Ende des verkrampften Leistungsdenkens

Sieg des Hedonismus: Borussia Dortmund beschert im DFB-Pokalfinale dem FC Bayern ein Debakel mit Folgen

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"Das ist ja mittlerweile 'ne Verarschung". Irgendwann platze Stefan Effenberg der öffentlich-rechtliche Kragen und er redete so wie früher auf dem Platz. Der Co-Kommentator von Sky und Mitspieler beim letzten Championsleage-Sieges des FC Bayern vor über zehn Jahren brachte Dinge auf den Punkt, die seine deutlich geschockten Ex-Kollegen auch Stunden nach dem Sieg nicht wahrhaben wollten: Mit einem überlegenen, auch in der Höhe verdienten 5-2 Sieg im DFB-Pokalfinale und dem ersten Gewinn des Double krönt Borussia Dortmund eine Saison der Rekorde. Die Borussen hatten allen Grund zu lachen und sich zu freuen. Doch der gelbschwarze Sieg im "Kampf der Giganten" im deutschen "Clásico" reicht tiefer. Mit dem fünften Sieg über den FC Bayern hintereinander und einer Saison der Rekorde hat Borussia Dortmund nun nicht nur eine bemerkenswerte "Wachablösung im deutschen Profifußball" vollzogen. Auch die Chancen auf einen grundsätzlichen Stilwandel im deutschen Fußball sind so groß wie nie.

Lust, Freude, Kreativität - diese Begriffe hatte man im Zusammenhang mit dem oft verbissenen Leistungssport Fußball lange Zeit nicht gehört. Die allen anderen Bundesliga-Teams seit den 1970er Jahren deutlich überlegene Mannschaft des FC Bayern pflegte über Jahrzehnte eher den verbissenen Konkurrenzkampf, hart nach Innen, arrogant nach Außen. Gegner wurden weggekläfft, spitze Kommentare und Verbalangriffe der selbsternannten "Abteilung Attacke" Uli Hoeneß sollten die Mannschaften verunsichern, die am Münchner Fußballthron zu rütteln versuchten.

Psychokriege, Wegkaufen und ein neues Gegenmodell

Konkurrenz war das Modell, Effizienz das Gebot. Und wenn das allein einmal nicht ausreichte, verlegte man sich auf das Entfesseln von Psychokriegen. Mit Erfolg. Regelmäßig tappten die Gegner in die aufgestellten Fallen: Unvergessen ist die Hybris des Eintracht-Frankfurt-Trainers Klaus Toppmöller, der sich als seinerzeitiger Tabellenführer auf einer Pressekonferenz noch vor der Winterpause allen Ernstes zu einem "Bye Bye Bayern" hinreißen ließ. Der Spruch ging zwar in die Bundesligahistorie ein, doch die Eintracht verlor prompt die nächsten Spiele und selbstverständlich die Meisterschaft. Oder der jahrelange Kleinkrieg mit Christoph Daum, der als Trainer von Köln, Stuttgart und Leverkusen zwischen den 1980ern und den frühen 00er Jahren der hartnäckigste Konkurrent des FC Bayern wurde.

Wenn derartige Rezepte dann mal nicht fruchteten, kaufte man eben erfolgreiche und darum gefährliche Spieler wie Trainer weg. So etwa Ottmar Hitzfeld, der als Dortmunder Trainer von 1989 bis 1997 bereits einmal den BVB in den gefährlichsten Konkurrenten der Münchner verwandelt hatte, in das einzige Team, dem es seit der Gladbacher "Fohlenelf" 1975-1977 außer dem FC Bayern gelungen war, einen Meistertitel erfolgreich zu verteidigen (seinerzeit allerdings nicht durch ein fußballerisches Gegenmodell, sondern indem Hitzfeld den FC-Bayern-Effizienz-Stil perfekt kopierte).

Genau dies ist Borussia Dortmund nun wieder gelungen - und zwar mit einem mannschaftsorientierten Zauberfußball, der den FC Bayern wie eine knarzende verbrauchte Maschine aussehen lässt. Der Grund allerdings ist grundsätzlicher: psychologisch und ästhetisch.

