Zu Tode erstarrt im Netz der ewigen Neinsager

Die Rolle der Vetogruppen in Demokratien. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 23

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Das Gewicht der Vetogruppen in den entwickelten Demokratien ist längst so stark geworden, dass vernünftige Entscheidungen kaum noch zu Stande kommen. Für die Situation hat der frühere SPD-Politiker Bodo Hombach den Ausdruck "Malefiz-Gesellschaft" geprägt: eine Gesellschaft, in der das Verhindern Vorrang vor dem Gelingen hat und in der immer nur alles blockiert wird, und in der es wichtiger erscheint, anderen Barrieren in den Weg zu legen, als selbst zum Zuge zu kommen. Der Einfluss von Vetogruppen führt dazu, dass über Reformen nur noch geredet wird. Mit Reformen befasst sich das öffentliche Geschwätz, nicht das politische Handeln der demokratischen Repräsentanten. Sollte jemand versuchen, Reformen wirklich durchzusetzen, werden die Vetogruppen das verhindern. Die Parole heißt dann: unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner durchwursteln.

Dass die entwickelten Demokratien der Welt kaum noch in der Lage sind, dringend erforderliche Reformen durchzusetzen, hat die letzte Folge dieser Artikelreihe gezeigt. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen?

In den etablierten Demokratien haben sich die Interessenverbände, Organisationen und Unternehmen im Verlauf der Jahrzehnte immer nachhaltiger festgesetzt und mit den bestehenden Machtverhältnissen arrangiert. Zwischen Staat, Verbänden und Unternehmen hat sich ein Netzwerk wohlgeordneter und dauerhafter Verknüpfungen herausgebildet.

Dieses Gemisch der Beziehungen von Verbänden und Unternehmen mit dem Staat und dem politisch-administrativen System bezeichnet man als "Korporation". Im politischen System einer Demokratie agiert eine Vielzahl von Interessengruppen, die Zugang zum politisch-administrativen System haben und darin ihre Interessen artikulieren, abstimmen und natürlich auch durchsetzen.

Diese Interessengruppen sind in weitläufige Beratungs- und Entscheidungsnetzwerke eingebunden, die von Regierungen geschaffen wurden und gefördert werden. Das hat Konsequenzen für das politische System und für die Verbände und Unternehmen.

Große Verbände und Unternehmen können ihren Interessen im politischen Prozess stärkeren Nachdruck verleihen und haben gegenüber anderen Akteuren eindeutige Privilegien. Im Gegenzug übernehmen sie staatliche Aufgaben, erleichtern so Konsensfindung und Normsetzung, werden also für Steuerungsleistungen instrumentalisiert; denn der Staat kann seine Integrations- und Steuerungsfunktion ohne nichtstaatliche Akteure gar nicht mehr ausüben.

Allerdings ist gegen diese Interessengruppen, die fest im Sattel des Systems sitzen, schwer anzukommen, wenn sie Entscheidungen nicht mittragen wollen - was nur allzu häufig vorkommt. Interessengruppen, die durch die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ihre Sonderinteressen verfechten, nennt man Vetogruppen. Vetogruppen können staatliche Reformpläne effektiv verhindern oder wenigstens behindern.

Das Gewicht der Vetogruppen in den entwickelten Demokratien ist längst so stark geworden, dass vernünftige Entscheidungen kaum noch zu Stande kommen. Für die Situation hat der frühere SPD-Politiker Bodo Hombach den Ausdruck "Malefiz-Gesellschaft" geprägt: eine Gesellschaft, in der das Verhindern Vorrang vor dem Gelingen hat, in der immer nur alles blockiert wird und in der es wichtiger erscheint, anderen Barrieren in den Weg zu legen, als selbst zum Zuge zu kommen.1

Gesellschaftliche, technologische und institutionelle Innovationen bleiben im Gestrüpp organisierter Interessen und der vielen Zuständigkeiten der Institutionen und in unzähligen Kommissionen stecken. Wer mit einer unkonventionellen Idee aus dem Glied tritt, wird schnell Opfer von Interessengruppen, wenn die um ihre Interessen fürchten.

Der Einfluss von Vetogruppen führt dazu, dass über Reformen nur noch geredet wird. Mit Reformen befasst sich das öffentliche Geschwätz, nicht das politische Handeln der demokratischen Repräsentanten. Sollte jemand versuchen, Reformen wirklich durchzusetzen, werden die Vetogruppen das verhindern. Die Parole heißt dann: unter angestrengter Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner durchwursteln.

