwänge, der Kapitalverwertung möglichst wenig an Ressourcen zu entziehen, bleiben unbegriffen.
Stattdessen herrscht die Meinung, die Ökonomie sei eine Veranstaltung zum Zweck des privaten Konsums "der Reichen". Diese Auffassung vermag die kapitalistische Wirtschaft nicht ökonomisch zu begreifen, sondern nur politisch zu verurteilen ("undemokratisch").
Zu wissen, wie die repräsentative Demokratie selbst beschaffen ist, erscheint denjenigen als überflüssig, die ihr verschwommen antikapitalistisches Ideal als eigentlichen, von den Politikern aber verratenen Inhalt des Grundgesetzes behaupten.1
Jaeggis leicht mit soziologischer Terminologie angereicherte Nacherzählung dieser Fehler2 verschaffte ihren Lesern den Genuss, sich in all dem bestätigt fühlen zu können, was sie schon vorher zu wissen glaubten. In den unisono unkritischen Nachrufen auf Urs Jaeggi sehen die Verfasser das genau umgekehrt. Sie unterscheiden nicht zwischen Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus.
Jaeggis Buch "Macht und Herrschaft" gilt ihnen als Bestätigung für das Selbstbild ihrer Zunft. Die Publizisten, die im Großen und Ganzen (nicht im pseudokritischen Detail) nach Einklang mit dem Zeitgeist streben ("Dabei sein ist alles") und ihn weiterverbreiten, meinen, dessen Schöpfer zu sein. Faktisch verhalten sie sich zu ihm reaktiv und reproduktiv, nicht prospektiv.
Erfolg: Wie Reputation funktioniert
Jaeggi führt vor, wie Reputation funktioniert. Da ist jemand Professor und eines seiner Bücher (Macht und Herrschaft) hat eine hohe Auflage. Hätte irgendjemand ohne diese beiden Voraussetzungen Jaeggis Romanmanuskripte bei Verlagen eingereicht, so wären sie nicht verlegt worden. Für die Qualität der Gründe und Ursachen des "Erfolgs" von Jaeggis Buch "Macht und Herrschaft" brauchen sich Multiplikatoren des Zeitgeists nicht zu interessieren.
Urs Jaeggi hat das Stille-Post-Prinzip und das Reputations-Crossover noch weitergetrieben: Seine Kunstwerke vermochten nicht als solche zu überzeugen. "Interessant" wurden sie, weil ihr Schöpfer sowohl als Professor als auch als Literat "Erfolg" gehabt habe. Dafür interessieren sich nun einmal Leute, die vom Erfolg treuherzig und beflissen annehmen, der könne nur auf Qualität beruhen, auch wenn sie diese inhaltlich nicht zu beurteilen vermögen.
Gewiss machen sie eine Einschränkung: Bei Heino, Dieter Bohlen und anderen wissen geistig anspruchsvolle Zeitgenossen: Deren Erfolg spricht nicht für sie. Von ihrem eigenen Milieu haben sie eine so hohe Meinung, dass sie zirkuläre Effekte einer Selbstbestätigung von Problematischem nicht wahrnehmen mögen.
Jaeggis akademische peergroup hat ihm 1991 eine Festschrift mit dem unfreiwillig satirischen Titel "Avanti Dilettanti" gewidmet. Als "Vielseitigkeit" wurde schon häufig die Tour schöngeredet, die eigene unbefriedigende Praxis in einem Feld dadurch nicht wahrzunehmen, dass man sich einer Mehrfelderwirtschaft widmet.
Der Jongleur vermag mehrere Bälle im Spiel halten, weil er alle nur kurz zu berühren braucht. Es gibt gewiss leichtere Aufgaben, als jeweils zu begründen, warum Jaeggi ein guter Sozialwissenschaftler, ein guter Schriftsteller oder ein guter Künstler gewesen sei. Viel leichter erscheint es aber, ihm zugute zu halten, es habe sich bei ihm um ein Multitalent gehandelt.
Beim Drang nach immer neuer Selbstverwirklichung geht es um die Inhalte am wenigsten. Wie unterschiedlich sie auch sein mögen, jedweder Inhalt leistet dem ansprüchelnden Ich denselben Dienst. Er bildet Anlass oder Gelegenheit, sich als Kreativling zu inszenieren. Dieser Selbstgenuss steht am Anfang, in der Mitte und am Ende.
