"Du mußt dein Leben ändern"

Bundestrainer Peter Sloterdijk ruft ins Trainingslager

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Peter Sloterdijk hat einen Plan: die Rettung der Menschheit. Um das zu gewährleisten hat er einen als philosophisches Essay verkappten Fitness-Ratgeber veröffentlicht. 723 Seiten, wie üblich gespickt mit geistvollen Sätzen. Seine Methode: Zeigen, dass eine Rückkehr zur Religion nicht möglich ist, weil es ohnehin keine Religion und keine Religionen gibt, sondern nur "mißverstandene spirituelle Übungssysteme". Weltweit, so Sloterdijk, leben Menschen nicht nur in materiellen Verhältnissen, sondern auch in rituellen Hüllen und "symbolischen Immunsystemen". Er will dies durch eine Philosophie des In-Form-Kommens ergänzen.

Man wirft Sloterdijk gerne seine balsamierte Sprache vor, dem Mann entspringen ja auch wahrlich Getüme der Schriftkultur. Aber Sloterdijk weiß ob der schadhaften Vorbelastung der vielen, so geläufigen Wörter. Als spirituell Eingehauchter will er den herkömmlichen Religionsbegriff aus den Fängen seiner Verwalter reißen. "Gelingt das Manöver", so Sloterdijk, wird "jener unselige Popanz aus den Kulissenhäusern Europas, als der große Verlierer aus diesen Untersuchungen hervorgehen".

Kein niedriger Anspruch, wie kann das klappen? Ganz einfach, durch die Belebung einer "Lebensübungslehre", einer "allgemeinen Asketologie" in Anschluss an den nietzscheanischen Übermenschen. Und das Werkzeug für die Ausbildung dieser geübten Mitmenschen sind die "Anthropotechniken". Hierunter versteht Sloterdijk die mentalen und körperlichen Übungsmethoden, mit denen Menschen verschiedenster Kulturen versuchen, "ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewißheiten zu optimieren".

Ganz nebenbei steht dieser übende Mensch als Bindeglied zwischen Natur und Kultur und versöhnt in diesem "Garten des Menschlichen" (Carl Friedrich von Weizsäcker) die Bereiche – wenn es gut läuft.

Der deutsche Bundestrainer der übenden Existenzen ruft also ins Trainingslager und hebt die Exzellenzinitiative für sportlich-spirituell Aufbruchswillige aus der Taufe. Der Mensch ist in seinen Übungsversuchen ein "aufsteigendes Tendenztier", eher Akrobat als Mängelwesen.

Um die Jungs und Mädels auf Trab zu bringen müssen Leitdifferenzen her, damit sie, in Sloterdijks Sprache, ihrer "Vertikalspannungen" bewusst zu werden. Vornehm vs. Gemein, Exzellenz vs. Mittelmaß, Heilig vs. Profan, Erleuchtung vs. Verblendung, Fülle vs. Mangel.

Neues erfinden braucht der Karlsruher Philosoph nicht, er übersetzt die alten Schriften der Aufstiegsexperten in seine Alternativsprache. Die ist gewohnt blumig, so liest sich auch dieser Sloterdijk in vielen Passagen besser poetisch.

Nietzsche steht dabei am Anfang der modernen Methoden des Übens an der eigenen Form. Sloterdijk wünscht sich den asketischen Planeten, eine Erde, auf der die Menschen ihrer Existenz mit höheren Fitnessprogrammen einen Sinn geben. Sportler sind demnach entspiritualiserte Asketen, Extremsportler die "spirituell entleerten Gegenstücke des Heiligen".