Durchwursteln ist das oberste Politikprinzip der entwickelten Demokratien. Und das geht stets nach dem Muster der Großen Gesundheitsreform. Sie wird jedes Jahr als Jahrhundertwerk und größte Reform aller Zeiten angekündigt. Dann wird monatelang geredet und geredet, und am Ende passiert gar nichts - aber die Beiträge der Versicherten werden wieder mal erhöht; das Einzige, was laut Ankündigung diesmal eigentlich nicht passieren sollte, aber trotzdem immer wieder passiert. Die Folge: Reformstau und der Verlust der großen Perspektive.

Doch im Windschatten der Reformresistenz hängen sich immer klobigere bürokratische Klötze ans Bein des Systems: Bürokratien, deren einziger Sinn und Zweck es ist, ihre Bürokraten auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung in Brot und Arbeit zu halten. So hat eine Anfang 2012 veröffentlichte Studie der Unternehmensberatung A. T. Kearney ergeben, dass 23 Prozent der 176 Milliarden Euro Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung 2010 auf bürokratische Abläufe entfielen. Fast ein Viertel aller Gesamtausgaben. In der produzierenden Wirtschaft liegt dieser Anteil aber nur bei 6,1 Prozent.

Die Krankenkassen verursachen nicht nur bei sich selbst überflüssige Bürokratie, sondern in der gesamten Branche: bei Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäusern. Zu den offiziellen Verwaltungskosten von 9,5 Milliarden Euro kommen so weitere 18 Milliarden Euro hinzu. So müssen Krankenhausärzte 37 Prozent ihrer Arbeitszeit auf Verwaltungsaufgaben verschwenden. Auch die komplizierten Abrechnungsverfahren bei niedergelassenen Ärzten oder die Praxisgebühr sind reine Kostentreiber.

Durch schlankere Strukturen ließe sich der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich senken, schlussfolgerte die Studie in ihrer weltfremden und doch so sympathischen Naivität. Nach der Berechnung könnten rund 13 Milliarden Euro eingespart werden. Könnten… werden aber nicht. Auch in Zukunft nicht. Denn die Gesundheitsreform wird immer nur Stückwerk bleiben, und am Widerstand der Krankenkassen scheitern, die gerade ihre Pfründe, ihre Ressourcen und ihren bürokratischen Apparat gegen jede Reform mit Zähnen und Klauen verteidigen - so wie sie das schon seit vielen Jahren tun. Und da sie ihr Netzwerk an Einflussmöglichkeiten bis in die feinsten Verästelungen des politischen Apparats in jahrzehntelanger Kleinarbeit gespannt haben, droht ihnen von dort auch keinerlei Gefahr.

Wissenschaftliche Studien wie die von Kearney haben nur noch den Zweck, dem Publikum zu zeigen, was sein könnte, wenn wir eine funktionierende Demokratie hätten, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Die aber haben wir schon lange nicht mehr. Und auch aus diesen Gründen gibt es seit vielen Jahren eine wahre Schwemme von Studien aus den verschiedensten Bereichen der Politik, die akribisch zeigen, was verkehrt läuft und wie es richtig laufen könnte. Das Publikum empört sich kurz darüber, was alles schief läuft. Und dann gehen alle wieder zur Tagesordnung über…

In Deutschland gibt es heute eine besonders große Zahl von starken Vetogruppen

In Deutschland gibt es heute eine besonders große Zahl von starken Vetogruppen. Dadurch ist die Handlungsfähigkeit des politischen Systems extrem eingeschränkt. Das Nebeneinander starker Verbände und Unternehmen mit einer großen Zahl von Vetogruppen führt bei sinkenden Mehrheiten im Parlament zu einer Lähmung der politischen Entscheidungs- und Innovationsprozesse.

Für Politiker lohnt es sich nicht, sich überhaupt mit Reformen der bestehenden Verhältnisse zu befassen; denn das politische System der parlamentarischen Demokratie belohnt Reformen nicht. Politiker wollen gewählt werden und richten ihre Politik danach aus. Politische Parteien sind zu nichts anderem als dem Machtgewinn und dem Machterhalt da.

