Zurück in die Steinzeit?
Impressionen zum neuen deutschen Flaggenwahn
Seit Gründung der Bundesrepublik hat es nie eine derartige Inflation von Deutschlandfahnen und patriotischen Souvenirs gegeben wie in diesen Tagen. Das Phänomen entspringt mitnichten einem spontan erblühten Nationalstolz. Ganz ungebeten hat man als Weltbürger zuvor schon die superteure Kampagne „Du bist Deutschland!“ ertragen müssen. Sogar das tägliche Brot beim Bäcker Kamps wurde darin eingetütet. Mit aufdringlicher PR wird ein neuer „Volksgeist“ kreiert, und hernach heißt es: „Wir sind wieder in der Normalität angekommen!“ Lebensmitteldiscounter, Drogerieketten und Billigtextilhersteller überfluten den Markt mit Schwarz-Rot-Gold. Wer sich diesem Angebot gegenüber nicht als Nachfrager erweist, ist ein Spielverderber oder Schlimmeres.
Sie vermuten vielleicht, dass der Schreiber dieser Zeilen ein Fußballmuffel ist. „Fußball dir leb ich, Fußball dir sterb’ ich!“ Das war der Kommentar meines Vaters, wenn vier meiner Brüder sonntags zum Sportplatz statt zur Andacht in der Kirche zogen. Als unsportlicher Zwillingsbruder eines lokalen Torschützenkönigs hätte ich auf den Ball vielleicht neidisch sein sollen. In Wirklichkeit liebte ich die Fußballübertragungen des Fernsehens. Ich guckte nicht auf die Mattscheibe, sondern auf die Auswirkungen der Adrenalinexplosionen bei meinen Brüdern: Kontrollverlust total. Das machte mir Samstag für Samstag einen Heidenspaß. Aber meine Brüder benutzen keine Nationalfahnen als Fetische. Der örtliche Ballspiel-Club, auf dessen Spielfeld es keine superreichen Profis gibt und in dem sich seit Jahren Menschen aus aller Herren Länder unbezahlt vergnügen, ist ihnen wichtiger.
Der Verein heißt BC Eslohe und ist 1918 maßgeblich von zwei Juden im katholischen Dorf mitbegründet worden.1 Diese zwei Söhne Israels gehörten auch zu den besten Spielern auf dem Platz. Sie hießen Robert und Julius Goldschmidt. Anfang Februar 1935 war der Ballspiel-Club sogar dem antisemitischen Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“ (Nr. 9) eine Schlagzeile Wert: Der „artvergessene“, „Deutsche Sportverein Eslohe legte einen Riesenkranz auf dem Grabe des Juden Goldschmidt nieder.“ Die Esloher Kicker hatten sich trotz Einschüchterungen und trotz anwesender Spitzelfotografen nicht davon abhalten lassen, am Grab ihres Mitbegründers und ehemaligen Vereinsvorsitzenden Abschied zu nehmen.
Robert Goldschmidt hatte sich wenige Tage zuvor aus Verzweiflung über anhaltende Nazirepressionen das Leben genommen. Als Lokalhistoriker muss ich sagen: Die Fußballer bestritten in den 1930er Jahren so ziemlich das erfreulichste Kapitel der Dorfgeschichte. Über viele bekannte Einzelheiten, die ansonsten das kollektive Verhalten auszeichneten, bewahrten die Alten bei meinen Hausbefragungen lieber Stillschweigen.
Vor deutschen Dichtern und Denkern müssen die Flaggenzonen polizeilich beschützt werden
Der neue Flaggenwahn sieben Jahrzehnte später trifft auf eine Gesellschaft, die seit Jahren zunehmend Probleme mit Neonazis und faschistischer Sozialpropaganda zugunsten „deutscher Menschen“ hat. Die Patriotismus-PR könnte weit reichende Folgeschäden hinterlassen. Indessen sind diejenigen, die im Gemeinwesen Verantwortung tragen, während der WM mit anderen Fragen beschäftigt.
