Zerfetzte Körper, zerbrochene Hoffnung: Das wahre Gesicht des Krieges
Über 200 gewalttätige Konflikte weltweit: Politik paktiert mit dem Tod. Über Sackgassen der Vernunft und die Frage: Wo sind Grenzen dessen, was man zeigen muss? Essay.
Berichte und Reportagen über Krieg und Gewalt dominieren unsere Medien. Bilder von explodierenden Bomben und verzweifelten Menschen gehen um die Welt.
Servicestelle Friedensbildung, Peace Counts Projekt
Wieder ist ja Blutland mitten in Europa, wieder kauern Männer zwischen Leben und Tod in Unterständen, heben Schützengräben aus, und wieder türmen sich die Toten.
Bernd Roeck, Historiker, NZZ
Der aktuelle Kriegs- und Krisenstatus der Menschheit dürfte so manche Hoffnung dämpfen, die nach zwei durchgemachten Weltkriegen auf Vernunft setzte. Mehr als 200 gewaltsame Konflikte weltweit etwa zählt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) in seinem Konfliktbarometer 2023, das kurz vor Jahresende 2024 erschien.
Kein Frieden nach dem Weltenbrand
Die Zahl aktiv beteiligter Staaten (active state-based armed conflicts) nimmt einen besonderen Platz im jährlichen Ranking ein: Sie erreichte mit insgesamt 59 einen vorläufigen Höchststand, so die Ergebnisse eines anderen Beobachters, des Uppsala Conflict Data Program (UCDP), das umfängliche Daten zu Zahl und Qualität militärischer Konflikte nach 1945 sammelt.
Nichtstaatliche Konflikte und einseitige Gewalt gingen demgegenüber 2023 im Vergleich zu 2022 zurück, blieben jedoch auf einem "historisch hohen Niveau", berichten die schwedischen Forscher. Ihre Kollegen aus Heidelberg (HIIK) unterscheiden je nach Intensität: gewaltsame Krisen, begrenzte Kriege und Kriege.
Status: Krieg!
So seien im Referenzjahr etwa die Konflikte in Israel mit den Palästinensern und der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah zu Kriegen eskaliert, heißt es im HIIK-Bericht. Als häufigster Konflikttyp rangieren freilich, wie auch schon in den vorherigen Jahren, innerstaatliche Auseinandersetzungen.
Im oben abgegrenzten Sinne (Kategorie: Krieg) spricht das Heidelberger Institut von weltweit 22 Kriegen und 21 begrenzten Kriegen, die wir heute sehen. Das macht zusammen 43 an der Zahl. Subsahara-Afrika wird als die Region mit den meisten Kriegen verzeichnet.
Enorm sind die wirtschaftlichen Kosten, die Kriege verursachen. Insgesamt kosteten Krieg und Gewalt die Welt im Jahr 2022 rund 17,5 Billionen Dollar, das entspricht ca. 13 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.
Für jedes betroffene Land ist das verheerend. Die Ukraine beispielsweise brachte etwa 63 Prozent ihres BIP für die Verteidigung gegen die russische Invasion auf.
Nebel statt Vernunft
Manche denken, spätestens nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sollte der Menschheit klar geworden sein, dass sich mit dem Führen von Kriegen nichts wirklich gewinnen lässt.
Daran zu erinnern, dass der Krieg ein menschenverachtendes Monstrum ist – selbst ein Hartgesottener wie der frühere amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara zeigte sich im Alter schwermütig und sprach vom "Fog Of War" –, ist erklärtes Anliegen eines Berliner Projekts, das 2025 auf seine Gründung vor hundert Jahren zurückblickt: des Berliner Anti-Kriegs-Museum.
Ein Pazifist ärgert die Nazis
1925, mitten zwischen Weltkrieg I und II, wurde das Ausstellungsprojekt von dem Schriftsteller, Junganarchisten und Antimilitaristen Ernst Friedrich (1894-1967) in einem winzigen Häuschen mitten in Berlin gegründet – das weltweit erste Museum gegen Krieg.
Die Geschichte ist bewegt: Im März 1933 – nach unzähligen Prozessen gegen Friedrichs pazifistisches Treiben – wurde das Mini-Museum durch die Sturm-Abteilung der Nationalsozialisten zerstört und in ein SA-Lokal mit Folterkammer umgewandelt. Goebbels Zeitung Der Angriff polterte gegen die "kommunistisch-pazifistische(n) Schmierfinken".
Friedrich und seine Familie flohen aus Deutschland. Erst 1982 wurde das Haus, 15 Jahre nach dem Tod seines Gründers, an anderer Stelle in Berlin (jetzt Wedding) neu eröffnet. Es ist heute assoziiertes Mitglied der War Resisters International (WRI) und als gemeinnützige Organisation anerkannt.
"Zerhauene Visagen, durchlöcherte Helme"
Vorläufer des Museums war eine spektakuläre Foto-Dokumentation Friedrichs in vier Sprachen, deren Titel Programm: "Krieg dem Kriege". Ein Bilderalbum voller Grausamkeiten.