Die möglichen Gewinne von Reformen liegen in der Zukunft und sind "in ihrer Höhe und dem betroffenen Personenkreis nach ungewiss; die anfänglichen Verluste aus diesen Reformen sind jedoch meist genau bezifferbar, und der betroffene Personenkreis weiß genau, was für ihn auf dem Spiel steht." Deshalb ist von Politikern "systematisch praktizierte Weitsicht oder Mut" nicht zu erwarten.

Auf der anderen Seite sind die Reformgegner oft besser organisiert als die Befürworter, und daher ist die politisch wirksame Opposition gegen notwendige Reformen oft stärker als die Reformkräfte. Das zeigt sich bei den gescheiterten Bemühungen zum Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen, zur Gesundheits-, zur Steuerreform und zu den meisten anderen Reformen.

Wenn das politische System aber Reformen nicht belohnt, dann meiden die Politiker schon den Versuch. Das bedeutet aber auch: Der Reformstau ist etwas grundsätzlich anderes als ein Verkehrsstau. Der löst sich nach einer Weile auf, und dann fließt der Verkehr wieder wie zuvor. Der Reformstau indes löst sich nicht auf. Er ist chronisch; denn er ist ein Systemfehler.

Der Reformstau gehört zu den entwickelten Demokratien wie Skabies und die Krätzemilbe. Da kann man sich lange aufregen, über das Ausbleiben notwendiger Reformen schimpfen und leidenschaftliche Kommentare schreiben. Sie verpuffen im Nichts. Wenn das System Reformen nicht belohnt, werden Politiker sich daran erst gar nicht die Finger daran verbrennen. Und genau das tun sie denn ja auch nicht.

Dass so ziemlich alles, was demokratische Politiker anfassen, in wirtschaftlichem Murks und sozialem Chaos endet, demonstriert kein Wirtschaftszweig so krass wie die Hartz-IV-Industrie, von der viele noch gar nicht wissen, dass es diesen Industriezweig überhaupt gibt. Doch er blüht und gedeiht, während es den Hartz-IV-Empfängern eher immer schlechter geht.

Eigentlich soll ja mit Hilfe der Hartz-IV-Reform die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, doch tatsächlich werden dafür Milliardenbeträge sinnlos verpulvert. Wer sich die Einzelheiten anschaut, glaubt, er sei Zeuge einer besonders bizarren Variante des absurden Theaters. Aber er schaut nur dem nackten Grauen der bitteren Realität ins hässliche Gesicht.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand und sind ein Systemproblem der repräsentativen Demokratie: Wenn die Fraktionen im Parlament über Gesetzesprojekte beraten, spielen vorwiegend sachfremde Überlegungen eine zentrale Rolle, und ganz am Ende erst geht es vielleicht auch noch um die Lösung von Sachproblemen. Zentral sind Fragen wie

  • "Können wir mit unserem Plan die nächsten Wahlen gewinnen oder riskieren wir Verluste?"
  • "Wie wirkt sich das auf unser Image aus?"
  • "Wie können wir uns deutlich von unseren politischen Gegnern absetzen?"
  • "Was können wir gegen unseren Koalitionspartner durchsetzen?"
  • "Kann man die Überlegungen hinter diesem Plan überhaupt den Wählern ’rüberbringen?"
  • "Besteht Gefahr, dass wir mit dieser oder jener Maßnahme unseren politischen Gegnern in die Hände arbeiten?"
  • "Wie wirkt sich das Vorhaben auf die Arbeitslosenstatistik aus? Kriegen wir dadurch bessere Zahlen?"

Und ganz allgemein:

  1. "Nützt oder schadet uns das etwas?" (die Betonung liegt auf uns) Aber ganz sicher geht es so gut wie niemals um die Frage: "Ist das, was wir tun, für die Mehrheit der Bevölkerung nützlich?"

49 Milliarden Euro gaben der Bund und die Kommunen allein 2010 für Hartz-IV-Empfänger aus. Man könnte sich sagen: Prima, dass so gut und reichlich für die Armen und Bedürftigen gesorgt wird. Die haben es ja auch bitter nötig. Doch dann kommt der Schock: Weniger als die Hälfte dieses Geldes, nämlich gerade mal 24 Milliarden Euro, kommt überhaupt bei den Hartz-IV-Empfängern an. Den Rest, 25 Milliarden Euro, pumpen Bund und Kommunen in eine Branche, die mit den Arbeitslosen prächtig verdient.

