Zwischen IRA, Krauts und Mafia

Seite 6: Magengeschwür der britischen Politik

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In Nordirland gibt es auf beiden Seiten Leute, die mit dem Karfreitagsabkommen unzufrieden sind und auf einen Vorwand warten, um wieder loszuschlagen. Einen Vorgeschmack darauf, wie die Situation eskalieren könnte, bot der 18. April 2019. Vor dem Osterwochenende, an dem in Derry wie in jedem Jahr mit Umzügen des Osteraufstandes von 1916 gedacht wurde, veranstaltete die Polizei eine Razzia, um in Nationalistenkreisen nach Waffen und Sprengstoff zu suchen.

In Creggan, einem unweit der Grenze zur Republik Irland gelegenen Wohnviertel am Stadtrand von Derry, kam es zu Ausschreitungen, bei denen die Journalistin Lyra McKee durch einen Kopfschuss getötet wurde. Die Verantwortung übernahm eine Gruppe, die sich "New IRA" nennt und Anfang des Jahres bereits ein Auto in die Luft gesprengt und mehrere Brandsätze verschickt hatte. In einem Bekennerschreiben an die Irish News drückte die "neue IRA" ihr Bedauern darüber aus, McKee "tragischerweise" erschossen zu haben, als sie neben "Kräften des Feindes" (einigen Polizeifahrzeugen) stand.

Die Bandbreite der seither angebotenen Theorien zum Tod von Lyra McKee reicht von der gezielten Hinrichtung einer lästigen Investigativreporterin, die häufig über den Bürgerkrieg und dessen Auswirkungen auf die Gegenwart berichtet hatte, bis hin zum Dilettantismus einer Straßengang, die unter dem Deckmantel einer angeblich republikanischen Gesinnung ihre Drogengeschäfte abwickelt und der es am Know-how der "alten" (Provisional) IRA fehlt sowie am Rückhalt in der Bevölkerung, weshalb es der NIRA nicht gelingen werde, einen neuen Bürgerkrieg anzuzetteln.

Lyra McKee. Bild: International Journalism Festival Perugia / CC-BY-SA-2.0

Beruhigend ist das nicht wirklich. Präzision beim Töten von Menschen lässt sich lernen, auch die "echte" IRA operiert im Stil einer Gangsterbande, und wie die Bevölkerung reagieren wird, falls nach dem Brexit eine irgendwie geartete Infrastruktur für Grenzkontrollen ein paar Hitzköpfe (oder auch kühl kalkulierende Geschäftemacher) zu Anschlägen motivieren sollte, mit dann unvermeidlichen Gegenmaßnahmen der Polizei, weiß niemand ganz genau.

Was da unter der Oberfläche brodeln könnte beginnt man zu ahnen, wenn man die Berichte von Emma Vardy verfolgt, der Irland-Korrespondentin der BBC. Allem Anschein nach gibt es enge Verbindungen zwischen der New IRA und der Saoradh (irisch für "Befreiung"), einer 2016 gegründeten Partei, die das Good Friday Agreement nicht anerkennt, aus Irland eine ungeteilte sozialistische Republik machen will und eine Kampagne gestartet hat, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zu unterminieren.

Hauptverdächtiger im Fall McKee ist ein Teenager aus dem Viertel. Nicht weit von der Stelle, wo die Journalistin erschossen wurde, tauchten später Schilder auf, auf denen Informanten mit Ratten gleichgesetzt und mit dem Tod bedroht werden, gezeichnet von der IRA. Für die Bewohner des Viertels sind solche Schilder etwas, das man zwar ablehnt, aber akzeptieren müsse. Warum niemand die Schilder abnehme, will Emma Vardy von einem Priester wissen. "Wer soll sie abnehmen?", fragt Father Gormley zurück. Die Behörden, denkt man sich und zeigt damit vermutlich nur, dass man nicht verstanden hat, was vor sich geht.

Das sind Nachrichten aus einem fremden Land, das man nicht nach den üblichen Maßstäben beurteilen kann. Die optimistische Deutung ist die, dass Viertel wie Creggan, in denen die Wunden der "Troubles" kaum vernarbt sind, die letzten verbliebenen Rückzugsorte für militante Nationalisten sind; die pessimistische, dass Creggan einer jener Brennpunkte ist, von denen aus sich ein Flächenbrand entfachen lässt, wenn die Voraussetzungen für eine Eskalation erfüllt sind, durch den Brexit beispielsweise.

