Bizarr, aber rechtspolitisch angebracht

Der Ethikrat tendiert zur bedingten Befürwortung einer möglichst schmerzfreien Beschneidung

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Der Kinderarzt Wolfram Hartmann, der dem Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) vorsteht hat in der Sache eine klare Meinung: die Tendenz, die aus der gestrigen Sitzung des Ethikrates erkennbar wurde, empört ihn. Er sprach gestern von einem Skandal; seine Begründung: "Das Kindeswohl und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit haben bei der heutigen Entscheidung offenbar keine Rolle gespielt."

Ob der Ethikrat gestern tatsächlich schon eine Entscheidung getroffen hat, geht aus den Berichten über die gestrige Sitzung nicht hervor; vieles wird da noch offen gelassen. Aber Hartmann dürfte mit diesem Teil seiner Einschätzung schon richtig liegen. Wie die Vorsitzende des Ethikrates, die Medizinethikerin Christiane Woopen, verstanden wird, gibt es zwar im Ethikrat Vorbehalte gegen die Beschneidung, aber, dem übergeordnet, eine "Tendenz zur Erlaubnis der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen". Dies wurde als Tenor gestern auch in vielen Berichten so festgehalten: "Beschneidung ja, aber". Eine Beschlussfassung, die diesen Trend in letzter Minute noch umkehren würde, ist unwahrscheinlich angesichts dessen, worauf sich der Ethikrat in dieser Sache ausrichtet: einen "deutschmöglichen" (Thomas Bernhard) Konsens zu finden.

Dafür hat gerade der Kritiker, der das Kriterium der Körperverletzung nicht unter den Tisch fallen lassen wollte, der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel, den Schlüsselbegriff beigesteuert: "rechtspolitisch". Es geht bei der Beschneidungdebatte nicht um bloße juristische, medizinische, religiöse oder antireligiöse, kulturelle Argumente, es geht auch um eine politische Komponente, die das Zusammenleben mit Juden und Muslimen in einem wesentlichen Punkt berührt. So zweifelt Reinhard Merkel nicht daran, ob bei der Beschneidung von Jungen Körperverletzung und damit auch eine Rechtsverletzung vorliegen könnte - "Die frühkindliche Beschneidung ist ein massiver körperlicher Eingriff in die geschützte, verfassungsrechtlich geschützte physische Integrität des Kindes." Es sei "bizarr", wird Merkel zitiert, wenn Religionen das autonome Recht hätten, "in den Körper einer Person einzudringen".

"Man darf nicht - und das geschieht leider landläufig in der Diskussion bei uns - die Risiken und das unmittelbare Gewicht des Eingriffs unterschätzen. Wenn das wie bei den meisten, allermeisten jüdischen Beschneidungen ohne jede Anästhesie vorgenommen wird, dann ist das eine furchtbare Schmerzzufügung gegenüber dem Kind. Es steht außer Zweifel, dass diesseits religiöser Erwägungen so etwas rechtswidrig wäre."

Aber dennoch, so Merkel, spielen bei der Entscheidung pro oder contra-Beschneidung andere kollektive Werte auf eine Art mithinein, die auch die Entscheidungskompetenz oder den Entscheidungsrahmen des Bundesverfassungsgerichts überschreiten würden ( Beschneidung - die Diskussion wird über Gerichte weitergeführt):

"Eine realistische Prognose würde wahrscheinlich sagen, das Verfassungsgericht wird sich da heraushalten. Das ist in einem eminenten Sinn eine rechtspolitische Frage, die sogar die Außenpolitik ersichtlich berührt. Es wäre verheerend für die Politik in Deutschland, wenn die gelegentlich schon zu hörenden jüdischen Ankündigungen, man werde das Land verlassen, wenn Beschneidungen verboten würden, wahr gemacht würden. Das wäre verheerend. In diese Dinge wird sich das Verfassungsgericht nicht gerne einmischen wollen und wird in dem Gefühl, dass man bisher die Geschichte anstandslos hat geschehen lassen, auch jetzt vermutlich ein verfassungsgerichtliches Einschreiten nicht für geboten halten."

Interessant in der Diskussion, soweit sie über Medien vermittelt wurde, waren auch die medizinischen Fachbeiträge, wo es um den Schmerz bei der Beschneidung ging, so äußerte Eckhard Nagel, Medizin-Professor an der Universität Bayreuth und Mitglied des Präsidiumsvorstands des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Bedenken aus Sicht eines Mediziners gegen die Vollnarkose:

"Die Vollnarkose-Debatte geht in die völlige Absurdität, einfach deshalb, weil dann die Risiken sich automatisch deutlich über das erhöhen würden, was man vielleicht chirurgisch am Ende als Problem hat."

So zeigte sich auch beim Thema "wirksame schmerztherapeutische Maßnahmen", wie schon in den Diskussionen, die seit Wochen zur Beschneidungen geführt werden, dass es im Detail keine absolut beste Lösung gibt. Wie es aussieht, gibt es aber einen Konsens darüber, dass die Schmerzen mit lokaler Betäubung gelindert werden sollen. Medizinische Standards sollen eingehalten werden und vor der Beschneidung Vater und Mutter "intensiv aufgeklärt" werden, bevor sie ihre Einwilligung geben.

Dieser Weg, dass Eltern über mögliche Risiken aufgeklärt werden, bevor sie eine Entscheidung treffen, beschreitet man übrigens auch in Israel, Dort gibt es eine Debatte darüber, ob ein Ritual bei sehr traditionellen Beschneidungen, wo der Mohel das Blut mit seinem Mund absaugt, angesichts statistisch unbedeutender, aber in manchen Einzelfällen bedeutender Gesundheitsrisiken, als unzulässig gelten soll. Eine kinderärztliche Vereinigung plädiert für die Abschaffung dieses Rituals.