Allein der Verwaltungsaufwand kostet den Bund 4,4 Milliarden Euro. Am Rande bemerkt: Um 24 Milliarden Euro unter die Leute zu bringen, sind Kosten von 4,4 Milliarden unverhältnismäßig hoch. Sie machen über 18 Prozent aus. Die Bürokratie arbeitet ineffizient und frisst einen viel zu großen Happen auf.

Hartz IV und die Nutznießer der sozialen Misere

Rund um Hartz IV haben sich nämlich alle möglichen Nutznießer der sozialen Misere in diesem Lande bequem breitgemacht: Fortbildungseinrichtungen, private Arbeitsvermittler, Jobcenters, Rechtsanwälte und Wohlfahrtsunternehmen. Es gibt Hartz-IV-Supermärkte, Hartz-IV-Kleiderkammern und Hartz-IV-Tafeln.

Hartz IV hält eine vor wirtschaftlicher Gesundheit schier aus den Nähten platzende Armutsindustrie am Leben, die auf jeden Fall mehr öffentliche Gelder einstreicht als die Hartz-IV-Empfänger selbst. Auf dem Korpus der Armen und sozial Geschwächten schwärt eine riesige Pestbeule. Und die Hartz-IV-Empfänger sind die unschuldigen Wirtstiere, mit deren Hilfe sich die Pest ausbreitet.

Je mehr Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, desto besser geht es dem Hartz-IV-Business. Klar, dass denen nichts wichtiger ist, als sich diese Einnahmequelle zu erhalten. Nach den Erfahrungen mit besonders hartnäckigen Bürokratien ist es nicht einmal abwegig zu vermuten, dass die Hartz-IV-Wirtschaft selbst noch weiter wachsen und gedeihen würde, nachdem der letzte Hartz-IV-Empfänger gestorben ist.

Zu den Ausgabeposten zählen auch virtuelle Supermärkte, die Langzeitarbeitslosen angeblich das geregelte Arbeiten im Einzelhandel beibringen. Menschen, die seit mehr als einem Jahr keinen festen Job haben, sollen sich auf eher spielerische Weise mit den Berufsmöglichkeiten in Ladengeschäften vertraut machen. Wie Kinder lernen Langzeitarbeitslose, im Kaufmannsladen mit Spielgeld einkaufen und verkaufen.

Abwechselnd spielen sie Kunden, Lageristen oder Kassierer. "Was darf’s denn sein?" - "Ich hätte gern ein Glas saure Gurken und eine Zitrone." - "Darf’s auch noch bisschen Wurst sein?" - "Nein, danke." - "Das macht dann zwei Euro dreißig." Das Gemüse, das sie abwechselnd kaufen und verkaufen, ist aus Gummi, der Käse aufblasbar, die Salami aus Papier, der Wein besteht aus gefärbtem Wasser. An der Kasse zahlen sie mit Spielgeld, ganz wie im richtigen Kinderzimmer. Welcher Hirnamputierte hat sich diesen niederträchtigen Schwachsinn ausgedacht?

Dahinter steht die Überlegung, so könne man ernsthaft Langzeitarbeitslose zurück in die menschliche Zivilisation holen. Ja, haben die denn bisher im Urwald gelebt? Arbeitslose sollen lernen, wie es in Supermärkten zugeht und was dort gearbeitet wird - ganz so als ob sie von einem fremden Stern kämen. Die virtuellen Kaufmannsläden verdienen mit dem hirnrissigen Quatsch ordentlich Geld; denn für jeden Kursteilnehmer zahlt die Bundesagentur für Arbeit 500 bis 800 Euro pro Monat - das sind pro Jahr mehrere hunderttausend Euro.

Hartz-IV sollte nach den ursprünglichen Plänen eigentlich auch die Sozialgerichte entlasten. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Die Reform bescherte den Gerichten eine wahre Prozesslawine. Allein das größte deutsche Sozialgericht in Berlin verzeichnete 2010 rund 32.000 neue Klagen gegen das Arbeitslosengeld II.

Davon profitieren am meisten die Rechtsanwälte. Die Hartz-IV-Empfänger stellen für sie eine munter sprudelnde Geldquelle dar. Pro Klage bekommen sie mehrere hundert Euro, die natürlich der Steuerzahler zahlt; denn Hartz-IV-Empfänger können zum Nulltarif klagen. Sie müssen nämlich keine Prozesskosten erstatten - und zwar völlig unabhängig davon, ob sie den Prozess gewinnen oder verlieren.

