Zeitgeistsurfer

Symbolbild: Ralph Klein/Pixabay License

"Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik": Was sich aus dem Phänomen Urs Jaeggi über Erfolg im Kulturbetrieb erfahren lässt

Reif ist, wer nicht auf sich selbst hereinfällt.

Heimito von Doderer

Der Nachruf in Zeit online war am 15. Februar 2021 der Ansicht, Urs Jaeggi sei jemand gewesen, der "die Studentenbewegung prägte". Spiegel online meinte am gleichen Tag, bei Jaeggi handele es sich um "einen der Ideengeber der Studentenbewegung der Sechzigerjahre".

Dabei erschien sein einziges viel gekauftes Sozialkunde-Buch erst 1969, also nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung. Das Verhältnis zwischen Renommee und Leistung blieb bei Urs Jaeggi sein Leben lang recht speziell und ließ ihn in der Öffentlichkeit zu einer schillernden Figur werden.

Dieses filmreife soziale Phänomen interessiert uns im Folgenden.

Um einen Nachruf oder um die Würdigung des Individuums Urs Jaeggi geht es diesem Artikel nicht. Wer ein Drehbuch für einen Film über Zeitgeistsurfer verfassen und Urs Jaeggi (1931-2021) - "Soziologe, Schriftsteller, bildender Künstler" und auch noch Maler (Wikipedia) - als reale Begebenheit dafür verwenden will, muss mit dem Einwand rechnen, die story gerate aller Wahrscheinlichkeit nach allzu klischeehaft.

Aber wieder einmal gilt: "Live is stranger than fiction."

Als es ihm noch darum ging, zum Professor berufen zu werden, nannte Urs Jaeggi sein 1969 erschienenes Buch "Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik" (mehr als 400.000 Mal verkauft). Als er dann auf seinem Lehrstuhl saß und meinte, nun sei es angesagt, nach links zu blinken, trug das Werk auf einmal die Überschrift "Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik".

Keine zehn Jahre später ging Jaeggis Reise weiter ins postmoderne "Konkursbuch", das inhaltlich so ausfiel, wie es hieß. Jaeggi hat sich seitdem mit schöner Regelmäßigkeit alle paar Jahre neu erfunden bzw. seinen Weg zum im Feuilleton jeweils Angesagten gefunden.

Bewunderer und angesagte Redensarten

Zu Jaeggis Roman "Grundrisse" (1981) liegt die Frage nahe: "Wieso aber applaudiert der Literaturbetrieb einem Buch, dem es an literarischer Qualität so sehr mangelt, dass selbst Jaeggis Bewunderer ihre Lobeshymnen mit dem verlegenen Eingeständnis beschließen, Sprache und Stil des Autors ließen doch sehr zu wünschen übrig?" (Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer - siehe Literatur am Ende des Artikels)

Wer an einer Antwort auf diese Frage interessiert ist, wird die Resonanz zwischen den Bewunderern und den Propagandisten der jeweils angesagten Redensarten in den Blick nehmen. Literaturkritiker verstehen sich, so Christian Schultz-Gerstein:

"als engagierte Intellektuelle, die jede Gelegenheit zur Bekundung ihrer kritischen Zeitgenossenschaft begierig am Schopfe packen. Und Jaeggis Roman ist da ein wahrhaft paradiesisches Angebot. Auf seinem ideologischen Grabbeltisch findet der kritische Zeitgenosse alles, was man so braucht, um als kritischer Zeitgenosse durchzugehen. […] Umweltzerstörung? Beziehungsfrust? Apo-Vergangenheit? Der engagierte Literaturkritiker muss gar nicht mehr hinhören, denn dieser Autor nimmt ihm ja beständig das Wort aus dem Mund. Und eben dies gilt ihm als hohe Roman-Kunst, dass es aus einem Buch herausschallt, wie er in sein Feuilleton hineingerufen hat."