Das Karfreitagsabkommen war ein mühsam ausgehandelter Kompromiss zwischen verfeindeten Konfliktparteien, mit dem beide Seiten leben konnten, den Unionisten und Nationalisten ihren Anhängern aber auf verschiedene Weise verkaufen mussten. Für Republikaner war das Abkommen ein Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung; für Unionisten das Ende der Bestrebungen, Nordirland aus dem Vereinigten Königreich zu lösen und ein ungeteiltes Irland zu schaffen.

Bei solch unterschiedlichen Positionen braucht es nicht viel, um einen uralten Konflikt wiederzubeleben, mit dem sich die britische Politik seit der Regentschaft der Tudors herumschlägt. Die 20 Jahre, seit denen es das Karfreitagsabkommen gibt, nach 30 Jahren der "Troubles", sind da keine lange Zeit. Irland sei traditionell das schlimmste "politische Magengeschwür" Großbritanniens, schrieb Patrick Cockburn im Independent, als er im März 2019 mit Theresa May, ihrer Politik und dem Paktieren mit den Fundamentalisten von der Democratic Unionist Party abrechnete; durch den Brexit habe es wieder angefangen zu bluten.

Ein paar Wochen danach, im April, wurde Lyra McKee erschossen. Cockburns Artikel war womöglich prophetischer als von ihm selbst befürchtet. Es sei eine Illusion zu glauben, schreibt er, dass der nationalistisch gesinnte Teil der Bevölkerung Kameras und elektronische Gerätschaften zur Überwachung einer Grenze tolerieren werde, die Felder und Dörfer durchschneidet: "Wenn man Zollbeamte schickt werden sie Polizisten brauchen, um sie zu beschützen, und die Polizisten werden die Armee brauchen." Wer denkt, über "alternative Lösungen" schwadronieren und das Problem ansonsten aussitzen zu können, spielt mit dem Feuer.

Troubles in der Bananenrepublik

Harold Shand ist kein enger Freund von Margaret Thatcher wie Airey Neave, wohl aber die Gangsterversion ihres Schattenministers für Nordirland, der mit seiner Limousine in die Luft flog wie Shands Chauffeur beim Kirchgang von dessen Mutter. Statt mit Terroristen zu verhandeln bringt Shand außer Razors (mehr ein Experte für den Nahkampf und für Folterungen) einen Scharfschützen und einen Mann mit Schrotflinte mit ins Harringay Stadium. Die Provos werden beim Geldzählen erschossen und mit ihnen Stadtrat Harris, weil er ein lästiger Zeuge ist und weil jemand dafür büßen muss, dass der Gangsterboss in einem Wutanfall Jeff getötet hat, der wie ein Sohn für ihn war.

The Long Good Friday hält sich da an die Genreregeln: erst stirbt die rechte Hand des Chefs, dann der Chef selbst, und dazwischen gibt es noch ein Blutbad, weil der Gangsterfilm die Gewalt sichtbar macht, die in Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Strukturen steckt. Harold hätte öfter ins Kino gehen sollen, dann wüsste er Bescheid. So bleibt er uninformiert und lässt sich mit Victoria, seiner Königin, zum Savoy Hotel chauffieren, wo die amerikanischen Freunde abgestiegen sind, Charlie und Tony von der New Yorker Mafia.

Troubles in der Bananenrepublik (I) (22 Bilder)

The Long Good Friday

Im Hochgefühl des Triumphes will Harold, der angehende Baulöwe, den Geschäftspartnern berichten, dass die Störenfriede beseitigt und alle Probleme gelöst sind. Victoria bleibt im Auto sitzen, weil es nicht lange dauern kann. Im Radio kündigt der Sprecher die "Fakten hinter den Schlagzeilen" an, als Harold an der Tür klopft. "Der ganze Ärger ist vorbei", sagt er mit strahlendem Gesicht, oder genauer, im Original: "All the troubles are over" - eine Anspielung auf die "Troubles" in Nordirland, den Bürgerkrieg.

Doch das Geschäft mit der Mafia ist geplatzt. Charlie und Tony machen sich fertig zur Abreise. Zu viele Bomben, zu viele Tote. Charlie fühlt sich an das Massaker am St. Valentinstag erinnert, und an Vietnam. So weit sei es also schon gekommen, wundert sich Harold, dass sogar die Mafia mit einem kleinen Problem wie diesem nicht mehr umgehen könne. Er wird dann gleich noch erleben, dass das Problem so klein nicht ist, aber auch Charlie und Tony schneiden als Gangster nicht gut ab.

