Zwischen SPD-Parteitag und Bundestagswahl: "Kämpfen, kämpfen, kämpfen" ist zu wenig

Seite 3: Wunsch nach Veränderung

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All diese Menschen warten auf einen weisen und charismatischen Anführer, der den Kampf mit dem Establishment und der Übermacht des Kapitals aufnimmt. Die Vorzeichen für eine Veränderung sind günstig wie lange nicht mehr. Wie anders wären der Triumph des Newcomers Emmanuel Macron in Frankreich und die erstaunlichen Stimmengewinne der linken Außenseiter Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien zu erklären? Jugendliche Ausstrahlung scheiden bei den Letztgenannten als Erklärung aus. Offensichtlich votierten ihre Wähler für grundlegend andere Politikinhalte.

Selbst der überaus bizarre Wahlsieg von Donald Trump belegt einen ausgeprägten Veränderungswunsch der Normalbürger. Trump war es groteskerweise gelungen, sich zum Frontmann gegen das verhasste US-Establishment zu stilisieren. Dem dadurch erschwindelten Sieg liegen Überdruss, Wut und (leichtfertige!) Hoffnungen der Benachteiligten zugrunde. Spiegelbildlich entspricht Trumps Sieg die demütigende Wählerklatsche für Hillary Clinton, dem fleischgewordenen Sinnbild des korrupten US-Establishments. Das mag verstörend sei, aber es ist in sich logisch.

Nicht zuletzt ist auch der beispiellose Höhenflug von Martin Schulz in den letzten Januartagen 2017 Beleg für den verbreiteten Veränderungswunsch der deutschen Gesellschaft. Die Situation erinnert an 1998, als eine Mehrheit der Deutschen des Systems Kohl überdrüssig geworden war und sich Schröder zuwandte. Allerdings ist Schulz kein Wahlkämpfer vom Format eines Gerhard Schröder. Als im Frühjahr erkennbar wurde, dass die auf Schulz gesetzten Hoffnungen verfrüht waren, folgte postwendend sein unaufhaltsamer Absturz.

Dort wo mutiger Veränderungswille und Orientierung vonnöten gewesen wären, hat Schulz beredt geschwiegen. Das war zwar falsch, aber es passt ins Bild. Denn Schulz ist sowohl durch seinen Werdegang als auch durch seine politische Verankerung Teil des Systems, im Ergebnis Merkel nicht unähnlich. Anstatt einen tiefgreifenden Politikwechsel einzufordern, tummelte er sich in der bequemen parteipolitischen Mitte, obwohl dieser Bereich von Merkel seit 2005 souverän besetzt wird. Hasenfüßig versäumte er es, realistische Machtoptionen zu erarbeiten.

Seine betonten Abgrenzungsbemühungen zur Partei Die Linke mögen der inneren Befindlichkeit der SPD entsprechen, wahlstrategisch sind sie verfehlt. Sinnvoll wäre es gewesen, sich von den durchsichtigen Dämonisierungsritualen der Union abzugrenzen und stattdessen inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der linken Konkurrenz auszuloten. Das erschien dem Wahlkämpfer Schulz jedoch zu heikel, weil er sich dadurch reflexhaften Angriffen von Union, Grünen und FDP ausgesetzt hätte.

Die letzte Chance

Viel Zeit bleibt nicht mehr. Wenn sich Martin Schulz eine kleine Chance auf die Kanzlerschaft erhalten will, dann darf er sich - fußballerisch gesprochen - nicht mit Ballhalten vertun, sondern er muss auf alles oder nichts spielen. Er muss sich vor allem entscheiden, ob er sich auf die oben beispielhaft dargestellten Politikfelder mit brennenden Zukunftsfragen wagt. Die Entscheidung ist insofern erleichtert, weil Schulz nichts mehr zu verlieren hat. Umso mehr gilt der Grundsatz, wer nichts wagt, nichts gewinnt.

Steuer- und Rentenarithmetik verbunden mit Kampfaufrufen und pathetischer Respektrhetorik sind zu wenig. Schulz müsste sich zum glaubwürdigen Verfechter einer universalistischen, friedliebenden, gerechten und ökologisch ausgerichteten Politik aufschwingen. Er müsste beispielsweise die Courage aufbringen, den Wählern unumwunden zu erklären, dass die Flüchtlingsströme von 2015 und die wachsende Zahl terroristischer Anschläge (z. B. Nizza, Paris, Brüssel, Berlin, London) die direkte Antwort auf eine im Ansatz verfehlte westliche, europäische und deutsche Wirtschafts- und Bündnispolitik sind. Er müsste außerdem sagen, dass sich beide Phänomene weiter verstärken werden, wenn der Westen nicht die Kraft zu einem radikalen Wandel aufbringt. Mehr als das: Schulz müsste es nicht nur sagen, sondern die Wähler müssten auch spüren, dass er mit Überzeugung dahinter steht.

Unterstellt, Schulz macht das, wäre das noch Martin Schulz? Er war immer Teil des Systems, ob als Bürgermeister von Würselen oder als angesehener Präsident des Europäischen Parlaments. Querdenken war nicht seine Sache. Würden es ihm die Wähler also abnehmen, wenn er sich in der schwierigen Endphase des Wahlkampfs vom systemtreuen Saulus zum universalistisch denkenden Paulus wandeln würde? Wohl kaum. Die Erfahrung lehrt nämlich: Wer zeitlebens brave Hauskatze war, wird nicht über Nacht zum Löwen.

Ich glaube, dass Schulz zu klug ist, um diese Gefahr nicht zu sehen. Er wird deshalb wohl so bleiben, wie wir ihn kennen, beredt, anständig und sehr respektvoll, ein Mann ohne Fehl und Tadel, eben Martin Schulz. Merkel wird wie immer im Ungefähren verweilen, wenn nötig flunkern und sich alle Machtoptionen offen halten. Am Wahlabend 2017 wird sie voraussichtlich vergnügt lächelnd vor den Fernsehkameras stehen und als äußeres Zeichen des Sieges ihre unnachahmliche Raute machen.

Und Martin Schulz wird betonen, dass er und die Seinen bis zuletzt gekämpft haben und er wird seinen tiefen Respekt vor der Wählerentscheidung bekunden. Wetten, dass..?

Ja, und Deutschland bekommt, was es verdient, weitere vier Jahre Treten am Platz. Denn die Mehrheit glaubt immer noch, es genüge, die Wahl zwischen Merkel und Schulz zu haben…