Zur Geschichte einer ehemaligen Zukunftstechnologie, die noch nicht abgehakt ist

Seite 2: Neue Proteinquellen im Nationalsozialismus: Die Eiweißlücke mit Holzwurst schließen

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Auch in Deutschland hatte man versucht, die Holzzucker der Sulfitablaugen aus der Papier- und Zellstoffherstellung zur Nahrungsmittelgewinnung einzusetzen - 40 Jahre zuvor, während der Autarkiebestrebungen des Dritten Reichs, in deren Rahmen der Schließung der Eiweißlücke ein besonderes Augenmerk zukam.

Hier griff man auf den Schimmelpilz Geotrichum candidum zurück. Das Endprodukt - die Biosyn-Vegetabil-Wurst - sollte der Versorgung von Truppenteilen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen dienen. Produziert wurde bei der Zellwolle Lenzing AG in Oberösterreich und im ebenfalls zum Thüringischen Zellwolle-Ring gehörenden Werk Wildshausen bei Arnsberg in Westfalen.

Nachdem Mäuse bei Tierversuchen mit dem Produkt aus Lenzing verendet waren, wurde bereits im Handel befindliche Ware beschlagnahmt. Zum Zwecke der Abwasserreinigung hielt man zwar am Verfahren fest, das Produkt wurde von nun an jedoch nur noch in das KZ Mauthausen geliefert.

Aus Wildshausen wurden keine Qualitätsprobleme gemeldet - von hier aus ging das Einzellerprotein zur Würzung und Konservierung in Werksküchen. Die "Wildshauser Holzwurst" blieb bis in die Nachkriegszeit hinein populär.

Ein vergleichbares Produkt war die Phrix-Hefe, die am Ende des Kriegs zur Ernährung von KZ-Häftlingen in Neuengamme verwendet wurde.

Die Forschung an der Nutzung von Hefe zur Überbrückung von Krisenzeiten hatte da schon eine kleine Tradition in Deutschland: Der Agrarchemiker und Gärungtechnologe Max Delbrück hatte 1910 vorgeschlagen, Hefe aus Brauereiabfällen als eiweißreichen Fleischersatz zu nutzen. Er rief am Berliner Institut für Gärungsforschung eine Abteilung für Hefeverwertung ins Leben, die im Ersten Weltkrieg auf die Erzeugung von Tierfutter auf Zuckerrübenmelasse-Substraten angesetzt wurde. In den Tornistern der Soldaten des verfeindeten britischen Empire hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein marktreifes Produkt für die menschliche Ernährung seinen Platz gefunden: der Hefeextrakt Marmite.

Pruteen: Bakterien verarbeiten Methanol zu Schweinefutter

Aufgrund der Verfügbarkeit von Soja-Proteinen war das Interesse an Einzellerproteinen in den Vereinigten Staaten begrenzt. Hier gab es eine Fabrik in Minnesota, die von Amoco betrieben wurde. Das Produkt: Torutein, Eiweiß aus Candida utilis-Hefe, die Eingang in Babynahrung, Fleischersatz oder Bratensaucen fand. Das Substrat: Ethanol, das aus Erdgas hergestellt wurde. 1977 wurden hier 15 Millionen Pfund Torutein produziert.

Ende der 1970er Jahre ging im nordostenglischen Billingham eine Anlage von Imperial Chemical Industries (ICI) in Betrieb, die ein Eiweißkonzentrat unter dem Handelsnamen Pruteen herstellte, Jahreskapazität: 50.000 Tonnen. Aus Nordsee-Erdgas hergestelltes Methanol wurde im damals größten Fermentationsbehälter der Welt (65 Meter Höhe, elf Meter Durchmesser) mit dem Bakterium Methylophilus methylotrophus umgesetzt, Ertrag nach zwei Tagen: ein halbes Kilogramm Biomasse je Kilogramm Methanol, wobei das wasserlösliche Methanol im Kontrast zu den Alkanen die Homogenisierung der Reaktionsmischung erleichterte. Pruteen hatte einen Proteingehalt von 70 % und wurde als Schweinefutter gehandelt. Doch es konnte sich nicht im Wettbewerb mit billigerem Tierfutter behaupten, die Produktion wurde aufgegeben.

Auch in der BRD wurde an Eiweißen aus Methanol und Hefe experimentiert, in einer Testanlage von Hoechst, die 1978 in Betrieb ging und jährlich 1.000 Tonnen Eiweiß produzieren sollte.

Heute gilt die direkte Verwandlung von Methan in Tierfutter als ein möglicherweise erfolgversprechender Ansatz. Das dänische Unternehmen UniBio A/S und die US-amerikanische Calysta nutzten in ihren Fermentationstechnologien methanotrophe Bakterien, die das direkt aus Methan bewerkstelligen, ohne den Umweg über Methanol beschreiten zu müssen. Die Produkte beider Firmen sind als Tierfutter zugelassen. Methan gilt als besonders interessantes Substrat, da es in großen Mengen in der industriellen Tierhaltung und in der Biogas-Herstellung anfällt.

Quorn

Die beim Pruteen-Verfahren gewonnenen technischen Erfahrungen waren nicht umsonst gemacht, sie fanden Eingang in ein Projekt, das Pilzbiomasse für die menschliche Ernährung zugänglich machen sollte. ICI hatte unter anderem einen ursprünglich für das Pruteen-Projekt gedachten Fermenter beigesteuert. Im Rahmen des Joint Ventures Marlow Foods wurde ein Verfahren entwickelt, in dem das Pilzmyzel des Schlauchpilzes Fusarium venenatum auf einem mit Stickstoff, Phosphaten und Mineralien angereicherten Stärkesubstrat aus Kartoffeln, Yams, Maniok und ähnlichem zum Wachsen gebracht wird. Zur Ernte werden die Pilze abfiltriert. Das Rohprodukt wird mit Fett und Geschmacksstoffen lebensmittelähnlicher getrimmt. Es kann so als Texturbasis für Analogfleisch verwendet werden.

Ab 1993 zunächst nur in Großbritannien erhältlich, ist Quorn seit 2012 auch in Deutschland auf dem Markt. Nach mehreren Besitzerwechseln ging das Unternehmen 2015 für 831 Millionen US-Dollar an die Monde Nissin Corporation, einen philippinischen Fertignudelhersteller. Quorn schickt sich heute an, ein Milliardengeschäft zu werden.