Der Bogen ist gewaltig, über Kafkas Hungerkünstler (Ein "Nichts schmeckt mir hier"-Urteil), Pierre de Coubertins Olympismus und dem, was davon übrig geblieben ist, nämlich die Integration der Spiele in eine Massenkultur, wobei mit jeder Wiederholung sich sich "noch entschiedener in eine profane Eventmaschine" verwandelt, bis zu der Church of Scientology ("Die effektivste Weise, zu zeigen, daß es Religionen nicht gibt, besteht darin, eine in die Welt zu setzen") und ihrem Stifter Ron Hubbard, der eine Lösung gegen alle Probleme aus der Tasche zog.

Sloterdijks religionskritischer Ansatz weitet sich über die Scientology aus und wirft Religion vor, nur ein Ausdruck zu sein, der nach "innen hin ein Passwort" ist, um die schwachen, "von Ausbeutung gefährdeten Zonen der Psyche auzusschließen", und nach außen hin "ein Badge, den man beim Einlaß in die Welt des respektablen Scheins vorzeigt". Aus seiner Sicht ist organisierte Religion ein "Illusionsübungsverein".

Wie soll das alles anders laufen? Die Lösung liegt darin, dass der Einzelne sich einer transzendenten Ursache zuliebe über seinen mentalen oder körperlichen Status erheben will.

Sloterdijk bemüht sich um die Klärung der mit Aufstiegsprozessen verbundenen Herrschafts- und Unterwerfung-Phänomene mit einer foucaultschen Volte, den er mit dem Satz zitiert: "Natürlich konnte man die Individuen nicht befreien, ohne sie zu dressieren." Er zeigt das vulgär-psychedelische Missverständnis, "wonach jedes Außer-sich-Geraten auch schon ein Über-sich-Hinausgehen" sei und er beklagt die unberechtigte Treibjagd gegen das Ego. Er zeigt die zehn Trainer-Typen, Guru (Typ Daum), Apostel (Typ Klinsmann), Philosoph (Typ Rehagel), um nur drei zu nennen. Sie alle generieren eine bei Übenden eine "Förderspannung", die gleichsam aus sich selbst gesteigertes Können hervorruft.

Aber Sloterdijk weiß ob des "Basislager-Problems", der Tatsache also, dass die meisten Menschen aus welchen Gründen auch immer nicht daran denken, mehr werden zu wollen, als sie sind. "Ermittelt man die Durchschnittsrichtung ihrer Wünsche, ergibt sich der Befund: Sie wollen, was sie haben, nur komfortabler." Ihm ist klar, dass nur eine Elite den Ausstieg aus dem Fluss der Gewohnheiten wagt. Den Anstoß liefern muss das Innerste selbst, manchmal reicht ein Satz wie "Fort damit!", um sich vom "Trubel der Tagesthemen" erst einmal abzukoppeln. Frei machen, auch von Reklame und Werbung. Denn die "erzeugt Trugbilder von käuflicher Selbsterhöhung, die de facto meist Schwächungen bringen".

Am Ende soll aus der Metaphysik eine anwendbare Immunologie gemacht und aus dem "eigenen Dasein ein Gegenstand der Bewunderung" geformt werden. Dann darf getanzt werden, auf den gelobten "Festivals auf dem Hochplateau des Bergs der Unwahrscheinlichkeiten". Seine Hoffnung sind die neue Konfigurationen von Kontemplation und Fitness. Wenn man dreist sein will, lässt sich das in "Macht mehr Yoga!" zusammenfassen. So verweist Sloterdijk auch immer wieder auf indische Übungstraditionen. Aus seiner Sicht ein notwendiger Schritt über die herrschende Rationalitätskultur hinaus. Dann sollten Selbstgespräche mit dem inneren Zeugen folgen, Fürsorge für andere darf man später wieder entdecken. Nicht jeder ist für die erste Geste geschaffen, die nötig ist, um sich auf den Weg zu machen. Religiosität ist aus Sloterdijks Sicht das Talent der Ergriffenheitsbegabung, mit Musikalität vergleichbar.

Fazit: Kein Buch für Verlierer, hier kommt nur durch, wer den Nachbarn als Parkplatzkonkurrenten identifiziert hat.

Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009.