Zu Jaeggis Kunst, sich künstlerisch zu geben, ist anlässlich seines Romans "Grundrisse" schon alles gesagt worden:

(Jaeggi) bringt das Kunststück fertig, nahezu 300 Seiten vollzuschreiben, ohne dass man am Ende wüsste, wovon denn nun die ganze Zeit die Rede war. Zwar beschwört der Autor fortwährend: "Etwas ändert sich", "etwas hat sich verändert", und im Kopf der Hauptfigur sei "irgendetwas explodiert". Nur, was da explodiert sei, was sich verändert haben soll, erfährt man nicht, weshalb der Autor auch fortwährt zu wiederholen, dass sich "etwas verändert hat". Wenn Jaeggi Handlung immer nur vortäuscht, indem er sie behauptet, statt sie erzählend zu entwickeln, so ergibt sich das zwangsläufig aus der Tatsache, dass seine Figuren nur Behauptungen sind. […] Was immer Jaeggi ihnen auch andichtet, bleibt beliebig und ohne Zusammenhang. […]

Derart haltlos ist die Sprache des Bachmann-Preisträgers, dass sie, was sie vergegenständlichen will, verflüchtigt. Gerade so, als hätte Jaeggi mit jener Tinte geschrieben, bei der das eben Geschriebene sich wenig später in ein leeres Blatt verwandelt. Das liest sich dann etwa so: "Für sein Empfinden ist die Landschaft zu flach, obwohl gerade die flach und öd scheinende Weite ihn, der aus einer Hügellandschaft kommt, andererseits fasziniert." Obwohl, könnte hier jedermann ins Blaue hinein weiterdichten, die Hügellandschaft wiederum den Reiz hat, nicht so flach zu sein wie die flache Landschaft, die aber ihrerseits wiederum den Charme (oder sonstwas) der Hügellosigkeit für sich hat.

Christian Schultz-Gerstein

In der Marktwirtschaft zählt der Absatz einer Ware als Bedingung des Geschäftserfolgs. Die Qualität oder der Inhalt des Produkts oder der Leistung sind nachrangig. "Die Maßstäbe der Bewertung einer Leistung werden nicht außerhalb des Wettbewerbs gewonnen."

Dann erscheint im marktwirtschaftlichen Geltungs- und Erfolgshorizont als "bester Sänger einfach derjenige, der die meisten Tonträger verkauft, die beste Wissenschaftlerin jene, welche die ausgeschriebene Stelle kriegt und der beste Politiker derjenige, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt" (Hartmut Rosa). Im Kultursegment der Marktwirtschaft ist die Beurteilung des Angebots besonders schwierig.

Anbieter machen sich zunutze, dass "alles mögliche durcheinander geredet wird" und "Propheten und Schwindler die gleichen Redensarten gebrauchen, bis auf kleine Unterschiede, denen nachzuspüren kein beschäftigter Mensch die Zeit hat. [...] Da ist es sehr schwer, den Wert [...] einer Idee richtig zu erkennen" (Robert Musil). In der Postmoderne wird aus dieser Not eine Tugend.

"Flache linke Positionen": Zur Machtkritik

In der Soziologenzunft herrschte in den 1970er Jahren eher Ratlosigkeit, wenn gefragt wurde, welche markante Erkenntnis Leser aus der Lektüre von Jaeggis soziologischen Texte wohl gewinnen können. Abweichend davon lobt heute ein Hamburger Soziologe, Sighard Neckel, Jaeggis viel verkauftes Buch "Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik".

Dessen These sei, "dass eine vergleichsweise kleine Elite die Schaltstellen der Macht beherrscht. [...] Vor allem habe Jaeggi mit den soziologischen Studien von Helmut Schelsky aus den 50er Jahren gebrochen, so Sighard Neckel, insbesondere mit der These von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in der soziale Ungleichheiten tendenziell eingeebnet würden. Jaeggi habe die Soziologie zu einer 'machtkritischen, konfliktorientierten Betrachtung der Gesellschaft' zurückgeführt" - so der Text des Südwestrundfunks zu Urs Jaeggis Tod.

Faktisch bedurfte es für die "machtkritische, konfliktorientierte Betrachtung der Gesellschaft" keines Jaeggi. Ralf Dahrendorfs "Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart" (1961) verstand sich als genau solche "Betrachtung". Die Diagnose, "dass eine vergleichsweise kleine Elite die Schaltstellen der Macht beherrscht", formulierte C. Wright Mills in seinem wirkmächtigen Buch "The Power Elite" von 1956 (deutsch: Die amerikanische Elite, 1962).

Jaeggi hat mit seinem Buch von 1969 nur nachgesprochen, was in den 1960er Jahren schon lange vor ihm geleistet wurde: Die Kritik an der Vorstellung einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft.

Jaeggis Buch "Macht und Herrschaft" enthielt all die Redensarten, die flache linke Positionen seit langem auszeichnen. Die systemische Eigendynamik der Kapitalverwertung wird nicht begriffen als Macht, der Arme und Reiche - wenn auch auf unterschiedlichen Positionen - unterworfen sind. Vielmehr gelten "die Reichen" als autokratisches Kollektivsubjekt, das die Wirtschaft steuere.