Zwanzig Jahre nach der US-Invasion in den Irak ‒ Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen

Seite 2: Der "ultimative Preis"

Offiziell sollte die Besatzung Wiederaufbau, Stabilisierung und Demokratisierung bringen, mit den wahren Zielen der damaligen US-Regierung hatte dies jedoch wenig zu tun. Zum einen sollte, wie der langjährige Chef der US-amerikanischen Zentralbank Alan Greenspan in seinen Memoiren freimütig zugab, der Sturz des unbotmäßigen Baath-Regimes den direkten Zugriff aufs irakische Öl ermöglichen.

Neben den irakischen Ressourcen, damals die zweitgrößten nachgewiesenen Reserven der Welt, hatten die Washingtoner Strategen auch die der gesamten Region im Visier. Wenn es darum gehe, so der damalige Vizepräsident Dick Cheney, die steigende Nachfrage nach Erdöl zu befriedigen, sei der "Mittlere Osten, mit zwei Dritteln der Ölreserven der Welt und den niedrigsten Kosten, nach wie vor der Ort, an dem der ultimative Preis liegt".

Zentrales Ziel war, den Irak nie wieder als starker, eigenständiger, sich an nationalen Interessen orientierendem Staat auferstehen zu lassen. Aus den Ruinen des alten sollte vielmehr ein schwacher Staat entstehen, ein neoliberales Modell, das westlichem, vorzugsweise US-amerikanischem Kapital vollen Zugriff auf die heimische Wirtschaft und Ressourcen gewährt.

Durch seinen Modellcharakter und die dauerhafte Stationierung einer massiven US-amerikanischen Streitmacht sollte das besetzte Land als Basis für die Umwandlung der gesamten Region dienen – als Hebel des "Greater Middle East"-Projekts der damaligen Bush-Administration, das unter den Schlagworten "Modernisierung" und "Demokratisierung" die Transformation der islamischen Staaten von Nordafrika bis zum Kaspischen Meer in formaldemokratische, prowestliche und neoliberale Marktwirtschaften vorantreiben soll, mit dem vorrangigen Ziel, US-Konzernen auch privilegierten Zugang zur Wirtschaft der Länder dieser Region zu gewähren.

"Freie Märkte und freier Handel sind Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheitsstrategie", heißt es dazu in der als Bush-Doktrin bekannt gewordenen "National Security Strategy" (NSS) von 2002, die stark geprägt ist, von den Vorstellungen des Project for the New American Century (PNAC).

Aus diesem Sammelbecken der neokonservativen Rechten kamen damals die tonangebenden Mitglieder der Bush-Regierung, allen voran Vizepräsident Dick Cheney, Pentagonchef Donald Rumsfeld und sein Stellvertreter Paul Wolfowitz. Ihr zentrales Ziel war es, die beherrschende Stellung der USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dauerhaft zu sichern und mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine neue Macht oder Allianz von Mächten diese Vormachtstellung in einer wichtigen Region gefährden könnte.

Nach den ursprünglichen vorgenommenen Planungen, unter Federführung des nicht zu den Neokonservativen zählenden damaligen Außenministers Colin Powell, sollten die staatlichen Strukturen weitgehend intakt gelassen und durch rasche Wiederherstellung der Infrastruktur, Beschäftigungsprogramme und rasche Wahlen eine schnelle Stabilisierung erreicht werden.

Auf Druck der neokonservativen Falken wurde jedoch mit Paul Bremer ein Statthalter eingesetzt, der sofort begann, ihre radikalen Pläne umzusetzen. Allen Warnungen zum Trotz wurden nun Armee und Polizei ersatzlos aufgelöst. Da die Besatzungsmächte weder Willens noch von ihrer Truppenstärke in der Lage waren, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, war deren Zusammenbruch vorprogrammiert.

Im Rahmen einer Säuberungswelle gegen die bisherige Regierungspartei, die Baath, wurde auch ein großer Teil der Angestellten in der Verwaltung des Staates und der staatlichen Unternehmen entfernt. Aus dem Amt gejagt wurden dabei nicht nur die aktiven Kader unter den 1,5 Millionen Mitgliedern der Partei, sondern auch viele einfache Mitglieder. Da für viele Positionen eine Mitgliedschaft meist obligatorisch gewesen war, verlor das Land einen Großteil ihrer erfahrenen Führungsschicht und Fachkräfte.

Viel Staat war vonseiten der Eroberer beim Neuaufbau des Landes nicht mehr vorgesehen. Dem militärischen "Shock and Awe" folgte die wirtschaftliche, neoliberale Schocktherapie. Man begann sofort, den Großteil dessen, was zuvor staatlich organisiert war – von der Wasserversorgung bis zum Bildungs- und Gesundheitswesen – in die Hände von Großkonzernen zu legen ‒ vorzugsweise in die Hände jener Firmen, die personell eng mit der US-Administration verbunden waren.

So ging z. B. das Management der landwirtschaftlichen Bewässerung sofort in die Hände der Bechtel Group über. Das Land würde als "leere Tafel betrachtet", schrieb Naomi Klein im Jahr 2003, "auf der die ideologischen Verfechter des Neoliberalismus in Washington ihre Traumwirtschaft planen können: vollkommen privatisiert, im Besitz ausländischer Unternehmen und offen für den Handel."

US-Statthalter Paul Bremer erließ in kurzer Zeit Dutzende Verordnungen, die das britische Wirtschaftsblatt The Economist im September 2003 als Erfüllung der "Wunschliste internationaler Investoren" bezeichnete.

Auf einen Schlag wurden alle bisherigen Investitionsgesetze außer Kraft gesetzt und die gesamte Wirtschaft des Landes, mit Ausnahme des Rohstoffsektors, vollständig für ausländische Unternehmen geöffnet. Subventionen in Nahrung, Gesundheit und Bildung wurden auf Druck von IWF und Weltbank drastisch gesenkt, Zölle weitgehend aufgehoben und die durch zwölf Jahre Embargo stark geschädigten Firmen und Bauern schutzlos der internationalen Konkurrenz ausgeliefert. Für die meisten bedeutete dies der Ruin, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 70 Prozent.

Bis 2008 hatten nach Einschätzung des damaligen Vorsitzenden der irakischen "Gewerkschaft der Industrien", rund 36.000 kleine und mittlere Unternehmen, etwa 90 Prozent der Firmen des Landes, dichtmachen müssen.

Beim Neuaufbau von Polizei, Armee und Verwaltung setzten die USA auf ihre Verbündeten, die beiden kurdischen Parteien PUK und KDP und aus dem Exil zurückkehrende Kräfte, insbesondere – trotz ihrer Nähe zum iranischen Regime ‒ auf die radikal-schiitischen Organisationen SCIRI und DAWA.

Alle Ämter und Posten wurden nun unter Anhängern dieser Parteien vergeben, nach Maßgabe eines ethnisch-konfessionellen Proporz, den man bis dahin im Irak nicht kannte. Die zugeteilten Ministerien und sonstigen Ämter wurden als Pfründe der jeweiligen Parteien behandelt. Korruption, Klientelwirtschaft, ethnische und konfessionelle Spannungen beherrschen seither das politische System.

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