In der Hybrisfalle

Denn bei der Dortmunder Borussia unter Jürgen Klopp, Hans-Joachim Watzke und Michael Zorc nutzten die etwas abgenutzten Psychotricks von Hoeneß nichts. Stattdessen tappte der FC Bayern selbst in die Hybrisfalle. Dortmund sei "keine große Gefahr für den FC Bayern" behauptete Hoeneß im Kicker-Interview, die Spieler nicht Weltklasse, und er ziehe erst den Hut vor Dortmund, wenn der BVB auch international mal etwas erreiche. Und Philipp Lahm kündigte vor dem Pokalfinale an, man müsse die negative Tendenz wenden. Wer solche Sprüche klopft, und den Gegner kleinredet, muss liefern. Ansonsten schlagen die Sätze auf einen selbst zurück: Denn wer gegen Spieler verliert, die "keine Weltklasse" sind, sieht schlechter aus, als wer es mit einem Konkurrenten auf Augenhöge zu tun hatte.

Und wie sie verloren haben: Schon nach zwei Minuten stand es 1-0, dann musste ein von Gomez geschundener, zweifelhafter Elfmeter für den Ausgleich herhalten, der aber zum Fanal für den Dortmunder Sieg wurde, indem er den bis dahin nicht besser agierenden BVB erst richtig motivierte. Noch vor der Pause stand es verdient 3-1, nach der Pause hätte Dortmund sogar das sechste oder siebte Tor schießen können. Aber das 5-2 war deutlich genug. Und immer wenn der FCB kurz Luft zu schöpfen schien, legte der BVB einen Zahn zu und ließ so wenig Zweifel am Sieg aufkommen.

Schlechte Verlierer

Der FC Bayern erwies sich als schlechter Verlierer und das Wenige, das in Berlin noch Bestand hatte, war die Bayern-Arroganz: "Wir waren die bessere Mannschaft", behauptete Philip Lahm, spürte aber immerhin die Absurdität dieses Satzes. "Dortmund hatte vor der Pause nur eine Chance", behauptete Trainer Jupp Heynckes, ohne zu erklären, wie dann drei Tore zustande kamen. Andere waren realistischer: Ex-Bayern-Titan Oliver Kahn stammelte im ZDF: "Wenn sich der FC Bayern so, ich will nicht sagen 'abschlachten' lässt... Das darf man als FC Bayern nicht."

"Nach der besten Saisonvorbereitung aller Zeiten" (Uli Hoeneß) stehen die Bayern nun davor alles zu verlieren. Entweder man gewinnt am nächsten Samstag gegen den FC Chelsea die Championsleague, und (fast) alles rundet sich doch noch zum Happy End. Dann darf der BVB zwar T-Shirts drucken, auf denen in Geld auf Schwarz "Champeonsleague-Sieger-Besieger" steht, aber die Bayern haben noch einmal ihre Position als internationale deutsche Nummer eins verteidigt. Oder sie stehen vor den Scherben einer Saison ohne Titel. Genau diese Gefahr sehen Beobachter wie Kahn, der Motivationsprobleme eines Hochleistungsteams in der Stunde der Demütigung ansprach: "Die Erfolge nähren Dich"

Es dürfte dann auch interessant sein, welche Folgen das Pokalfinale für die deutsche Nationalmannschaft haben wird. Dies weniger wegen so dummer wie bösartiger und überflüssiger Fouls, wie sie Gomez am Nationalmannschaftskollegen Schmelzer vollzog, als auch, weil gestern ein klein wenig die deutsche Nationalmannschaft gegen die polnische verlor: Drei Lewandowski-Treffer gegen den deutschen Nationaltorhüter, drei polnische Nationalspieler gegen acht deutsche entschieden den Dortmunder Sieg. Dortmund feiert den ersten Double-Gewinn der Clubgeschichte und krönt damit eine exzellente Spielzeit.

Das Gegenteil von Druck

Fünf Niederlagen gegen den gleichen Gegner in Serie sind den Bayern noch nie passiert. Wie oft muss man eigentlich den FC Bayern noch schlagen, um von Hoeneß auf eine Stufe mit den Münchnern gestellt zu werden? Einige Aufklärung über die Geheinisse der Überlegenheit der "Bestia Biene Maja" (so eine spanische Zeitung) könnte Hoeneß aus dem Interview ziehen, das Jürgen Klopp am Samstag in der "Süddeutschen Zeitung" gab. Das zentrale Zitat sagt eigentlich alles über die Unterschiede zwischen beiden Clubs und den Dortmunder Ansatz:

"Vielleicht muss man sich auch in München in Zukunft leisten, geduldiger zu sein. Wenn ich lese, dass Uli Honeß sagt, man hätte es sich nicht leisten können, einen Ilkay Gündogan zu holen, weil der nicht sofort einschlägt und funktioniert, finde ich das problematisch."