Troubles in der Bananenrepublik (II) (15 Bilder)

The Long Good Friday

Mackenzie hatte sich immer an amerikanischen Filmen gestört, in denen die Mafia glorifiziert wird. In The Long Good Friday inszenierte er sein Kontrastprogramm. Charlie und Tony sind pingelig, abergläubisch (ein Hut auf dem Bett bringt Unglück), trinken mäßig, gehen früh zu Bett und packen die Koffer, wenn es knallt. "Wir machen keine Geschäfte mit Gangstern", sagt Tony in einem der komischen Dialoge. Er ist es auch, der Harolds Heimatland beleidigt. Das hier sei ein größeres Risiko als damals in Kuba, sagt er (wo die Mafia mit dem Diktator Geschäfte machte, bis Fidel Castro kam). England sei eine Bananenrepublik.

"Ciao Harold", sagt Charlie. "Bon voyage", erwidert Harold. Er will gehen, überlegt es sich dann anders und beschließt, den "Wichsern" aus Amerika seine ehrliche Meinung zu sagen. Bisher hat man in diesem Hotelzimmer im Savoy Harold und sein Spiegelbild gesehen, weil es zwei von ihm gab: den "Jungen aus Stepney" (das raue Viertel im East End, in dem er aufgewachsen ist) und den Mann, der die Amerikaner ancharmiert, weil er sie braucht, um vom Gangster zum Unternehmer zu werden und in den Docklands sein Immobilienprojekt zu realisieren. Jetzt kann er wieder er selbst sein, und Mackenzie zeigt ihn ohne Spiegelbild.

Der Geist von Dünkirchen

Harolds zweite patriotische Rede (nach der Ansprache auf der Yacht) hat Bob Hoskins großteils improvisiert. Er hatte sich die Rolle inzwischen so sehr einverleibt, dass er selbst am besten wusste, was einer wie Shand in dieser Situation sagen würde. Mackenzie ließ ihn machen und nahm auf, was aus ihm herauskam. Für ein Remake müsste man die Szene in die Gegenwart verlegen, mit einem Brexiteer und, sagen wir, dem US-Präsidenten, der zur Abfederung des EU-Austritts einen Handelsvertrag in Aussicht stellt, ohne diese lästigen europäischen Regeln zum Verbraucherschutz.

Wie wäre das, wenn sich ein englischer, dem Verlust des Empire nachtrauernder Nationalist beim obersten Repräsentanten der ehemaligen Kolonien anbiedern müsste, deren Aufstieg zur Weltmacht mit dem eigenen, noch immer nicht verwundenem Abstieg einherging? Und was würde der Brexiteer wohl sagen, wenn nach der gegenseitigen Süßholzraspelei die Gespräche platzen, weil die Pestizid-Weltmeister aus den USA letztlich doch nur den eigenen Vorteil im Blick haben und ihre landwirtschaftlichen Produkte auf den britischen Markt drücken möchten? Harold Shand liefert ein paar Anregungen.

Der Geist von Dünkirchen (10 Bilder)

The Long Good Friday

Die (nun ehemaligen) Partner, die schlafen, während er sich mit der IRA herumschlägt, kommen Harold vor, als seien sie in ein Wachkoma gefallen: "Kein Wunder, dass ihr auf eurer Seite des Wassers eine Energiekrise habt!" Unter der Energiekrise der 1970er, die das Vertrauen in den Staat erschütterte und den von Reagan und Thatcher vertretenen Neoliberalismus beförderte, litt man auf beiden Seiten des Atlantiks, aber im Vereinigten Königreich, so Harold der Lokalpatriot, habe man sie besser bewältigt: "Wir Briten, wir sind an ein bisschen mehr Vitalität und Phantasie gewöhnt, an den Geist von Dünkirchen!"

Bob Hoskins und der von ihm verkörperte Harold Shand gehören einer Generation an, die jahrzehntelang mit Geschichten über britische Heldentaten im Zweiten Weltkrieg gefüttert wurde, über den Kampf der Soldaten gegen die Nazis und den Durchhaltewillen der Zivilisten an der Heimatfront. Die unerwartet erfolgreiche Evakuierung alliierter Truppen bei Dünkirchen Ende Mai/Anfang Juni 1940, die eigentlich ein Rückzug war und zumindest in Frankreich (wo man sich im Stich gelassen fühlte) höchst umstritten ist, wurde von der britischen Propaganda als glorreiches Beispiel für den Mut, den Einfallsreichtum und die nautischen Fähigkeiten der stark in Bedrängnis geratenen Briten gedeutet.