Wer nichts einzelnes richtig zu machen versteht, sucht als Vielfraß nach immer neuen Stoffen und Figuren, um sich selbst lebendig und inhaltsvoll zu fühlen. Man frönt der Konkupiszenz als der "unbegrenzten Sehnsucht, das Ganze der Wirklichkeit dem eigenen Selbst einzuverleiben" (Paul Tillich).
Produktivität ohne Zentrum
Faktisch vollzieht sich etwas Gegensinniges. Das Individuum verliert zusehends das, was es als Subjekt sein möchte: Ein Zentrum. Es überantwortet sich selbst an das, womit es sich auffüllt, kann sich von ihm immer weniger unterscheiden und ihm gegenüberstehen (Paul Tillich). Das eigene Gedankenkleid wird aus aufgeklaubten Vogelfedern zusammengestoppelt.
Die Sehnsucht nach dem unendlichen Werden folgt der romantischen Idee ewiger, alles bloß ausprobierender Jugend und kultiviert einen histrionischen Selbstschutz. Er erlaubt es, nichts so recht ernst zu nehmen, womit man sich beschäftigt.
Alles eigene Tun sei nur Abglanz und Nebenprodukt einer sich als unendlich vorstellenden Produktivität. Jedem einzelnem bestimmtem Tun sind Histrioniker stets voraus in den Phantastereien von den nächsten neuen "Projekten". So lässt sich - ein dankbares Publikum vorausgesetzt - nach Möglichkeit vermeiden, "Farbe bekennen" zu müssen.
Selbstgefälliges Milieu
In der Traueranzeige für Jaeggi3 plaudern seine Freunde aus Uni und Kulturbetrieb aus, welch ambivalentes Verhältnis sie zu seiner Effektemacherei haben. "Urs Jaeggi, Freund von Sinn und Unsinn, ist jetzt woanders und uns wie immer wieder voraus."
Die Unterzeichner artikulieren sowohl ihren Neid ("uns voraus"), nicht so viel Kreativität gezeigt zu haben wie in des Schweizers Legebatterie üblich, als auch ihre Zufriedenheit, selbst nicht an einer ganz so extremen Profilneurose zu leiden. Dass Maniker zwar viel, aber nichts Substanzielles produzieren, schwingt in der Formulierung "Freund von Sinn und Unsinn" mit.
Jaeggi agierte in einem ebenso blasierten wie selbstgefälligen Milieu, in dem Akteure und Rezipienten sich abgeklärt zugute halten, über den Gegensatz zwischen Sinn und Unsinn hinaus zu sein. "Für das geistige Leben in unserer Kultur ist es bezeichnend, dass es eine Form der Zustimmung begünstigt, die keine wirkliche Überzeugung voraussetzt" (Lionel Trilling). Dem ironischen Unterton der Traueranzeige entspricht die Nähe der Unterzeichner zu einem anspruchsvollen Segment der Unterhaltungsbranche.
"Die Freizeit nimmt zu und die Leute wollen unterhalten werden, und zum Spiel gehört auch das Spiel des Ernstes. Deshalb tut man so, als ob man an den Ernst der Kunst noch glaubte. Aber nur zum Spaß" (Rudolf Burger).
Die Traueranzeige von Jaeggis Freunden beginnt mit den Worten: "'Kunst ist überall' (Lebensmotto von Urs Jaeggi)". Dieser Spruch zeigt sich ostentativ über diejenigen Fragen erhaben, die seit Jahrzehnten zum inflationär erweiterten bzw. entgrenzten Kunstbegriff gestellt werden: Wenn alles Kunst sein soll, was ist dann bitte noch Kunst? Und: Wer kann dann überhaupt noch irgendetwas tun, das keine Kunst ist?
Literatur:
Rudolf Burger: Die Heuchelei in der Kunst. In: Ders.: Ptolemäische Vermutungen. Lüneburg 1981 Hartmut Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. In: Leviathan, H. 1, 2006 Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer. Berlin 1987 Paul Tillich: Systematische Theologie. Bd. II. Stuttgart 1958 Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit. München 1980