Eine sichere Einnahmequelle ist beispielsweise die Untätigkeitsklage, wenn eine Behörde mit der Arbeit nicht hinterherkommt. Eigentlich sollen Untätigkeitsklagen verhindern, dass Behörden Verfahren absichtlich verschleppen. Bei Hartz IV zieht sich die Vielzahl der Fälle allerdings dadurch in die Länge, dass die Behörden hoffnungslos überlastet sind. Also klagt man wegen Untätigkeit. Ein Anwalt verdient daran auf die Schnelle gut hundert Euro extra. Dem Hartz-IV-Empfänger bringt das dagegen in der Regel wenig oder gar nichts. Aber darauf kommt das ja auch gar nicht an.

Auch die mangelhafte Ausstattung der Arbeitsagenturen mit Computersoftware bringt den Anwälten stete Einnahmen. Das Gesetz schreibt vor, dass alle Zahlungen an Hartz-IV-Empfänger auf glatte Eurobeträge gerundet werden müssen. Doch die Software macht das häufig nicht ordentlich. Und so klagen Hartz-IV-Anwälte gegen alle ungeraden Beträge in den Bescheiden. Die Hartz-IV-Empfänger bekommen so vielleicht ein paar Cent mehr im Monat, die Juristen hingegen mehrere hundert Euro pro Klage. Der Steuerzahler zahlt.

Auch die privaten Arbeitsvermittler profitieren satt und haben sich zu einem florierenden Gewerbe entwickelt, dem es auf jeden Fall besser als den Arbeitssuchenden geht. Sie arbeiten auf Provisionsbasis. Gelingt es, einen Hartz-Empfänger an ein Unternehmen zu vermitteln, bekommt der Vermittler einen Gutschein über 2.500 Euro.

Dabei schien das zunächst eine gute Idee zu sein: Private Vermittler bringen Arbeitslose in Jobs, die Arbeitsagentur bezahlt sie dafür, durch einen Vermittlungsgutschein. Doch die Wirklichkeit sieht - wie so oft - völlig anders aus.

Die privat Vermittelten werden nach kurzer Zeit schon wieder entlassen. Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) bleiben Arbeitslose, die privat vermittelt wurden, zu nur 47 Prozent mindestens sechs Monate lang im vermittelten Job. Und das IAB sieht Mitnahmeeffekte bei Betrieben, die Stellen über private Vermittler mit Einlösung des Vermittlungsgutscheins vergeben, die sie sonst auch besetzt hätten.

Private Arbeitsvermittler und Unternehmer machen mit dem Vermittlungsgutschein trotzdem Kasse, teilweise auch illegal. Die privaten Arbeitsvermittler gehören zu den zwielichtigsten Erscheinungen im Hartz-IV-Business. Laut Statistik der Bundesagentur werden pro Jahr etwa 45.000 Gutscheine abgerechnet. Viele durch Scheinvermittlungen an Scheinfirmen.

In einem bekannt gewordenen Fall funktionierte das so: Eine Gruppe von Leuten betrieb neben ihrer Vermittlungsfirma auch eine angebliche Leiharbeitsfirma. Die Vermittlungsfirma vermittelte an die "Leiharbeitsfirma" und kassierte dafür eine Prämie von der Arbeitsagentur. Sobald das Geld da war, wurde den Betroffenen gekündigt. Und obwohl die die Behörden die Masche durchschauten, konnten sie nichts dagegen tun. Formal war alles in Ordnung. Die vier Männer hatten ihre Frauen zu Geschäftsführerinnen ernannt, um die Wechselbeziehung zwischen ihren Unternehmen zu verschleiern. Erst als die Bande begann, die Unterschriften von Langzeitarbeitslosen zu fälschen, konnte das kriminelle Treiben beendet werden.

Wer naiv ist, könnte glauben, die Politik würde der Branche auf die Finger klopfen. Doch das tut sie nicht. Sie hält unverdrossen weiter daran fest. Privatinitiative und so. Den Parteien der Regierungskoalition kommt das entgegen; denn die privaten Vermittler sind gut für die Statistik. Jeder Erwerbslose, den die privaten Vermittler unter ihre Fittiche nehmen, verschwindet aus den offiziellen Arbeitslosenzahlen.