Nach der verlorenen Schlacht von Dünkirchen hielt Churchill seine berühmte "We Shall Fight on the Beaches"-Rede: "Wir werden unsere Insel verteidigen, was es auch kosten mag. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen, wir werden uns nie ergeben." Der Zweite Weltkrieg und Churchills Durchhaltereden sind immer mit dabei, wenn sich die Briten mit nationalen Herausforderungen konfrontiert sehen. Beim Referendum verstanden es die Brexiteers viel besser, diese Vorbelastung ihrer Landsleute für sich zu nutzen als die Remain-Kampagne.

Man muss nur den Beitritt zur EU durch den Austritt ersetzen (und Deutschland durch Amerika oder andere Ex-Kolonien), schon könnte Shands Rede von vor vierzig Jahren, aus dem Sommer 1979, von 2019 sein. Das passt gut zu Boris Johnson, dem Churchill-Fan, der vor dem Referendum nicht recht wusste, ob er für den Verbleib in der EU oder dagegen war, an seiner Rhetorik aber gar nichts ändern musste. Die Verteidigung der Insel gegen Invasoren, das zieht immer. Schon Churchill erklärte den Briten, dass man dafür Verbündete braucht. Die kommen wahlweise aus der Neuen Welt oder vom alten Kontinent Europa, je nachdem.

Beitrag zur Kultur oder Hot Dog?

Damals, im Juni 1940, versicherte Churchill seinem Volk, dass man, falls alle Stricke reißen sollten, immer noch mit der Neuen Welt rechnen dürfe, die dem Mutterland zu Hilfe eilen werde (den Piraten- und "Vernichtet die Armada"-Film The Sea Hawk, der die zögerlichen Amerikaner zum Kriegseintritt bewegen sollte, hatte Michael Curtiz bereits abgedreht). Dünkirchen aber war gestern. Jetzt (im Sommer 1979) ist man in der EU. Auf die Wichser aus Amerika kann Harold, der englische Patriot, gern verzichten, denn: "Die Zeiten, in denen die Yanks hier rüberkommen und sich die Nelsonsäule kaufen konnten, einen Arzt in der Harley Street und ein paar Windmill Girls, sind definitiv vorbei."

Schluss also mit dem Medizin- und Sextourismus (das Windmill Theatre präsentierte nackte junge Damen) und mit dem Ausverkauf von Kulturgütern. Admiral Nelson, falls das jemand vergessen hat, war der, der Napoleons Flotte bei Trafalgar eine vernichtende Niederlage beibrachte und dabei von einer tödlichen Kugel getroffen wurde (Famous last words: "Thank God I have performed my duty."). Der ihm gewidmete Platz in London, geschmückt mit seinem Standbild auf einer Säule, spielt eine wichtige Rolle in Hitchcocks Foreign Correspondent, auch einem dieser auf die kriegsunwilligen Amis abzielenden Propagandafilme (da ist es Hitler mit seiner Luftwaffe, der England erobern möchte).

Tony will widersprechen. Harold bügelt ihn mit einem "Shut up, you long streak of paralysed piss" ab. Ein "streak of piss" (wörtlich: Pissestrahl) ist einer, der zu nichts zu gebrauchen ist, und die Tony attestierte Lähmung (Impotenz) verstärkt noch die Beleidigung. Dann fällt Harold wieder ein, dass er ein Mann mit Stil ist und seinen schönsten Business-Anzug trägt. Vor dem Savoy wartet Victoria auf ihn, die im Eliteinternat Benenden mit Prinzessin Anne Lacrosse gespielt hat. Also schaltet der grandiose Bob Hoskins von East-End-Grobian auf distinguierten Sonntagsredner um. Mit jedem Sehen wird das besser.

