Zwergdino aus Norddeutschland
Im Harz lebten einst Mini-Saurier auf einer Insel
Die neue Dinosaurier-Art Europasaurus holgeri wurde nur ein Fünftel so schwer wie ihre nächsten Verwandten, die Brachiosaurier. Sie bevölkerten einst eine Landschaft im Norden des heutigen Deutschland, die sich in eine Inselwelt verwandelte, als der Meeresspiegel anstieg. Die Nahrungsressourcen wurden knapp und besonders kleine Individuen mit weniger Appetit hatten bessere Überlebenschancen. Eine Verzwergung setzte ein, die dazu führte, dass sich eine ganz eigene Art entwickelte.
Dort, wo sich heute der Steinbruch Langenberg-Oker in der Nähe von Goslar im Harz (Karte) befindet, tummelten sich vor 150 Millionen Jahren viele Saurier und andere Urzeittiere in einer ausgedehnten Lagunenlandschaft. Die zerklüftete Küstenlinie des Kontinents Laurasia mit Inselgruppen und Deltagebieten lag unter einer brennenden Sonne, die tägliche für tropische Temperaturen sorgte (Fenster in die Vergangenheit - Oker vor 150 Millionen Jahren). Es ist das Zeitalter des oberen Jura, noch beherrschen die Dinosaurier die Welt, aber bald wird ihre Epoche zu Ende gehen.
Im Steinbruch ist die Geschichte konserviert. Seit mehr als 140 Jahren wird hier am Langenberg (Die Aufrichtungszone am nördlichen Harzrand: Der Steinbruch Langenberg bei Oker) Gestein abgebaut, um Dünger daraus herzustellen. Schicht für Schicht arbeiten sich die Wissenschaftler und Fossiliensucher durch die steilen Felswände, um Versteinerungen zu finden, bevor die Maschinen sie abtragen (Steinbruch Oker: Juramuseum in Planung).
Eine Vielzahl von Fossilien brachte dem Fundort den Ruf ein, ein wahres Eldorado der Dinojäger zu sein. Versteinerte Knochen von Stegosauriern und Flugsauriern waren darunter, Theropoden, Fische, Schildkröten und verschiedene Krokodilarten (Fauna in Oker).
Ein geschrumpfter Sauropode
Im Herbst 1998 entdeckte der Hobby-Paläontologe Holger Lüdtke einen Zahn und andere Überreste eines kleinen, Pflanzen fressenden Dinosauriers, eines Sauropoden. Die Sauropoden waren die gigantischsten Wesen, die je auf vier Füßen über die Erde liefen, Kolosse mit langen Hälsen und winzigen Köpfen (Gigantisch und obendrein wendig). Aber das in Langenberg-Oker gefundene Exemplar war sehr klein, deswegen gingen die Forscher erst mal davon aus, dass es sich um ein Jungtier handle. Liebevoll wurde es auf den Namen Hanna getauft.
In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature revidieren jetzt Martin Sander von der Universität Bonn und Kollegen von der Universidade Nova de Lisboa und dem Dinosaurier-Freilichtmuseum Münchehagen diese Annahme und ordnen Hanna einer bisher unbekannten Art zu, der sie zu Ehren des Entdeckers den Namen Europasaurus holgeri gaben (Bone histology indicates insular dwarfism in a new Late Jurassic sauropod dinosaur).
Hanna ist eine enge Verwandte der Brachiosaurier, friedlich weidenden Riesen, die bis zu 45 Meter lang und 80 Tonnen schwer wurden. Aber die im Harz gefundene Spezies ist viel, viel kleiner: „Bei sechs Metern Länge und einer Tonne Körpermasse war Schluss“, schätzt Martin Sander (Hanna in Berlin).
Inzwischen haben die Wissenschaftler die versteinerten Knochen von mehr als 11 verschiedenen Individuen des Europasaurus holgeri aus dem Steinbruch geborgen und ihre genaue Analyse erwies, dass es sich nicht um Baby-, sondern um echte Mini-Dinosaurier handelt. In Dino-Knochen gibt es so genannte Wachstumsmarken, ähnlich den Jahresringen von Bäumen. Bei heranwachsenden Tieren liegen sie vergleichsweise weit auseinander, weil sie noch schnell wachsen. Hat der Saurier erst einmal seine Maximalgröße erreicht, rücken die Marken entsprechend eng aneinander. „Und genau diese dicht gedrängten Marken haben wir knapp unter der Oberfläche der fossilen Knochen entdeckt“, erklärt Martin Sander, einer der wenigen Experten weltweit für die Feinstruktur der Dino-Gebeine. „Die Tiere müssen also ausgewachsen gewesen sein, als sie starben.“
Die Zwerg-Dinosaurier haben ihre Existenz wahrscheinlich einem Prozess zu verdanken, der sich Island-Dwarfing nennt. Auf Inseln ist die Nahrung oft knapp und wer wenig Appetit verspürt, hat bessere Chancen, damit zurecht zu kommen und zu überleben. Vor 150 Millionen Jahren lag das heutige Norddeutschland weitgehend unter Wasser. Hanna und ihre Brüder haben sehr wahrscheinlich auf einer Insel gelebt und waren einem enormen Selektionsdruck ausgesetzt, der zu dem Schrumpfprozess führte. Bei vielen Tierarten konnte das von Paläontologen in der Vergangenheit bereits nachgewiesen werden und im Moment tobt eine wissenschaftliche Debatte, ob dieser Effekt auch die kleinen Menschen von Flores (meist schlicht Hobbits genannt) zu Zwergen machte (Streit bei den Hobbits). Martin Sander verweist auf das Beispiel der Hirsche, die von den Engländern einst auf den Shetlands ausgesetzt wurden und sich sehr schnell zu Zwergformen verkleinerten: „Eine derartige Größenabnahme bei eingeschränktem Nahrungsangebot kann extrem schnell erfolgen, manchmal innerhalb von 10 oder 20 Generationen.“
Die Wissenschaftler haben durch histologische Vergleiche der Knochen auch schon eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie die Abstammungslinie von Hanna und ihrer Sippe aussehen könnte:
Sauropoda Marsh, 1878
Neosauropoda Bonaparte, 1986
Macronaria Wilson and Sereno, 1998
Europasaurus holgeri gen. et sp. nov.
Wer sich vor Ort ein persönliches Bild des Mini-Dinosauriers machen will: Knochen der Europasaurier sind ab dem 8. Juni als Fossil des Monats im Goldfuß-Museum der Universität Bonn zu sehen.