Am 3. Juni war ich Teilnehmer einer antifaschistischen Demonstration gegen den Neonaziaufmarsch „Bombenstimmung in Düsseldorf“. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so respektlos von Polizeibeamten angeredet worden wie an diesem Tag. Es scheint auch neue Mode zu sein, Bürger bei politischen Versammlungen grundlos zu schubsen oder zu stoßen und Demonstranten auf bloßen Verdacht hin brutal zu Boden zu zwingen. Die uniformierten Mitmenschen schienen mich als Antinazi-Demonstranten der „falschen Seite“ des Tages zuzurechnen. Einen Großteil meines Demonstrationsabschnittes hatten sie bereits eingekesselt, um den gleichzeitigen Aufmarsch von Rassisten und Nationalisten vor Blockaden zu schützen. Der weitgehend monopolisierten Lokalpresse entnahm ich dann am nächsten Tag, dass ich als Mitglied einer beteiligten Gruppe christlicher Pazifisten gar nicht dabei gewesen sein konnte. Den Berichten nach zu urteilen hatte es nämlich nur autonome Krawallmacher und Straftäter am Ort gegeben. Beim Kauf der entsprechenden Zeitungen winkten mir auf der Straße wieder viele „deutsche Hände“ zu: aus Plastik, aufgeblasen, dreifarbig.
Am 13. Juni nun folgte in Düsseldorf das nächste Flaggen-Ereignis: Ein feierlicher Zapfenstreich der Bundeswehr im Benrather Schloß mit Soldatengleichschritt, Marschmusik, nächtlichen Fackeln und religiösen Ritualanteilen, die auf Befehl hin auch von nicht-religiösen Soldaten ausgeführt werden müssen. Diesmal war ich selbst Anmelder und Versammlungsleiter eines Gegenprotestes, der im Eilverfahren auch polizeilich genehmigt wurde. Das Motto: „Keine neuen Militärdoktrinen!“ Das mitgeteilte Versammlungskonzept samt Protestformen war an Urteilen deutscher Verwaltungsgerichte ausgerichtet und entsprach dem, was die Polizei am 21.9.2005 anlässlich des großen Gelöbnisses vor dem Kölner Dom der Friedensbewegung ohne Einschränkung zugestanden hatte.
Nach freundlichster Zusammenarbeit und noch vor Beginn der eigentlichen Auftaktkundgebung vermehrte sich plötzlich am Benrather Bahnhof auf wunderbare Weise das ohnehin schon äußerst stattliche Polizeiaufgebot und kreiste die 150 Versammlungsteilnehmer ein. Ohne Personalienaufnahme durfte niemand den Polizeikessel verlassen. Etwa 100 verweigerten sich dieser versuchten Kriminalisierung, für die es keinerlei Rechtsgrundlage gab. Polizeikameras waren zur Einschüchterung auf die Eingekesselten gerichtet. Bis zum zeitlichen Ende des weiter gelegenen Zapfenstreiches: kein Recht auf Bewegungsfreiheit ohne unrechtmäßige Personendatenerfassung, kein Trinkwasser, kein Toilettengang und in der letzten Stunde auch kein Pressekontakt der Versammlungsleitung ohne die Gefahr, nicht wieder zurück zum Versammlungsplatz zu dürfen. Eine der polizeilichen „Ermessensbegründungen“ für die Verhinderung eines Demonstrationszuges, einer Zwischenkundgebung vor Düsseldorfer Publikum und einer abschließenden Protestbekundung nahe am Militärritual bezog sich auf unsere Fußball-Tröten aus Plastik. Davon gibt es in diesen Tagen viele auf der Straße.
Der Ertrag der polizeilichen Freiheitsberaubung bis etwa 23.30 Uhr: Die Benrather hörten nichts von Informationen über den Kongoeinsatz und neue deutsche Militärdoktrinen nebst gewünschter Grundgesetzänderung.2 Sie konnten den ersatzweise im Polizeikessel vorgetragenen Texten deutscher Dichter und Denker – wie Wilhelm Hauff, Bertolt Brecht, Wolfgang Borchert und Albert Einstein – nicht lauschen. Sie sahen keine Transparente wie „Deutschland will wieder Kriege führen“ oder „KriegsgräberVorsorge“.