Wohlgemerkt, nicht jeder, der erfolgreich vermittelt wird. Schon jeder, den der private Vermittler zu vermitteln versucht, auch wenn ihm das nicht gelingt. Der ist dann zwar so arbeitslos wie eh und je, aber laut Statistik ist er in Brot und Arbeit.

Nochmal ganz langsam zum Mitschreiben: Jemand, der als Kunde bei der Agentur für Arbeit registriert ist, gilt als arbeitslos und bekommt Arbeitslosengeld. Jemand, der bei einem privaten Arbeitsvermittler gemeldet ist, bekommt auch Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit, aber er ist nicht arbeitslos. In der Statistik kommt er nicht als Arbeitsloser vor.

Lügen mit Statistik ist eine hochamtliche Angelegenheit. Wenn sich ein Kabarettist einen solchen hanebüchenen Unsinn als Plot für einen Sketch ausgedacht hätte, würde jeder sagen: Das ist viel zu dick aufgetragen.

Man sagt der offiziellen Statistik nichts Übles nach, wenn man ihr bescheinigt, sie sei eine einzige Fälscherwerkstatt. Sie fälscht die offizielle Arbeitslosenstatistik. Und sie ist auch noch unvorstellbar plump und dumm dabei. Warum? Weil sie es kann. Weil sie sich gar keine Mühe mehr dabei geben muss, wenn sie Zahlen und Daten fälscht. Was die Bevölkerung oder gar die Betroffenen dazu sagen, ist ihr sowieso egal. Das interessiert die Politik schon lange nicht mehr.

Die einst allein für den guten Zweck gegründeten, fast tausend "Tafeln" in Deutschland, in denen ein paar ehrenamtliche Rentner altes Brot und dünne Suppen verteilten, haben sich dank Hartz IV zum Riesengeschäft entwickelt, das mit gutherziger Wohltätigkeit nur noch wenig zu tun hat. Das Prinzip ist bekannt: Die großen Supermärkte geben an die "Tafeln", was sie nicht mehr verkaufen können: Fleisch, Gemüse, Brot.

Mit Hartz IV wurde aus der karitativen Suppenküchen-Bewegung ein Fürsorgekonzern mit mehr als einer Million Stammkunden und einem Filialnetz, von dem viele Discounter nur träumen können. "Tafel" ist als Markenname sogar patentamtlich geschützt. Die Tafeln betreiben einen Fuhrpark mit 4.700 Fahrzeugen, die abholen, was sonst weggeworfen würde.

Bei den meisten Spendern steht nicht Mildtätigkeit, sondern Renditekalkül im Vordergrund. Durch ihre Spenden sparen die Händler Abfallgebühren in Millionenhöhe und können darüber hinaus auch noch jede abgegebene Ware als Spende von der Steuer absetzen. Die Berliner Tafel hat ausgerechnet, dass sie selbst im Jahr noch etwa 40.000 Euro zahlen muss, um Biomüll - Gemüse, das auf dem Weg zur Tafel welk geworden ist - zu entsorgen. Dabei werden längst nicht alle gespendeten Waren an Bedürftige weitergegeben. Selbst für welkes Gemüse stellen die Tafeln eine Spendenquittung aus, die dem Verkaufswert von frischer Ware entspricht.

Bei Vermietern sind Hartz-IV-Empfänger richtig beliebt. Pünktlich zum Monatsersten zahlt die Bundesagentur für Arbeit ihre Miete. Darauf ist Verlass. Im Idealfall unterschreibt der Bedürftige eine Abtretungserklärung. Dann kann der Vermieter sicher sein, dass das Amt ihm die Miete direkt aufs Konto überweist. So summieren sich die von der Arbeitsagentur gezahlten Mietkosten auf über eine Milliarde Euro.

Eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit fand, so werde eine Mietkostenspirale in Gang gesetzt. Hartz-IV-Empfänger treten in Konkurrenz zu Niedrigverdienern wie Studenten und Rentnern, die sich höhere Mieten nicht leisten können. Und eine vom Bundesbauministerium geförderte Studie kam zu dem niederschmetternden Resultat, Hartz IV habe "Potenziale für Miet- und Erlössteigerungen" eröffnet, "die häufig auch genutzt werden". Die Konkurrenzfähigkeit der Bezieher von Niedrigeinkommen gegenüber Langzeitarbeitslosen könne sich verschlechtern. Und so muss am Ende wieder der Staat einspringen, damit sich auch Geringverdiener eine Hartz-Wohnung leisten können - in Form von Wohngeld oder Hartz IV für Aufstocker. Es ist eine absurde Welt.

