Zwanzig Jahre nach der US-Invasion in den Irak ‒ Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen

Seite 3: "Salvador Option"

Die Verwüstungen durch den Krieg und die rücksichtslose Politik der Besatzer, die mit Massenentlassungen und Wegfall staatlicher Unterstützung einherging, hatte für weite Teile der Bevölkerung eine dramatische Verschlechterung der Lebensverhältnisse zur Folge und schufen so das Potenzial für einen breiten, rasch wachsenden Widerstand gegen die Besatzung.

Dieser reichte von einer starken zivilen Opposition, getragen von Gewerkschaften, Parteien, Frauen-, Studenten-, Arbeitslosenorganisationen etc., die sich u. a. dem Ausverkauf des Landes widersetzten, bis zu einem breiten Spektrum bewaffneter Gruppen, die ihre Kämpfer zu einem guten Teil aus den Hunderttausenden entlassenen früheren Angehörigen von Armee und Polizei rekrutieren konnten.

Die dschihadistischen Gruppen, die statt für die nationale Unabhängigkeit für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates kämpften und Terroranschläge gegen Andersgläubige verübten, galten im Irak nicht als Teil dieses nationalen Widerstands.

Um diesen Widerstand, der ihnen immer mehr zusetzte, zu brechen, beschloss die Bush-Administration ein umfangreiches verdecktes Aufstandsbekämpfungsprogramm.

Wie BBC und Guardian später in einer detaillierten Dokumentation enthüllten, bauten die USA ab 2004 unter Leitung von US-General David Petraeus, dem späteren Oberkommandierenden in Irak und Afghanistan, irakische "Spezialpolizeikommandos", Todesschwadronen und ein Netz von geheimen Kerkern auf.

Ausgangspunkt der gründlichen Recherchen von BBC und Guardian, deren Ergebnisse sie zum 10. Jahrestages Krieges veröffentlichten, waren die Irakkriegs-Protokolle der US-Armee, die Chelsea Manning der Enthüllungsplattform Wikileaks zugespielt hatte.

Bekannt, wenn auch nicht so im Detail, war das Programm schon lange. Über entsprechende Pläne des Pentagons hatte der renommierte investigative Journalist Seymour Hersh bereits im Dezember 2003 berichtet. Wenige Monate später enthüllte er mit den Folterexzessen von Abu Ghraib dessen ersten Auswüchse und warnte die Welt davor, dass die Besatzer den Irak in einen Bürgerkrieg treiben würde.

Laut Newsweek vom Januar 2005 liefen die Pentagonpläne intern unter der Bezeichnung "Salvador Option" – in Anknüpfung an die erfolgreiche Anwendung von staatlichem Terror, Folter und Mord gegen oppositionelle Kräfte in Mittelamerika.

Erste Details über den Aufbau und den Einsatz einiger von "US-Beratern" angeleiteten Spezialpolizeikommandos lieferte Peter Maass von der New York Times schon im Mai 2005. Demnach rekrutierten, trainierten und finanzierten die USA mindestens 27 dieser berüchtigten paramilitärischen Verbände.

Einbezogen in sie wurden auch zahlreiche Angehörige der berüchtigten schiitischen Milizen, wie die vom Iran aufgebauten Badr-Brigaden des radikal-schiitischen "Obersten Islamischen Rats im Irak" (SIIC). Diese Kämpfer blieben weiter loyal zu den Führungen ihrer Milizen, konnten nun aber mit US-Unterstützung die Jagd auf sunnitische und säkulare Gegner sowie deren Angehörige aufnehmen.

Zusammen entfesselten sie so einen schmutzigen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung in den überwiegend sunnitischen Zentren des Widerstands: "Die sunnitische Bevölkerung zahlt für die Unterstützung der Terroristen keinen Preis", zitierte 2005 Newsweek einen Offizier aus dem Pentagon. "Aus ihrer Sicht ist das kostenlos. Wir müssen diese Gleichung ändern."

In der Folge nahm die Zahl der Attentate, Entführungen und Exekutionen massiv zu. Allein das Bagdader Leichenschauhaus registrierte ab Mai 2005, dem Amtsantritt der ersten irakischen Regierung unter US-Besatzung, acht- bis elfhundert Ermordete im Monat.

Der brutale Krieg der Besatzungstruppen gegen den Widerstand in sunnitischen Gebieten, der 2004 in zwei verheerenden Angriffen auf die Großstadt Falludscha gipfelte, und das Wüten von Spezialkommandos und schiitischen Milizen gab auf der anderen Seite auch sunnitischen Extremisten Auftrieb.

Im Zusammenspiel mit dem Terror al-Qaeda-naher Gruppen, eskalierte der schmutzige Krieg der Besatzer ab 2006 zu einer unvorstellbaren Welle religiös aufgeladener Gewalt, die erst 2008 nach der Vertreibung der jeweiligen lokalen Minderheiten – meist die Sunniten ‒ abebbte.

Zuvor mehrheitlich sunnitische Stadtteile Bagdads waren auf nächtlichen Satellitenaufnahmen nun deutlich als dunkle, fast lichtlose Flecken erkennbar. Im Westen war nur nach den Enthüllungen über Abu Ghraib kurz Empörung über die Besatzungspolitik aufgeblitzt. Ihr weiteres Wüten weitgehend kritiklos als Kampf gegen Terrorbanden akzeptiert und die Gewalteskalation allein dem Fanatismus der Iraker zugeschrieben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.