Ministerpräsident Rüttgers (CDU) und Oberbürgermeister Erwin (CDU) konnten derweil störungsfrei der soldatischen Feier im Dunkeln ihre Ehrerbietung bezeugen. Im Gegensatz zu den Bürgerrechten Andersdenkender war dieses Staatsereignis ja „hoheitlich“. Gegen die eklatante Missachtung gleich mehrer Grundrechte erstatten eine Anwältin, ein evangelischer Pfarrer, der VVN-Sprecher und weitere Teilnehmer eine Strafanzeige. Da ja auch der offizielle Polizeibericht die vollständige Gewaltfreiheit der politischen Versammlung bestätigt, bleibt abzuwarten, welche Rechtfertigungen der verantwortliche Einsatzleiter im Düsseldorfer Polizeipräsidium für den eigenwilligen Umgang mit Verfassungsrechten vorzubringen hat. Dass es sich um eine politische Polizeientscheidung handelt, wird er vermutlich nicht sagen.
Meine Empfehlung: „Sorgen Sie sich um Ihre Bürgerrechte in beflaggten Zonen und in beflaggten Zeiten!“ Patriotismus ist mit Wirtschaftsliberalismus stets sehr kompatibel gewesen. Dem liberalen und rechtsstaatlichen Bürgersinn ist er noch nie gut bekommen.
Mit neuer Unschuld
Immerhin sind „wir“ wieder wer, jeder ganz ungefragt dazu gehörend. Wer will, ist sogar Papst. Wenn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sich trotzdem in diesen Tagen gegen die allgegenwärtige Ausbreitung der Nationalfarben ausspricht, wittern Stimmen aus Politik und Fußballbund Böses. Vielleicht sollte man einen Bundestagsausschuss für „undeutsche Umtriebe“ installieren? Zu prüfen wäre auch, ob Artikel 26 und andere Friedensartikel des Grundgesetzes nicht Untersuchungsgegenstand eines solchen Ausschusses werden müssten, da sie unseren „Nationalinteressen“ nicht dienlich sind.
Ganz originell wären solche Überlegungen allerdings nicht. Der 1917 ermordete US-amerikanische Arbeiterführer Frank Little wurde einmal 30 Tage inhaftiert, weil er an einer Straßenecke aus der Unabhängigkeitserklärung vorgelesen hatte.3 US-Präsident Truman sah sich 1951 mit einer tragischen Folge der staatlichen Gesinnungsschnüffelei konfrontiert: In Madison, Wisconsin, hatten 111 von 112 Leuten die erbetene Unterschrift unter eine Petition verweigert, die ausschließlich Zitate aus der Unabhängigkeitserklärung und der „Bill of Rights“ enthielt. Diese Menschen hatten Angst gehabt, nach einer Unterzeichnung als subversiv, unamerikanisch oder kommunistisch zu gelten.
