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Über das Scheitern von inszenierten politischen Diskussionen im Internet

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Im Februar hatte die europäische Kommission ein durchaus ambitioniertes Projekt aus der Taufe gehoben: Europäische Bürger sind aufgerufen, sich an einer Diskussion über ihre Rechte in der Informationsgesellschaft zu beteiligen. Hundert Tage nach dem Start steckt das Projekt immer noch in den Startlöchern. Auch die Verantwortlichen rätseln an den Gründen, warum eurVoice bislang stimmlos bleibt.

Im Vordergrund steht bei eurVoice die Rolle der Bürger als Konsumenten. Dazu gesellen sich Fragen zum Datenschutz und den Voraussetzungen elektronischer Demokratie. Stoff zur Diskussion dürfte damit genügend vorhanden sein. Trotzdem verlieren sich seit der Eröffnung Mitte Februar gerade einmal 40 Mitteilungen in den thematischen Strängen von eurVoice.

Bei der EU-Kommission verfolgt man das Geschehen mit Interesse. Allerdings, so heißt es, konnte man dem Pilotprojekt aus verschiedenen Gründen nicht genügend Aufmerksamkeit widmen. Das soll sich ändern. Der EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, David Byrne, soll bewegt werden, zu den Diskussionspunkten Stellung zu nehmen. Über das Medienecho auf den Auftritt des Schirmherrn erhofft man sich eine breitere Beteiligung.

Als Projektleiter für eurVoice fungiert Stephen Coleman, Professor im Bereich Medien und Kommunikation an der London School of Economics. Seine Schwerpunkte setzt er auch im Bereich neuer Kommunikationstechnologien, Erfahrungen hat er aber vor allem mit traditionellen Medien. Coleman ist sich durchaus bewusst, dass eurVoice die Erwartungen bislang nicht erfüllt. Über die Gründe hätte er jedoch keine Kontrolle.

Wirklich nicht? Wer sich anfangs an den Diskussionen zu eurVoice beteiligen wollte, musste sich auf der Web-Site registrieren. Diese Hürde wurde beseitigt. Andere sind geblieben: Einige Verweise zeigen ins Nirwana und wer die Diskussionsbeiträge lesen möchte, sollte besser Cookies einschalten. Mit der Technik allein lässt sich die allgemeine Zurückhaltung jedoch nicht begründen.

In einem verwandten Versuch übertrug im April die ZEIT das Modell von Podiumsdiskussionen auf die Web-Seiten der Zeitung. Zur Debatte standen Fragen nach den Möglichkeiten elektronischer Demokratie. Eine Reihe von Experten sollte - begleitet von Moderatoren - erst untereinander Argumente austauschen, um sich im Anschluss einer öffentlichen Diskussion zu stellen. Parallel dazu bot die Web-Site den Lesern Gelegenheit, die laufende Debatte in frei zugänglichen Foren weiter zu spinnen.

Lorenz Lorenz-Meyer, verantwortlich für die »ZEIT im Internet« hält das Experiment für einen Erfolg. Die Beiträge der Experten seien mitunter etwas lang ausgefallen, ansonsten sei er jedoch zufrieden, so Lorenz-Meyer. Verglichen mit eurVoice mag die Zufriedenheit begründet sein. Das Problem, eine Debatte aus dem Nichts hervorzuzaubern, konnte durch das Vorbild der Podiumsdiskussion gelöst werden. Trotzdem fällt die zurückhaltende Beteiligung Außenstehender auf.

Sowohl bei eurVoice als auch bei der ZEIT liegt das Ziel eines lebhaften Web-Forums noch in der Ferne. Die Wahl des Mittels lässt die traditionellen Diskussionswege des Internet, und damit die Mechanismen von Mailing-Listen oder Usenet-Nachrichtengruppen außer acht. Einen passiven Empfang neuer Nachrichten, die ohne stehende Netzverbindung bearbeitet werden können, bieten die Web-Foren nur in eingeschränkter Weise. Bei der ZEIT fiel die Wahl trotzdem bewusst auf dieses Medium: "Wir sind ein Medienanbieter und haben das Interesse, dass die Leute zu uns kommen", so Lorenz-Meyer. Aber kann eurVoice sich diese Einschränkung erlauben? Die Zielsetzung der Initiative dürfte kaum darin bestehen, möglichst viele Besucher auf die Web-Site zu ziehen, wenn die Debatte das eigentliche Anliegen ist.

