Die Steigerung von Business ist Mord

David Cronenbergs "Cosmopolis" wirft die Frage auf, was Politik jenseits ästhetischer Denkfaulheit im Kino eigentlich heißen kann?

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Die ganze Welt kondensiert in einem einzigen Tag, in einem einzigen Charakter und jenem Strom aus Gedanken und Gefühlen, der durch dessen Bewusstsein rinnt, direkt in das des Lesers - diesen Ansatz kennt man von James Joyces' Jahrhundertroman "Ulysses". 2003 griff ihn Don DeLillo auf, spätestens seit "Underworld" (1997) einer der wichtigsten amerikanischen Gegenwartsautoren. In "Cosmopolis" beschrieb De Lillo einen einzigen Tag im Leben eines Börsenmilliardärs aus Manhattan. Ein Börsencrash kommt vor, die universale Gier, 9/11 sowieso, der Cyberspace und viel viel Geld. Motto: "Nur Ratten zahlen!"

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Literarisch ein Breitwandpanorama des Finanzkapitalismus, eine apokalyptische Reise ins Herz der Finsternis unserer Gegenwart, aber vor der großen Krise, ist dies trotzdem kein Buch, das automatisch nach einer Verfilmung schreit. Der Kanadier David Cronenberg hat es jetzt verfilmt - und damit einen der spannendsten, und repräsentativsten Beiträge im diesjährigen Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschaffen. Und das in vieler Hinsicht.

Die Herausforderung war groß: Denn wie soll man eigentlich Dinge verfilmen, die sich fast ausschließlich im Kopf eines einzigen Protagonisten abspielen, der sich mit seiner Carrara-Marmor-getäfelten Stretch-Limo auf einer Odyssee durch Manhattan befindet, seinen Friseur aus Kindheitstagen besucht und dabei auf mehreren Bild-Schirmen im Auto das Welt- und Börsengeschehen verfolgt? Cronenberg (Regisseur von "Videodrome", "eXistenZ", zuletzt vom Freud-Jung-Drama "A Dangerous Method") erschien als der ideale Mann, um sich da für die filmische Umsetzung etwas einfallen zu lassen - zudem ist er wie DeLillo ein Postmodernist, man hätte von ihm also erwartet, dass er die Assoziationsströme der Vorlage in ein Bett aus reißerisch-grellen Bildern gießen würde.

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Das Gegenteil ist der Fall: Cronenberg erzählt den letzten Tag im Leben eines New Yorker Finanzhaies zwar ganz nahe an DeLillos Vorlage als bedrückendes Portrait westlicher Dekadenz und als bitteren Abgesang auf den Kapitalismus. Aber der Film ist trocken und aseptisch, was bei Cronenberg natürlich kein Zufall ist. "Cosmopolis" ist sein "Der Fremde", sein "American Psycho", seine Version von "Shame" - eine existentialistische Parabel. Die Hauptrolle spielt Mädchenschwarm und "Twilight"-Star Robert Pattison. Der Kanadier zeigt sich hier als Moralist, der für die funkelnde Kraft von De Lillos Vorlage vor allem eine visuelle Bühne bereitet, auf der die Schauspieler dann Sätze aufsagen, wie diesen: "Mord ist die Fortsetzung des Business mit anderen Mitteln."

Repräsentativ ist der Film, weil er nahezu alle politischen Motive der verschiedenen Filme in Cannes bündelt: Die Finanzkrise, die Kriege der Welt, die moralischen Dilemmata eines Westens, der oft zwischen Engagement und Gleichgültigkeit, zwischen Empörung und Zynismus schwankt, ohne das ein klarer Kompass des Handelns erkennbar würde.

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Denn was kann Politik im Kino eigentlich alles heißen - jedenfalls jenseits der Vielzahl mehr oder weniger bedeutungsvoller und daher auf zwischenmenschlicher Ebene auch immer politisch auszuhandelnder Themen.