Gibt es in Deutschland heute vielleicht so etwas wie einen Fahrplan für neue „gesunde Volksgesinnung“? In seinem Buch „Hitler war’s“ hat Hannes Heer (2005) die Reduktion der inzwischen vorherrschenden deutschen „Geschichtserinnerung“ auf das Bild des im Führer Adolf Hitler personifizierten Bösen dargestellt. Im Kinofilm „Der Untergang“ (BRD 2004) von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel, dem Prototyp der „neuen deutschen Tragik“, erfahren die Zuschauer schon nichts mehr über Funktionen und Taten der im Führerbunker versammelten Verbrecherprominenz (Geburt einer Nation in der Illusionsmaschine). Wim Wenders empfand das Werk als Darstellung eines sehr „menschlichen“ Hitlers und ergänzte: „In dem Film kommen auch plötzlich so viele gute Deutsche vor, dass mir noch ganz schwindlig ist.“
„Napola – Elite für den Führer“ (BRD 2004) lässt dann die jungen Kinozuschauer wissen, dass ihre Vorfahren in Nazi-Eliteschulen im Großen und Ganzen vielleicht doch gute Jungen waren. Das zweiteilige Fernsehspektakel „Dresden“ (BRD/GB 2005) erfüllt perfekt alle Kriterien für den von Heer analysierten Revisionismus: Die Deutschen waren Opfer, Opfer von Hitler und Opfer der Alliierten! (Herz-Schmerz-Kriegsdrama)
Jüngste Äußerungen des deutschen Papstes, der laut Bild-Zeitung unser großes „Wir“ verkörpert, passen sich durchaus der vorherrschenden Geschichtsdeutung an. Während sein Vorgänger die Geschichte des christlichen Antisemitismus und die Mitschuld der Kirche klar benannt hat, macht Joseph Ratzinger als Deutscher in Polen eine Einschränkung hinsichtlich der Bußfertigkeit. Man müsse sich „vor dem Hochmut hüten, sich arrogant zum Richter vorangegangener Generationen zu machen, die in anderen Zeiten und unter anderen Umständen gelebt haben.“ In der Papst-Ansprache im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 28. Mai 2006 wird die Unvergleichbarkeit der am Ort begangenen Verbrechen betont. Doch dann folgt die Verführungsthese:
Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes, [...] als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so dass unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht werden konnte.
Der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, bewertet diese Interpretation mit einer höflichen Wendung als „problematisch“. Beklagt wurde ja vom Papst bezogen auf Verbrechen, die sehr viele Menschen getan und mächtige Institutionen ermöglicht haben, merkwürdigerweise vor allem ein „Schweigen Gottes“.
Inzwischen benutzt auch der ehemalige Antimilitarist Jürgen Trittin das dem NATO-Vokabular entlehnte Doppelgespann „Werte und deutsche Interessen“. Er möchte damit die „Grünen“ mit Blick auf unterschiedliche Parteikonstellationen regierungsfähig machen. Der Kampagne „Du bist Deutschland!“ folgten in diesem Jahr Schritt für Schritt Tabubrüche von Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU). Am liebsten wäre ihm eine unmissverständliche Verfassungsänderung. Dann lässt er die Öffentlichkeit wissen, nationale Interessen Deutschlands müssten die Militärdoktrin bestimmen: „freie Handelswege & Märkte“, Rohstoffversorgung, Energiesicherung und eine – vorsorgliche – Abwehr von Flüchtlingen aus armen Ländern. Das alles durch Auslandseinsätze der Bundeswehr?
Kein Mensch von Rang und Namen im Land sagt, dass Vorstellungen dieser Art im Kontext von Militärplanungen schlichtweg verfassungs- und völkerrechtswidrig sind. Die Debatte, von den Medien ohnehin kaum geführt und von der Politik zur Erprobung des gesellschaftlichen Protestpotentials nur angerissen, wird während der beflaggten Weltmeisterschaft erstmal wieder ganz zum Ruhen gebracht. Danach ist die „öffentliche Meinung“ vielleicht freundlicher gesonnen. Man könnte unter dem Vorzeichen eines neu erwachten Patriotismus ein offizielles Regierungsdokument verabschieden, das den besagten Vorschlägen irgendwie eine Aura der Legalität verleiht.
Deutsche Leitkultur und christlicher Internationalismus
In Düsseldorf nun, wo ich die Schauplätze der neuen Flaggenkrankheit verfolge und erleide, hängen derzeit auch türkische Obsthändler oder marokkanische Grills ganze Bündel von Deutschlandfahnen vor ihre Ladentüren. Die Ladeninhaber glauben nicht ohne Grund, das werde von ihnen erwartet. Schließlich haben wir ja eine deutsche und christliche Leitkultur oder sollen eine solche zumindest in absehbarer Zeit bekommen. Als katholischer Theologe kann ich es mir nicht verkneifen, etwas Nachhilfe in christlicher Kirchengeschichte zu erteilen.
