Zerfällt der MH17-Prozess
Australien und die Niederlande beschwören Einheit, die im JIT bröselt. Das niederländische Parlament fordert einstimmig eine Ermittlung über die Verantwortung der Ukraine
Die niederländische Regierungskoalition unter Ministerpräsident Mark Rutte hat die äußerst knappe Mehrheit im Parlament verloren und nur noch 75 Abgeordnete von 150. Ruttes Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die mit der christdemokratischen CDA (Christen Democratisch Appèl), der linksliberalen D66 (Democraten 66) und der christdemokratischen ChristenUnie die Regierungskoalition bildet, hatte zuvor den Abgeordneten Wybren van Haga ausgeschlossen, weil er sein Haus ohne Genehmigung hat renovieren lassen. Im Sommer war er bereits einmal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen worden. Jetzt hat er angekündigt, seinen Sitz behalten zu wollen und sich weiter an die Koalitionsvereinbarung zu halten.
Dennoch dürfte das Regieren jetzt schwieriger werden, auch was in den Niederlanden den Prozess gegen die bislang ermittelten Verdächtigen betrifft, die verantwortlich für den Abschuss der Passagiermaschine gewesen sein sollen. Das Gemeinsame Ermittlungsteam (JIT) hat drei Russen und einen Ukrainer beschuldigt, weit oben in der Kommandohierarchie für die Lieferung des Buksystems in die Volksrepublik Donezk und nach dem Abschuss wieder zurück nach Russland verantwortlich gewesen zu sein. Wer die Buk an den vermeintlichen Abschussort gebracht und wer dort die Rakete abgeschossen hat, ist weiterhin unklar.
Die niederländische Regierung und das JIT hatten sich von dem vom ukrainischen Geheimdienst gewaltsam verschleppten Tsemakh (Zemach), der seinerzeit Leiter einer Luftabwehreinheit in Schischne gewesen sein soll, was auch umstritten ist, mehr Informationen erhofft, aber der neuen ukrainischen Regierung war eine Annäherung an Russland zur Beendigung des Kriegs in der Ostukraine und der Gefangenenaustausch wichtiger. Selbst auf Druck der Niederlande tauschte Kiew Tsemakh, der noch schnell von der niederländischen Staatsanwaltschaft als möglicher Verdächtiger hochgestuft wurde, gegen ukrainische Gefangene in Russland aus.
Das war bereits ein deutliches Zeichen, dass die Einheit des JIT nicht mehr gewährleistet ist. Schon länger hat die malaysische Regierung dessen Ermittlungen als einseitig kritisiert. Und während die niederländische und australische Regierung explizit die russische Regierung beschuldigten, hinter dem Abschuss zu stehen, hatten Belgien und Malaysia sich dem nicht angeschlossen. Die Poroschenko-Regierung hatte man lieber ausgelassen, um nicht der Einseitigkeit beschuldigt zu werden, da schon von Beginn die Teilnahme der Ukraine am JIT umstritten war.
Prozess kann viele Jahre dauern
Gerade war Mark Rutte Gast beim australischen Premier Scott Morrison. Beide betonten, dass die Schuldigen gefunden werden müssen. Rutte erklärte, es könne noch viele Jahre dauern, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, was bereits andeutet, dass die Ermittlungen bislang auf schwachen Füßen stehen. Australien, die Niederlande und ihre Partner im JIT wären aber "absolut entschlossen" dies zum Ende zu bringen, was eine Einheit beschwört, die nicht mehr gegeben zu sein scheint.
Und Rutte macht auch deutlich, dass "es augenblicklich keine Garantie gibt, dass Menschen inhaftiert werden können", was bislang wahrscheinlich ist. Fraglich wird auch sein, ob es überhaupt Zeugen gibt, die Entscheidendes aussagen können. Man werde den Prozess nicht beenden, versprach Rutte, bis "wir alle das Gefühl haben, dass Gerechtigkeit genüge getan worden ist". Morrison versprach, man stehe "Schulter an Schulter", so lange dies braucht.