"Wonach ich suche", führt Mr. Shand aus, "ist jemand, der einen Beitrag leisten kann - einen Beitrag zu dem, was England der Welt gegeben hat" (mit Betonung auf "England", ganz klar). Was wäre das gewesen? "Kultur, Raffinesse, Genie", sagt Harold. Da kommt die alte Arroganz gegenüber den Kolonien durch, wo man von Kultur keine Ahnung hat. Darum musste England ihnen den Imperialismus bringen, als kulturelle Aufgabe. So sah es Airey Neave, der Nordirland-Minister in spe, und Harold sieht es genauso (nur weniger reflektiert). Beide haben auch gemeinsam, dass sie von Terroristen von der kolonisierten Nachbarinsel ermordet werden.

Noch aber darf Harold seinen Auftritt genießen. Man merkt ihm die Genugtuung darüber an, endlich sagen zu können, was er von den Amerikanern hält. Der englische Beitrag zur Kultur sei "ein bisschen mehr als ein Hot Dog", höhnt er. "Wisst ihr, was ich meine?" Bei der Wurst lässt er das "H" weg ("'ot Dog"), weil er seine Cockney-Herkunft doch nicht ganz verbergen kann. Hoskins hält genau die richtige Balance zwischen der Arroganz dieses Engländers und der sich dahinter verbergenden Unsicherheit. Auch der Gangster hat mitgekriegt, dass sein Land von den ehemaligen Kolonien längst überflügelt wurde.

Das Minderwertigkeitsgefühl wird abgefedert durch die Mitgliedschaft in einem größeren Verbund. "Wir sind jetzt im gemeinsamen Markt", tönt Harold und platzt fast im Gefühl der eigenen Wichtigkeit. Wer hätte damals gedacht, dass sich die Brexit-Thatcheristen einmal mit derselben Verve für das Verlassen des europäischen Wirtschaftsraums aussprechen würden, mit der Shand den Beitritt begrüßt? "Tempi passati", würde Victoria vermutlich darauf antworten, während sie im Justine’s ein Glas San Pellegrino trinkt.

Deal mit den Krauts

"Meinen neuen Deal", sagt Harold, "mache ich mit Europa" (keine Anspielung auf den Superunternehmer, der zu der Zeit mit den Millionen seines Vaters und mit durch die Millionen seines Vaters abgesicherten Krediten den Trump Tower in New York bauen ließ, sondern auf den New Deal, Roosevelts Sozial- und Wirtschaftspolitik der 1930er). Dann holt er zum finalen Schlag aus: "Ich gehe eine Partnerschaft mit einer deutschen Organisation ein. Jawohl! Mit den Krauts! Die haben Ehrgeiz, Know-how, und sie verlieren nicht die Nerven." (Viel besser in Shands East-End-Englisch: "They don’t lose their bottle.")

Harold scheint nicht nur deshalb von sich selber überrascht zu sein, weil er die Partnerschaft mit den Deutschen gerade erst erfunden hat. In einem Land, das sich bis heute über den Abwehrkampf gegen Nazi-Deutschland definiert, ist der Gedanke an eine Kooperation mit den alten Feinden nicht selbstverständlich. Die andauernde Faszination, die der Zweite Weltkrieg auf viele Engländer ausübt, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass sie alles, was danach kam, als Antiklimax empfanden. Es ist, als hätten der Verlust der Kolonien und des Status einer Weltmacht einen Phantomschmerz ausgelöst, der weiter fortbesteht.

Großbritannien ist nach wie vor eines der wichtigsten Länder Europas. Offenbar ist das ungenügend, wenn man früher ein Empire hatte. Mag sein, dass es einfacher ist, einen Krieg zu verarbeiten, den man verloren hat als einen, den man gewonnen hat und an dessen Ende man trotzdem als der Verlierer dasteht. Nicht nur für Kolonialherren war die Nachkriegszeit frustrierend. Sehr viele Briten mussten Einkommensverluste hinnehmen, während sie dabei zuschauten, wie ihr Weltreich schrumpfte und Westdeutschland ein Wirtschaftswunder erlebte.

Wer sich von der EU-Mitgliedschaft eine Rückkehr zur alten Größe erhofft hatte stellte bald fest, wie illusorisch das gewesen war. Es ging eher darum, den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber den westeuropäischen Staaten aufzuholen und den Fehler zu korrigieren, dass man nicht schon 1957 mitgemacht hatte, als die sechs Gründungsmitglieder der EU die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft etablierten. Jetzt soll offenbar der Austritt den Phantomschmerz lindern. Wenn nicht alles täuscht wird diese Befreiung von den Fesseln der Bürokratie in Brüssel in eine neue Abhängigkeit von den USA münden.

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