Diese ganz spezielle Fotogalerie des Schreckens sollte die Bevölkerung über die Realität des Ersten Weltkriegs aufklären; wie das geschah – ein damaliger Tabu-Bruch. Das Buch, 1924 erschienen, avancierte zur "Bibel der Pazifisten". Es kamen schlussendlich bis zu einer halben Million Exemplare in Umlauf. Seit vergangenem Mai gibt es eine Neuauflage, herausgegeben vom Anti-Kriegs-Museum Berlin.
Schwere Kost, insbesondere die Abbildungen vom Krieg grauenhaft entstellter Körper. Neben den Überlebenden die zerfetzten Leiber von Soldaten und Zivilisten, verhungerte Kinder, standrechtliche Erschießungen, geschliffene Bildtexte als Beigabe: "Das Ebenbild Gottes mit Gasmaske", "Das Feld der Ehre", "Benediktion der Kirche". Eine zerbombte Wohnstraße trägt den Titel: "Europäische Kulturarbeit".
Genau damit, so der heutige Herausgeber, sollte die Realität des Krieges "höchstmögliche sinnliche Gestalt" gewinnen.
In der Berliner Charité wurden viele im Ersten Weltkrieg verletzte Soldaten chirurgisch behandelt; der leitende Arzt Ferdinand Sauerbruch hatte der Sammlung schockierende Zeugnisse seiner Arbeit als Chirurg beigesteuert.
Bis heute bleibt es ein heikler Punkt der Berichterstattung, wie Medien mit der monströsen Grausamkeit und dem Leid, die jeder Krieg verursacht, umgehen soll. Was ist der Öffentlichkeit zuzumuten?
Der Krieg – untoter Koloss
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
Georg Heym: Der Krieg (1911)
Der Krieg als schwarzer Koloss, ein untoter Menschenfresser – der immer wieder aufzuerstehen scheint, wie Georg Heym in seinem berühmten Gedicht es zeigte. Sein wütendes Erwachen ertränkt den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus in Strömen von Blut.
Dass der I. Weltkrieg "der Krieg zur Beendigung aller Kriege" wäre – ein übler Schwindel. Tödlich zuallererst für die mit Patriotismus gefütterten Soldaten, profitabel für die Munitionshersteller, Banken und Spekulanten. So urteilte Smedley D. Butler (1881-1940), ein hochdekorierter US-General seiner Zeit, in seiner Abrechnung "War Is A Racket" (Krieg als Schwindel und einträgliches Geschäft).
"Riesige Blutgewinne"
Die "riesige(n) Blutgewinne", schreibt Butler in seiner 1935 verfassten persönlichen Bilanz, füllten die Steuererklärungen von mindestens 21.000 neuen Millionären und Milliardären, die der I. Weltkrieg in den Vereinigten Staaten hervorgebracht habe.
Ich bin kein Dummkopf, der glaubt, Krieg sei eine Sache der Vergangenheit.
Smedley D. Butler, War Is A Racket
Zukunftsängste und Ohnmachtsgefühle nehmen zu. Zugleich sinkt offenbar die Hemmschwelle, persönlich zur Gewalt zu greifen, wie jüngste Lagebilder zur Jugendkriminalität es zeigen. Dazu kommt: Mit dem "Wissen" über die Vergangenheit ist es beim Nachwuchs leider oft nicht gut bestellt.
Das Anti-Kriegs-Museum aus dem Ursprungsjahr 1925 hatte von Anfang an die Jugend als Zielgruppe im Visier: Wissen und Gewissen zukünftiger Generationen. Viele Schülerinnen und Schüler anno 2025 nehmen vor dem Hintergrund der schwer verdaulichen täglichen Nachrichten aus Medien und auf Social-Media-Kanälen die kriegerische Imprägnur der Welt als Bedrohung wahr.
Reales Grauen – in Bildern zumutbar?
Bleibt die Frage nach der Erinnerungskultur und ihren legitimen Formen. Wo sind Grenzen dessen, was zu zeigen ist?
Es gibt Kriegsbilder, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden sind, sagt der Medienethiker Christian Schicha. Sogenannte "Schlüsselbilder" stünden ikonisch für ein Ereignis. Als Beispiel nennt er das weltbekannt gewordene Foto von Kim Phuc aus dem Jahr 1972: Der Moment, in dem ein nacktes Mädchen verzweifelt vor den Napalm-Bomben flieht, ist, so Schicha, "eine Ikone des Vietnamkriegs".
Der streitbare Außenseiter Ernst Friedrich nannte die Menschen "Vergessmaschinen". Hinter der nackten Zahlensprache der Statistiken ist das reale Grauen schwerlich zu erkennen: Was der Krieg ist und was er anrichtet, das wollen die Berliner Ausstellung, in krasser Form das Buch zurück ins Bewusstsein rufen. Es zeigt Lebende und Tote, die dem erwachenden Monster begegnet sind.
Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege. Neuauflage 2024, Chr. Links Verlag. Text- und bildgleich auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.
Der preisgekrönte Film "The Fog Of War" ist kostenfrei hier zu sehen.