Niederländisches Parlament offenbar unzufrieden mit dem JIT
Mittlerweile gibt es aber auch Druck vom niederländischen Parlament, nicht nur in der Richtung zu ermitteln, die das JIT eingeschlagen hat, also gegen Russland (Niederländisches Parlament fordert Ermittlungen gegen die Ukraine). Ausgerechnet von Chris van Dam, einem Abgeordneten der CDA, Teil der Regierungskoalition, wurde der Antrag eingebracht, dass auch gegen die Ukraine ermittelt werden müsse, weil diese während eines Krieges, in dem bereits Militärmaschinen abgeschossen wurden, den Luftraum nicht geschlossen hat. Der Antrag wurde von allen Parteien angenommen, der Regierung blieb nichts anderes übrig, als dem bei allem Unwillen nicht im Wege zu stehen.
Das dürfte auch ein Versuch sein, der offensichtlichen Einseitigkeit und dem Konflikt innerhalb des JIT entgegenzutreten, indem nicht nur gegen Russland, sondern auch, möglicherweise nur symbolisch, gegen die Ukraine ermittelt wird. Tatsächlich ist die Verantwortung von Kiew für den Abschuss in den Ermittlungen nicht wirklich thematisiert worden. Das hätte zumindest zivilrechtliche Folgen, der Luftrechtexperte Elmar Giemulla hat schon lange im Namen von Angehörigen von Opfern eine Klage beim Europäischen Gerichtshof EGMR wegen Totschlags durch Unterlassung eingereicht, die aber offensichtlich blockiert wird
Es ist auch die Einheit des Westens in dieser Frage nicht mehr so klar wie unter Obama, Donald Trump ist persönlich nicht sonderlich interessiert an dem Prozess und daran, unbedingt Russland ins Visier zu nehmen. Die neue ukrainische Regierung steht nun unter Druck und muss zur Abwehr von teuren Schadensersatzforderungen und einer womöglich neuen Ermittlungsrichtung die Entscheidung der früheren ukrainischen Regierung rechtfertigen. Bogdan Yaremenko, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, erklärte, es sei "nicht ganz" richtig, dass durch eine Schließung des Luftraums der Abschuss hätte verhindert werden können. Kiew habe in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) gehandelt, die keine Schließung des Luftraums im Kriegsfall verlangt. Zudem habe man dennoch den Flugkorridor erhöht.
Der Eindruck wächst, dass der MH17-Fall gegen Russland langsam zerfällt, weil bislang gerichtsfeste, über Bellingcat hinausreichende Beweise ebenso fehlen wie Zeugen während Angebote zur Bereitstellung von Beweismitteln wie von Privatermittler Josef Resch nicht wirklich wahrgenommen werden.
Auch wenn Separatisten oder russische Soldaten die Buk-Rakete abgefeuert haben sollten, steht in Frage, ob sie einen Fehler begingen und die Passagiermaschine mit einem Militärflugzeug verwechselten. Im Hintergrund steht das Problem, dass Kiew gegen die Antimaidan-Revolte, die sofort als terroristisch bezeichnet wurde, Panzer und Flugzeuge einsetzte, also gegen die eigene Bevölkerung. Die "Antiterroroperation" ist bislang weitgehend unkritisch im Westen geblieben.
Man muss sich nur vorstellen, was gewesen wäre, wenn die Janukowitsch-Regierung die Maidan-Proteste als terroristisch bezeichnet hätte und mit dem Militär dagegen vorgegangen wäre. Verdächtig bleibt weiterhin, warum angeblich am Tag des Abschusses von MH17 alle ukrainischen Radarsysteme abgeschaltet gewesen sein sollen, was fraglos akzeptiert wurde - und warum die USA keine Satellitendaten liefern. Angeblich sollen die USA, wie seinerzeit Außenminister Kerry behauptete, entsprechende Beweise haben, von denen man aber niemals etwas gesehen hat.
Im Unterschied zu angeblichen Giftgaseinsätzen oder zum Nowitschok-Anschlag auf die Skripals ist der MH17-Prozess weiterhin eine Option, die aus interessierten Kreisen erhobenen Vorwürfe an Russland von einem unabhängigen Gericht prüfen zu lassen. Es wird sich zeigen, ob die niederländischen Richter dem gewachsen sein werden.
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