2009 legten die zuständigen Behörden in Berlin fest, dass einem alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger eine Monatsmiete von bis zu 378 Euro grundsätzlich erstattet werden sollte. Vorher hatte die Grenze bei 360 Euro gelegen. Die in der Stadt regierende Koalition aus SPD und Linkspartei rühmte sich einer sozialen Wohltat.

Tatsächlich stiegen auf geheimnisvolle Weise von einem auf den anderen Tag die Mieten, oft um genau den Betrag, der durch die neue Erstattungsgrenze möglich geworden war. Es kam wie so oft: Bei den wirklich Bedürftigen blieb nichts hängen. Der Geldsegen aus Steuermitteln kam anderen zugute.

So oder so brummt das Geschäft mit der Arbeitslosigkeit. Milliardenbeträge verschwinden für sinnlose Ein-Euro-Jobs und eine monströse Bürokratie. Während die Arbeitslosigkeit unter qualifizierten Beschäftigten im Konjunkturaufschwung stark zurückgeht, sinkt die Zahl der Hartz-IV-Empfänger kaum. Wer länger als zwölf Monate arbeitslos ist, den sortiert das System offenbar aus. Die Hartz-IV-Reform hat ihr wichtigstes Ziel verfehlt. Sie hat keine deutliche Verkürzung der Arbeitslosigkeitsperioden gebracht.

Langzeitarbeitslose - Augenwischerei und geschönte Zahlen

Arbeitslose durch niedrigere Sozialleistungen und Sanktionen, schneller wieder in Jobs zu bringen, war die Rechtfertigung für die Hartz-IV-Reform. Doch die Dauer von Erwerbslosigkeit hat sich auch nach der Reform nicht verändert.

In einer Untersuchung mit Hilfe von repräsentativen Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) verglichen Leipziger Wissenschaftler die Dauer von Arbeitslosigkeit vor und nach der Einführung von Hartz IV. Danach dauerte die Erwerbslosigkeit im alten Arbeitslosen- und Sozialhilfesystem durchschnittlich 12 Monate. Nach einem Jahr hatten 49 Prozent der Arbeitslosen wieder einen Job oder standen aus anderen Gründen - Rente, Aus- und Weiterbildung - dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. In den Folgejahren sank die Arbeitslosigkeit noch einmal um 20 und um 11 Prozentpunkte. Nach vier Jahren waren noch 13 Prozent arbeitslos.

So ähnlich fallen die Zahlen für die Zeit nach der Hartz-IV-Reform aus. Arbeitslosigkeit dauerte im Mittel 13 statt 12 Monate. Nach einem Jahr war für 50 Prozent der ALG-II-Bezieher die Arbeitslosigkeit vorbei. In den Jahren danach sank die Erwerbslosigkeit noch einmal um 20 beziehungsweise 10 Prozentpunkte. Nach vier Jahren waren 16 Prozent weiterhin arbeitslos.

Das Fazit der Wissenschaftler: Bereits die Diagnose für die Hartz-Reform war grundfalsch. Armut und Bezug von Sozialhilfe sind überhaupt kein Langzeitphänomen. Die Verweildauer im Transferleistungsbezug war vor und ist nach der Hartz-Reform "überwiegend relativ kurz".

Das Problem, um das es der Hartz-Reform zentral ging, existierte überhaupt nicht oder es ist nicht gelungen, die Arbeitslosigkeitsdauer weiter zu reduzieren. Stattdessen verweisen sie auf die Folgekosten der Reform: die Zunahme von sozialer Ungleichheit und Armut trotz Arbeit. Wenn aber dadurch gegen "gesellschaftlich breit geteilte Gerechtigkeitsvorstellungen" verstoßen worden sei, stehe den Kosten der Reform kein Nutzen gegenüber.

