Zwischen Klimawandel und Gretamanie

Seite 2: 99-Prozent-Ergebnisse, wenn es der guten Sache dient

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Man kann zumindest für die 1970er Jahre sagen, dass die AKW-Befürworter in der Wissenschaft die Dominanz hatten. Man muss da nicht mit Zahlenspielen kommen. Da wird es schnell peinlich für beide Seiten.

So wollte die AfD in einer parlamentarischen Anfrage wissen, woher die Angaben kommen, dass 97 Prozent der Wissenschaftler den Klimawandel als von Menschen gemacht sehen. Die Antwort der Bundesregierung wird gemeinhin nur als Blamage der AfD interpretiert. Denn demnach würden 99,94 Prozent der Wissenschaftler den Klimawandel als von Menschen gemacht klassifizieren. 99,94 Prozent?

Passen solche Ergebnisse nicht eher zu nordkoreanischen ZK-Beschlüssen als zu einer Wissenschafts-Community, die von Streit und Dissens lebt? Solche Zahlen können nur zustande kommen, wenn alle abweichende Erkenntnisse als unwissenschaftlich bewertet werden. Man müsste dann aber sagen, dass aktuelle wissenschaftliche Paradigma geht zu fast 100 Prozent davon aus, dass der Klimawandel überwiegend von Menschen gemacht wird.

In ein solches Paradigma gehen aber nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Sie sind eine Grundlage für die Sicht auf die Welt. Und hier kommen wir wieder auf die gesellschaftliche Ebene. Die aber wird auch von großen Teilen der Klimabewegung noch weitgehend ausgespart. Das konnte man bei dem Auftritt von Thunberg in der UN gut sehen.

Sie machte in ihrer Rede keine Avancen an die Politiker, ließ sich auch nicht auf Kooperationsprojekte ein. Das dürfte vor allem die Realpolitiker aller Parteien verstört haben. Doch Thunbergs Auftritt war auch keine Absage an die Politik. Indem sie den anwesenden Politikern aller Ländern vorwarf, ihre Träume gestohlen zu haben, gab sie ihnen eine große Macht. Sie bestätigte sie in ihrer Rolle als die Mächtigen und klagte sie nur an, dass sie in dieser Position das in ihren Augen Richtige versäumen.

Die Träume und Utopien können die Mächtigen nicht stehlen

Darin liegt auch das größte Problem des Thunberg-Auftritts. Es liest sich wie eine Aufforderung an die Mächtigen, im Namen des Klimas jetzt mal durchzugreifen. Das ist genau die Stimmung, in der von Klimaaktivisten die Ausrufung des "Klimanotstands" gefordert wird. Da wird nicht daran gedacht, dass man damit Politikern aller Couleur Sondervollmachten in die Hand gibt.

Vor mehr als 50 Jahren war die Bewegung gegen die Notstandsgesetze ein wichtiger Funke für den Aufbruch der damals alten mit der damals neuen außerparlamentarischen Opposition. Diese Ermächtigung der Mächtigen rührt daher, dass noch zu wenige die Klimakrise als Problem der Verwertungsinteressen des Kapitalismus erkennen. Es gibt viele Menschen nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Deutschland, die gar nicht die Zeit haben, sich Sorgen um den Untergang der Welt machen, weil sie sich sorgen müssen, wie sie als Wohnungslose oder als prekär Beschäftigte überleben können.

Wenn es nicht gelingt, die Klimabewegung mit der sozialen Bewegung zu verbinden, wird der Klimanotstand als Drohung gegen die Ärmsten der Gesellschaft empfunden. Die Klammer, die diese und andere aktuellen Krisen verbinden könnte, ist aber eine Suche nach einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Es ist nun nicht so, dass es da nicht durchaus realpolitische Ansätze gibt.

Eine antikapitalistische Perspektive bedeutet nicht, das Warten auf den großen Kladderadatsch. Man braucht nur das kluge Interview des Wirtschaftsinformatikers Ludger Eversmann in der Septemberausgabe der Monatszeitschrift konkret zu lesen, um eine Fülle von Anregungen zu bekommen für eine antikapitalistische Klimapolitik.

Nur ein Beispiel: Eversmann setzt sich für kommunales Eigentum ein und kritisiert, dass die Stadt Hamburg dem Fahrdienstleister Uber gestattet, seine Dienste in der Hansestadt anzubieten. Uber gibt sich dabei ökologisch und bewirbt seine Dienste damit, dass er Autofahrer motivieren möchte, vom Privatauto auf Uber umzusteigen. Da setzt Eversmanns Kritik an:

Aber Uber ist eben ein Kapitalunternehmen, das langfristig gezwungen ist, seine Profite zu maximieren und Druck auf die Fahrer, die Kunden, die Konkurrenten auszuüben. Es wird also, sobald dies durchsetzbar ist, seine Preise erhöhen. Setzte sich jedoch die Stadt Hamburg diese Ziele - wie das andere europäische Städte schon ausprobieren- und vernetzte alle Verkehrsmittel via App miteinander und betriebe sie auf eigene, also kommunale Rechnung, würde der Zwang zur Renditemaximierung entfallen.

Ludger Eversmann, Konkret September 2019

Das ist nur eines von mehreren sehr konkreten Projekten, die der Wissenschaftler in dem Interview vorschlägt. Ähnlich könnte man für ganz viele andere Politikbereiche konkrete Forderungen formulieren, die eine antikapitalistische Grundausrichtung haben und die Klimakrise mit anderen sozialen Themen verbinden. Wäre das nicht etwas für die antikapitalistische Plattform bei Change for Future, über die man nach einigen Interviews wenig mehr gehört hat?

Eine Verbindung von Antikapitalismus und Ökologiebewegung und nicht "Gretamanie" und der Ruf nach Klimanotstand mit Sondervollmachten wäre eine lohnende Aufgabe für eine Jugendumweltbewegung. Das würde deutlich machen, dass die Mächtigen der Welt nicht die Träume und Utopien geklaut haben.

Die Subalternen haben längst eigene Vorstellungen. Sie wollen nicht von Uber und Co. enteignet werden. Eine Borderline-Person wie Greta Thunberg kann aufrütteln. Die Vorstellungen für eine Änderung müssen aus den realen Kämpfen überall auf der Welt mit Unterstützung von progressiven Wissenschaftlern entwickelt werden. Wenn das gelingt, könnte das auch weltweit für eine ganz andere Welt mobilisieren, die nicht aus Angst vor dem Aussterben in Panik gerät und so sich selbst ganz in die Zwänge der Natur begibt.