Unter zielsicherer Berufung auf die Prophetenbücher der hebräischen Bibel entwerfen die Theologen der ersten Jahrhunderte – als Alternative zur römischen Weltkriegsordnung – einen kompromisslosen Internationalismus. Justin (gestorben um 165) sagt von den Christen: „Wir alle haben auf der weiten Erde unsere Kriegswaffen umgetauscht [...], die Lanzen in Ackergeräte.“ Irenäus von Lyon (gestorben um 202) distanziert sich strikt von „militärischen Würden“ und der „unersättlichen Gier, in ferne Länder zu segeln“.
Tertullian (gestorben nach 220) hält einen menschlichen Fahneneid auf den weltlichen Herrscher für strikt unvereinbar mit dem Siegel der Getauften und glaubt im Übrigen an einen unblutigen Umsturz des römischen Imperiums:
Kein Volk wird mehr gegen das andere zum Schwert greifen, und sie werden das Kriegführen nicht mehr lernen.
Jesaja 2,3f.
Gegen Ende des 2. Jahrhunderts schreibt ein unbekannter Christ an einen gewissen Diognetos über jene, die „bei Gott eingebürgert“ sind und nicht in den Räuberstaaten der Erde:
Sie wohnen im eigenen Vaterland, jedoch nur wie Beisassen, sie haben an allem Anteil wie Bürger, und erdulden doch alles wie Fremdlinge. Jegliche Fremde ist ihnen Heimat, und jegliche Heimat Fremde.
Cyprian, Bischof von Karthago (gestorben 258), meinte bereits früh nach seiner Bekehrung:
Es trieft die ganze Erde von gegenseitigem Blutvergießen; und begeht der Einzelne einen Mord, so ist es ein Verbrechen; Tapferkeit aber nennt man es, wenn das Morden im Namen des Staates geschieht. Nicht Unschuld ist der Grund, der dem Frevel Straflosigkeit sichert, sondern die Größe der Grausamkeit.
Der christliche Schriftsteller Laktanz (ca. 250 – 320) ist schließlich zu seiner Zeit der scharfsinnigste Kritiker einer Militärdoktrin zur nationalen Interessenssicherung:
Was sind die „Vorteile des Vaterlandes“ anderes als die Nachteile eines zweiten Staates oder Volkes, das heißt das Gebiet auszudehnen, indem man es anderen gewaltsam entreißt, das Reich zu mehren, die Staatseinkünfte zu vergrößern? Alles dieses sind ja nicht Tugenden, sondern es ist die Vernichtung von Tugenden. Vor allem nämlich wird die Verbundenheit der menschlichen Gesellschaft beseitigt, es wird beseitigt die Redlichkeit, die Achtung vor fremdem Gut, schließlich die Gerechtigkeit selbst [...] Denn wie könnte gerecht sein, wer schadet, wer hasst, wer raubt, wer tötet? Das alles aber tun die, welche ihrem Vaterlande zu nützen streben. [...] Überall, wo die Waffen sich Geltung verschafft haben, ist die Gerechtigkeit ausgelöscht und verbannt.
Erst sehr viel später wird man es fertig bringen, die Vaterlandsliebe als „christliche“ Tugend zu verherrlichen und im Anschluss an Thomas von Aquin eine gleichsam natürliche Pflicht zu behaupten, dem eigenen nationalen „Volksgenossen“ eher beizustehen als einem Fremden. Durch derlei Umkehrungen fühlte sich dann 1935 ein Erzbischof Conrad Gröber, ein Verehrer des Führers Adolf Hitler, in seinem germanischen Wahn bestätigt.4
Im 3. Jahrhundert schrieb der christliche Dichter Minucius Felix: „Wir unterscheiden Stämme und Nationen; aber für Gott ist diese ganze Welt ein Haus.“ Ein den Anfängen entsprechendes Leitmodell für „christliche Kultur“ ist heute die Weltökumene. Man trifft sich, berät und entscheidet jenseits aller kontinentalen oder nationalen Grenzen. Auf weltweiten Tagungen dieser ganz anders gestalteten Globalisierung müssen es sich Christen aus Deutschland auch gefallen lassen, dass ein Christ aus den armen Erdteilen ihr deutsches Herkunftsland oder Europa zur Seite der „Täter“ auf dem Planeten rechnet.