Um die Sparpläne der Bundesregierung einzuhalten, kürzen die Jobcenter ausgerechnet bei den halbwegs erfolgreichen Förderinstrumenten, etwa bei der Weiterbildung. Dafür fließt sehr viel mehr Geld in Maßnahmen, die den Betroffenen wenig bringen, aber viele Arbeitslose vorübergehend aus der Statistik verschwinden lassen, beispielsweise die "AktivCenter".

Theoretisch erhalten die Teilnehmer in Aktivcentern die Gelegenheit, Handlungskompetenzen aufzubauen, die eine Beschäftigungsaufnahme oder Qualifizierung erleichtern sollen. In der Praxis werden sie nach übereinstimmenden Berichten von Teilnehmern mit sinnlosen Tätigkeiten gelangweilt, damit sie über einen längeren Zeitraum nicht in der Arbeitslosenstatistik erscheinen.

Wiederum geht es - wie so oft - um Augenwischerei und geschönte Zahlen. Und das ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit: Für wirklich Bedürftige ist wenig Geld da, dafür aber umso mehr für das Fälschen von Statistiken, mit denen die Politik bella figura zu machen glaubt.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde für eine Menge für Langzeitarbeitslose getan. Insgesamt 6,6 Milliarden Euro gab der Bund 2010 aus, um Hartz-IV-Empfänger fortzubilden. Es gibt den "Kommunal-Kombi" und die "Mobilitätsförderung", die "Bürgerarbeit" und die "Arbeitsgelegenheit", die "Eignungsfeststellung" und das "Einstiegsgeld". Doch Fachleute wie Jens Regg, Geschäftsführer bei der Bundesagentur für Arbeit in der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, konstatieren ernüchtert: "Wir haben zu 80 Prozent Blödsinn finanziert."2

Auch das System der Ein-Euro-Jobs ist längst aus dem Ruder gelaufen. Ursprünglich waren die dafür gedacht, Langzeitarbeitslose unter "weicheren Umständen" wieder an den Rhythmus des Arbeitstags und die Erwartungen des Arbeitsmarkts an ein gewisses Maß an Arbeitsdisziplin gewöhnen und so die Verwertbarkeit der Arbeitskräfte für Arbeitgeber wieder herstellen. So sollten die Betroffenen Personen für eine Einstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder attraktiver gemacht werden.

Doch heute gibt es rund 320.000 Ein-Euro-Jobs. Auch für die gilt, dass sie vorübergehend die amtliche Statistik aufbessern, weil sie nicht als arbeitslos geführt werden. Doch nach ein paar Monaten stehen die meisten wieder beim Jobcenter. Und auch hier gilt das eherne Prinzip der Problemlösung in entwickelten Demokratien: Der Schein ist wichtiger als das Sein, die Kosmetik wichtiger als die dahinter stehende Wirklichkeit. Das politische Handeln ist Teil des Showgeschäfts.

Die Bundesagentur für Arbeit konstatierte selbst, dass 2010 nur noch 14,3 Prozent der Ein-Euro-Jobber hinterher in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis unterkamen. 2009 hatte die Eingliederungsquote noch bei 16,8 Prozent gelegen. Der Bundesrechnungshof in einem Prüfbericht: "Messbare Integrationsfortschritte waren nicht erkennbar."

Als Hartz IV in Kraft trat, sollte es den Fürsorgestaat schlanker und effizienter machen. Doch das Gegenteil trat ein. Die Bundesagentur für Arbeit ist heute Europas größte Behörde mit fast 120.000 Beschäftigten.

Man sollte die grundsätzliche Reformunfähigkeit der Politik im Spätstadium der Demokratie nicht unterschätzen. Da steht nicht irgendein entlegenes und relativ bedeutungsloses Sachgebiet zur Diskussion, bei dem es ganz nett wäre, wenn sich daran ein wenig ändern ließe. Zur Debatte steht die Zukunftsfähigkeit dieses Landes, und die ist schon seit Jahren extrem gefährdet.

Doch im Endstadium der repräsentativen Demokratien hat sich das Klima des Umgangs der Politiker mit den Steuerzahlern verändert. Die Politiker haben die öffentlichen Hände in einem so dramatischen Maße zu Grunde gewirtschaftet, dass die breite Bevölkerung sie nur noch als anzapfbare Geldquelle interessiert und nicht etwa als Menschen, deren gemeines Wohl sie mehren sollten. So rotten sich die Politiker immer entschlossener gegen die eigene Bevölkerung zusammen.