Die Filme in Cannes waren glücklicherweise selten solche plakativen "Themenfilme", doch sie handelten von Sterbehilfe, Kindesmissbrauch, Behinderung, Resozialisierung in Europa, von europäischem Sextourismus in Afrika, von Rassen- und Klassenkonflikten in Mexiko, von Schuld und Sühne in Russland und ganz allgemein.

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Wenn man das so zusammenliest, dann wirkt das Filmfestival wie eine Höllenfahrt, ein Panorama des Schreckens, wie es die Maler Bosch und Breughel in der frühen Neuzeit entwarfen - schon damals nicht ohne Ironie, eher zur Ergötzung, als zur Einschüchterung der höheren Klassen und gebildeten Schichten.

Libyen und der Philosoph: "Le Serment de Tobruk"

Statt solcher oft geschmäcklerischen Exploitationfilme fürs Bürgertum sympathisiert man dann doch eher mit schlichten, aber eindeutigen Dokumentarfilmen: Zum Beispiel "Le Serment de Tobruk" vom französischen Starintellektuellen Bernard Henri Levy, in der die Geschichte des Befreiungskampfes von Libyen und der westlichen Unterstützung erzählt wird.

Zwar ist dies ein erkennbar eitler Film, in dem BHL, wie man ihn in Frankreich nur nennt, immerzu blendend angezogen, im weit offenen weißen Hemd, zwischen Ruinen, Schützengräben und Flüchtlingslagern flaniert, um in der nächsten Szene wieder an der Seite von Sarkozy oder Hilary Clinton Weltpolitik zu betreiben. Aber immerhin ist ihm das auch gelungen. Der Film hält mit nichts hinterm Berg, er ist offen und klar - und er zeigt, wie die Anti-Ghaddafi-Koalition geschmiedet wurde, und welche Opfer die lybische Bevölkerung zu erleiden hatte. Es ist ein aufrüttelndes, emotionales Kinodrama, das Pathos nicht scheut, das uns Gleichgültigen in den westlichen Metropolen klarmachen möchte, dass es an uns selber und nur an uns liegt, ob der Westen für den Rest der Welt ein Stück Hoffnung verkörpert - oder nur das Objekt von Verachtung.

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Zudem ist "Le Serment de Tobruk" ein Hohelied auf einen Typus des engagierten Intellektuellen, der persönlich mutig und bewusst subjektiv eingreift - einen Typus, wie es ihn bei uns gar nicht gibt, neben dem ein Günter Grass wie ein politischer Clown und eine Farce wirkt.

Aber auch in diesem Film liegt die Politik wieder immerzu nur im Inhaltlichen. Als ob die Filmemacher alle ästhetisch denkfaul geworden seien. Was eine politische Form im Kino sein könnte, das repräsentierte der Franzose Leos Carax als Singulär im Wettbewerb von Cannes: Carax' "Holy Motors" war das ohne Frage herausforderndste Werk im Wettbewerb - einer dieser Filme, wie man sie eben nur in Cannes zu sehen bekommt. Und dies nicht allein wegen seines unverhohlenen Ästhetizismus, sondern auch wegen seines Anarchismus.

"Holy Motors" dessen Handlung sich unmöglich nacherzählen lässt, ist eine versponnene, assoziative, aber sehr romantische (Geister-)Geschichte, im Stil der intellektuellen Psychothriller von David Lynch.

Ein Film, der der Traumlogik folgt, der Realität und Phantasie unhierarchisch, gleichberechtigt und zunehmend ununterscheidbar behandelt. Und ein melancholischer Abgesang auf die alte Moderne. Das ist deshalb politisch, weil es den Betrachter auf sich selbst zurückwirft und aktiviert. Nur er kann sich den Film erklären, der Film oder der Regisseur nimmt ihm das nicht ab. Die Schönheit heißt es an entscheidender Stelle, liege im Auge des Betrachters. Die Politik auch - darum sollten die Künstler ihre Gestaltung nicht den Politikern überlassen.