Siege sind schön, argumentiert Klopp, aber Siege sind nicht alles. "Ganz viele Menschen, vor allem BVB-Anhänger, werden sich noch in zehn, zwanzig Jahren an unser 4:4 gegen den VfB Stuttgart erinnern. Wir sind angetreten, besondere Momente, besondere Erinnerungen zu schaffen. Wenn wir erst in drei Jahren wieder um den Meistertitel mitspielen könnten, müssen wir auch das aushalten."

Klopp spricht von der "extremen Lust aufs Gewinnen", aber noch mehr von Gruppendynamik, gemeinsamen Erfahrungen und Spielraum für Entwicklungen. Von nachhaltiger und ständiger Verbesserung. Er erteilt dafür "zugekaufter Erfahrung" eine Absage - und skizziert genau alles das, was der FC Bayern nicht hat und ist:

"Gemeinsame Erfahrungen sind wichtiger als Erfahrungen, die man einzeln irgendwo gemacht hat. Richtig erfolgreiche Mannschaften häuten sich nicht wie Schlangen. Sie bleiben auf der Mehrzahl der Positionen über Jahre zusammen. Es geht nur darum, den Spielern zu vertrauen, und diese müssen dann hungrig bleiben."

Auch die Vorbilder werden offen benannt: Der FC Barcelona (womit der FC Bayern nebenbei zum bösen, kalten, mechanischen "rechten" Real Madrid wird) und der AC Mailand "Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre", mit Baresi, Gullit, von Basten und Rijkaards.

Fußball ist ein Mannschaftssport

Woran die Dortmunder Erfolge vor allem erinnern: Fußball ist ein Mannschaftssport. Trotz aller Individualisten entscheidet am Ende das Kollektiv, und in das, was für die Mannschaft gut ist, haben sich die einzelnen Spieler zu integrieren.

Aber jenseits dessen geht es offenkundig noch um grundsätzlich anderes: Humor, gute Atmosphäre, Spaß, das Gegenteil von Druck: "Ich würde in so einem Umfeld nicht arbeiten wollen." (Klopp) Alles in allem ist klar: Dortmund hat derzeit das Momentum für sich, aber auch der Blick auf die großen Linien und längerfristigen Entwicklungen, auf die schwebenden Potentiale des Fußballs, lässt für München nicht viel Gutes und für Dortmund einen ganzen Himmel von Möglichkeiten erwarten.

Es gibt verschiedene Lesarten dieses Resultats: Politisch als Sieg des freiheitlich-offenen, grün-libertären "linken Fußballs" (Luis Cesar Menotti) über den "CSU-Verein" FC Bayern. Sozialhistorisch als Sieg des Traditions- und Arbeiterclubs Dortmund über einen FC Bayern, der fußballgeschichtlich ein Emporkömmling ist: Zwar gewann man 1932 die erste Meisterschaft, doch dann dümpelte man bis in die späten 1960er in Regional- und Oberliegen herum, zu Zeiten, als die großen Clubs aus (u.a.) Barcelona, Madrid, Mailand, Turin, Porto, Lissabon, Manchester und London längst auf ihren jeweiligen nationalen Terrains feste Größen waren - während der Stadtrivale TSV 1860 1966 Bundesligameister wurde.

Und als Sieg des lockeren Hedonismus über verkrampftes Leistungsdenken. Gerade hier könnten und müssten auch jene Kulturwissenschaftler ansetzen, die im Sport einen gesellschaftlichen Seismographen erkennen.

Gewiss ist allein: Irgendwann endet alles, auch im Fußball. Auch der Dortmunder Zauberfußball. Aber auch die Vorherrschaft der Bayern ist kein Naturgesetz im deutschen Fußball. Für die Fans und alle, die Fußball lieben, außer für ein paar Münchner, ist das eine gute Nachricht.