Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Putin, Butscha und die verschleppten Kinder

Seite 2: Die verschleppten Kinder

Man findet Berichte von Augenzeugen und Betroffenen im Netz, jedoch keine quantitative und qualitative Analyse der Sachlage. Immerhin werden Zahlen genannt, die eine wie auch immer geartete Grundlage haben müssen. Die Frage nach einer Liste steht auch hier im Raum.

Vielleicht liegt es daran, dass ebenfalls in den besetzten Gebieten und in Russland recherchiert werden müsste. Aber kann man auf russischer Seite überhaupt recherchieren oder wird westlichen Journalisten der Zugang verwehrt?

Wie das kürzlich erschienene Buch "Auf beiden Seiten der Front" von Patrik Baab zeigt, scheint es nicht unmöglich zu sein, auch von dieser Seite einen Blick auf die Ereignisse zu werfen. Zudem gibt es andere Journalisten, die regelmäßig aus Russland berichten, wie zum Beispiel der Reporter Rainer Munz für NTV aus Moskau.

Der Moskau-Korrespondent des ZDF, Armin Coerper, war kürzlich im besetzten Mariupol und konnte sich nach eigener Aussage dort ohne Einschränkung bewegen und mit den Menschen vor Ort sprechen. Über die verschleppten Kinder (19.000 werden genannt) wurde in der gleichen Sendung des ZDF am 29. Januar 2024 ebenfalls berichtet, aus dem unbesetzten Odessa.

Umerziehungslager in Russland: Beweise?

Erwähnt werden von der Korrespondentin dort Umerziehungslager in Russland. Wo sind die und gab es bereits Versuche, diese zu besichtigen? Auch die UNO und das Rote Kreuz könnte man einschalten.

Neben Putin wurde bekanntlich auch für seine "Kinderbeauftragte", Marija Lwowa-Belowa, ein Haftbefehl ausgestellt. Sie bekleidet offiziell das Amt der Präsidialkommissarin für Kinderrechte der Russischen Föderation.

Wurde versucht, mit ihr zu sprechen? Auch propagandistisch gefärbte Antworten könnten aufschlussreich sein und den Kindern und ihren Verwandten helfen.

Woher kommen die Kinder?

Zum qualitativen Teil einer solchen Analyse passen auch diese Fragen:

1. Aus welchen Gebieten der Ukraine stammen die Kinder? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass sie nicht aus Gebieten stammen können, auf die die russische Seite keinen Zugriff hatte und hat.

Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass es sich vorrangig um Kinder aus dem östlichen und zumeist von Russen bewohnten Teil der Ukraine handeln muss. Die russische Seite behauptet dazu, dass es sich nicht um Verschleppungen oder Entführungen handelt, sondern um eine Evakuierung der Kinder aus den vom Krieg betroffenen Gebieten.

Zur Evakuierung von Kindern seitens der Ukraine aus dem Frontgebiet gibt es ebenfalls Berichte.

Warum kein Protest der Angehörigen?

2. Seit wann werden Kinder vermisst? Da der Krieg als Bürgerkrieg bereits seit 2014 im Donbass tobt, könnte ein Teil der mutmaßlichen Verschleppungen, die immerhin zum Haftbefehl geführt haben, vor dem 24. Februar 2022 stattgefunden haben.

3. Wenn eine so große Anzahl Kinder vermisst wird, stellt sich die Frage nach adäquaten Protesten der Angehörigen. Von beiden Seiten der Front ist kein, dieser Anzahl angemessenes Echo zu vernehmen. Woran kann das liegen?

Ist dies auf ein Einverständnis von Eltern mit einer Evakuierung ihrer Kinder zurückzuführen oder auf eine Unterdrückung der Proteste auf russischer Seite?

Berücksichtigt man die Verschleppung einer so großen Zahl von Kindern (16.000 wurden 2023 erwähnt, der Spiegel berichtet am 31. Juli 2023 sogar von 700.000 Kindern) und stellt dem das Medienecho gegenüber, das den Angehörigen der Hamas-Geiseln nicht nur in Israel, sondern weltweit zuteilwurde, dann herrscht sowohl in der Ukraine als auch in Russland eine vergleichsweise dröhnende Stille.

Was hindert die Aufklärung?

4. Laut SWR Kultur am 28. November 2023 waren bis zu diesem Zeitpunkt lediglich 383 Kinder in die Ukraine zurückgeholt worden. Zum einen scheint dies also möglich zu sein, zum anderen unterstreicht die geringe Anzahl noch einmal die Frage nach den Stimmen der Angehörigen der Masse der noch verschleppten Kinder.

Was also ist da los? Welche Hindernisse gibt es noch?

Fazit

Es gibt Raum für weitere Nachforschungen auch durch die Presse. Die persönliche Verantwortung der Journalisten für die Wahrheitsfindung kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die zukünftigen Beziehungen der Aktuere an diesem verfluchten Krieg hängen wesentlich von ihrer Arbeit ab.

Niels Bohr, dänischer Physiker und Nobelpreisträger, wird folgendes Zitat zugesprochen:

Es gibt triviale Wahrheiten und es gibt große Wahrheiten. Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist einfach falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit ist auch wahr.

Die aufgeworfenen Fragen gehören zu den trivialen Wahrheiten, weil es auf sie eindeutige Antworten geben muss, mit denen Verantwortliche grundsätzlich auch zur Verantwortung gezogen werden können.

Die großen Wahrheiten sind ein anderes Kapitel. Hier kann, wenn es nach Niels Bohr geht, Parteinahme nur hinderlich sein bei der Suche nach Konfliktlösungen.

Vielleicht liegt in dieser Weisheit der Schlüssel für eine friedliche Zukunft in Europa. Wenn alle aus ihrer Perspektive mehr oder weniger recht haben oder recht zu haben meinen, dann können wir im atomaren Zeitalter nur überleben, wenn wir uns an das noch in den 1980-er Jahren breit akzeptierte Konzept der friedlichen Koexistenz erinnern.

Nachwort

Ich habe, wie wohl jeder von uns, zu diesem Konflikt auch eine persönliche Meinung. Jedoch halte ich Diskussionen, die, wie man so sagt, mit viel Meinung und wenig Ahnung geführt werden, nicht für zielführend.

Als Ingenieur bin ich darauf trainiert, Analysen und darauf aufbauende Lösungsansätze ausschließlich auf der Grundlage verifizierter Fakten zu erstellen. Anderenfalls würde jedes Projekt scheitern und keine der Anlagen, an denen ich beteiligt war, hätte jemals funktioniert.

Wie ich finde, trifft das nicht nur auf die Technik, sondern auch auf die Politik im Allgemeinen und natürlich diesen Konflikt im Besonderen zu.