Herkömmliche Medien sind es gewohnt, Diskussionen loszutreten oder sich in dem Eindruck zu wiegen, sie initiiert zu haben. Ihr Einfluss erstreckt sich dabei auf die Rahmensetzung des Themas und kann bis zur Bestimmung einzelner Argumente reichen. Mit der bislang gewachsenen Diskussionskultur im Netz hat das wenig gemein. Über Mailing-Listen und Usenet existieren dagegen Kanäle, die ganze Themengebiete bezeichnen: Bücher, Kryptographie oder Politik. Welche konkreten Themen zur Sprache kommen und welcher Ton angeschlagen wird, bleibt dabei den Nutzern überlassen.

So gesehen, rackern sich eurVoice und ZEIT gleich an zwei Fronten ab. Sie grenzen das Thema ein und stehen dann vor dem Problem speziell Interessierte auf ihre Seiten holen zu müssen. Das Prinzip der Netzmedien ließe sich analog zur Design-Maxime »form follows function« als »discussion follows interest« formulieren. Das gegenteilige Verhalten, ein vermutetes Interessengebiet abzustecken, um dann auf die Debatte zu warten, produziert Leerlauf.

Damit bilden eurVoice und ZEIT einen starken Gegensatz zu Usenet-Foren. Wie bei Hase und Igel ist im Usenet die Diskussion immer schon da, wenn der Kommunikationskanal eingerichtet wird. Anknüpfungspunkte für weitere Gespräche bieten sich dann automatisch. Die ZEIT entging dem Dilemma einer Debatte ohne Teilnehmer durch das Modell der Podiumsdiskussion. Einige ausgewählte Autoren wurden exponiert, um für Diskussionsstoff zu sorgen. Bei eurVoice hingegen bleibt Coleman als Moderator auf sich allein gestellt; Unterstützung aus der Kommission erhielt er bislang nicht, und so fehlen die Reibungspunkte.

Hinzu gesellt sich ein Zeitproblem. Redaktionen können sich bislang den Luxus leisten, sich auf ein Thema zu konzentrieren und es zu einem ihnen genehmen Zeitpunkt ihren Empfängern an den Kopf zu werfen. Solange nicht allzu viele Sender miteinander konkurrieren, kann das funktionieren - schon weil es zur Unterhaltung beiträgt. Unter den Bedingungen des Netzes, mit ständig geöffneten Themen-Kanälen rückt der Unterhaltungsaspekt in den Hintergrund, und Diskussionen ohne unmittelbaren Anlass wirken erzwungen.

Im Fall von eurVoice offenbaren sich möglicherweise einmal mehr die Schwierigkeiten von Behörden im Umgang mit den Möglichkeiten des Netzes. Die zeigten sich bereits im GovNews-Projekt (www.govnews.org/). Dort stehen über den Verteilungsmechanismus des Usenet mehr als 200 Foren zur Verfügung. GovNews war von der Hoffnung getragen, über einen Teil der Nachrichtengruppen Bürger in die politische Entscheidungsfindung einzubinden. Doch auch nach drei Jahren tut sich dort nichts. Die Diagnose zu GovNews, dass Mitarbeiter der Behörden lieber keine Antwort geben, als eine, die nicht vollständig autorisiert ist, könnte auch für eurVoice zutreffen: Die Beamten üben Zurückhaltung. An ihrer Stelle soll der Kommissar das Wort ergreifen. Wann das sein wird, ist unklar.

Eventuell, so heißt es aus der Kommission, liegen die Gründe für die Zurückhaltung auch ganz woanders: Vielleicht interessiert das Thema die Leute einfach nicht. Die wahrscheinlichere Antwort dürfte sein: Zu diesen Bedingungen interessiert es nicht.