Die Argumente der Steinzeitmenschen waren besser
Entwicklungsgeschichtlich geht der psychische Gruppenwahn, der sich gelenkt auch im Fußballstadion oder in den Anbetungsriten vor Flaggen austobt, wohl auf die rivalisierenden Menschengruppen der Steinzeit zurück. Aber die Argumente der Steinzeitmenschen waren besser als die des modernen Nationalismus. Es ging ihnen ums nackte Überleben und um etwas Essbares zwischen den Zähnen. Außerdem verhielt man sich innerhalb der Steinzeitgruppe auf eine sozialverträgliche und fürsorgliche Weise, was im neoliberalen Zeitalter ja wohl kaum noch in einem Staatengebilde und schon gar nicht bei den so genannten „Eliten“ der Fall ist. Und das Wichtigste: Die Steinzeit kannte keine Massenvernichtungstechnologie, insbesondere keine Atombombe.
Mein persönliches Urteil über Nationalfahnen lässt sich mit einem Wort des chinesischen Weisen Lao Tse (300 v. Chr.) ausdrücken: „Farbenpracht blendet das Auge.“ Ausgesprochen treffend erscheint mir ebenso eine Erkenntnis von Elias Canetti: „Flaggen sind sichtbar gemachter Wind.“ Ich schließe mich außerdem einem Bekenntnis an, das im Kriegsfilm „The Sand Pebbles“ (1966) von Robert Wise zu hören ist: „I hate all flags! It’s too late in the world for flags!“
Trotz dieser ausgesprochenen Nationalflaggenverachtung habe ich an meinem Balkon vor drei Jahren folgendes Experiment gestartet: Auf der linken Seite ist die Fahne der Palästinenser aufgemalt und auf der rechten die von Israel. Viele muslimische Nachbarn in der Straße hätten lieber nur die linke Hälfte. Mein jüdischer Freund David fand es hingegen zunächst überflüssig, die Wand auch mit arabischen Farben zu verzieren. Passanten, die erstmalig am Haus vorbeikommen, sind verwirrt. Amüsiert sehe ich, wie sie den Kopf abwechselnd nach links und rechts und wieder umgekehrt wenden. Wie der Hund in einem berühmten, ausweglosen Entscheidungsexperiment finden sie keine Lösung. Ich selbst hatte eine zeitlang angefangen, abwechselnd die eine oder die andere Seite zu verhängen, je nachdem, ob gerade wieder ein israelischer Raketenangriff auf Palästinenser oder ein palästinensisches Attentat auf Israelis erfolgt war.5 Ich habe diesen Unsinn schnell aufgeben müssen. Es war einfach zu anstrengend. Seitdem hängen beide Balkonseiten – Israel und Palästina – wieder durchgehend frei.
Während der Weltmeisterschaft habe ich nun – angesteckt von der grassierenden Flaggeritis – auch eine richtige Fahne an den Balkon gehängt: Sie ist tiefblau und zeigt in der Mitte unseren Planeten. 1945 hat sich die Weltgesellschaft unter Mitwirkung der wunderbaren US-Bürgerin Eleanor Roosevelt mit der UN-Charta auf einen neuen Zivilisationskonsens geeinigt. Wäre seitdem nur ein Bruchteil des weltweiten Flaggenstoffs zu Symbolen globaler Partnerschaft statt zu nationalen Fetischen verarbeitet worden, stünde es wohl heute besser um die damals proklamierten Ideale.