#unten - Kummerkasten jetzt auch für sozial Diskriminierte?
- #unten - Kummerkasten jetzt auch für sozial Diskriminierte?
- Wie wird mit den Erfahrungen von Armutsbetroffenen umgegangen?
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Die Debatte über Verarmung und soziale Ausgrenzung, von der nun auch häufiger Akademiker betroffen sind, ist ein guter Anfang. Die Frage ist, welchen Effekt sie haben wird
Nach #MeToo und #MeTwo, wo sich von Sexismus und Rassismus Betroffene zu Wort meldeten, hat die linksliberale Wochenzeitung Freitag kürzlich mit dem Hashtag #unten ein Forum für soziale Diskriminierung eröffnet. Das ausgerechnet eine Wochenzeitung, die sich vor allem kulturellen Melangen widmet, diese Initiative startete, ist nur auf den ersten Blick überraschend.
Schon längst sind auch prekäre Akademiker von sozialer Ausgrenzung und auch von Armut betroffen und das ist auch ein wichtiger Grund, warum Armut im Spätkapitalismus in der letzten Zeit zum großen Thema in Medien und Öffentlichkeit geworden ist. Genau wie hohe Mieten wird die real existierende Armut erst dann zum Problem, wenn sie eben nicht nur die trifft, denen in der Öffentlichkeit dann gern die Schuld für ihre soziale Lage zugesprochen wird.
Dann gibt es noch einen biographischen Grund für die Kampagne. Der Journalist Christian Baron hat das Feuilleton des Neuen Deutschland verlassen und in der Wochenzeitung Freitag einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Baron hat mit seinen vieldiskutierten Buch Pöbel, Proleten, Parasiten (vgl. Wird die Rechte stark, weil die Linke die Arbeiter verachtet?) auch mit biographischen Zugängen die Armut in Deutschland zum Thema gemacht.
Auch die Soziologin Britta Steinwachs, die ebenfalls #unten initiierte, beschäftigt sich seit Jahren damit, wie Armut in Deutschland produziert wird und was das bei den Betroffenen auslöst.
Klassenpolitische Dimension von #unten?
Steinwachs stellte diese Frage am Anfang: "#unten - Warum gibt es noch keine klassenpolitische Ergänzung zu #MeToo und #MeTwo?" Die Frage ist einerseits berechtigt und andererseits irritierend. Es ist natürlich völlig richtig zu fragen, warum die sozialen Diskriminierungserfahrungen nicht ebenso Gegenstand von öffentlichem Interesse sind wie Rassismus- und Sexismuserfahrungen. Die Reaktionen der Freitag-Leserinnen und Leser bestätigten die Notwendigkeit einer solchen Initiative. Hier nur eine von zahlreichen Zuschriften an den Freitag.
Sehr geehrte Redaktion des Freitag,
haben Sie vielen Dank für die Artikel. Selbst bin ich von zwei Seiten im Thema. Ich arbeite als Honorarkraft im ambulant betreuten Wohnen und habe mit armen Menschen zu tun. Ich kenne ziemlich gut, was Christian Baron und Britta Steinwachs beschreiben. Auch die Scham. Und die Hoffnungen. Selbst habe ich mit Ende 40 nicht mehr weitermachen können wie bisher. Ich habe Soziale Arbeit studiert und bin dabei auch politisiert worden.Jetzt habe ich nach zwei Jahren das Bewerbungen-Schreiben aufgegeben. Das wird nichts mehr, ich bin inzwischen 57 Jahre alt. Es kostet total viel Kraft, die Ursachen für das Scheitern nicht bei mir zu suchen. Ich erfahre die Abwertung: "Wer arbeiten will, findet Arbeit." Ich bin überzeugt, dass ich nicht allein bin mit "meinem" Problem. Nicht im Hilfesystem. Knapp drüber, und aus Scham bloß nicht reinrutschen (und nicht drüber reden).
Leserbrief an den Freitag
Es schrieben auch Menschen, die durch #unten ihre Scham überwunden haben und die Briefe oder Mails mit vollständigen Namen zeichneten, weil ihnen jetzt bewusst geworden hat, dass ihre soziale Situation nicht ihr individuelles Problem ist. Das Problem ist vielmehr ein auf Profit orientiertes System, dass diese Armut produziert. Hier stellt sich dann die Frage, folgt auf #unten eine klassenkämpferische Initiative oder ist es ein Ersatz dafür?
Da müssen an #unten die gleichen kritischen Fragen gestellt werden wie an MeToo - "Kummerkasten von Mittelstandsfrauen oder neues feministisches Kampffeld" lautete hier eine Frage. Und MeTwo könnte zu einer Erweiterung und Stärkung von antirassistischer Praxis beitragen. #unten könnte der Anfang einer klassenkämpferischen Intervention sein.
Dann wären die Erzählungen der Betroffenen ein Anfang - ähnlich wie vor mehr als 150 Jahren in der frühen Arbeiterbewegung, als auch Berichte über das elende Leben der Arbeiter den Anstoß zur Organisierung gaben, wie Patrick Eiden-Offe in seinem Buch "Die Poesie der Klasse" für die Zeit des Vormärz gut herausgearbeitet hat.