"Ideen trennen, Träume verbinden! Nein Albträume!"

Quo Vadis Europa? - Rüdiger Suchsland über Jean-Luc Godard und "Film Socialisme" in Cannes

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In 140 Zeilen etwas über Godards neuen Film zu sagen, sei unmöglich, schreiben zwei Kollegen einstimmig auf "Cargo". Das schreiben gerade die, die aus dem Kino gern noch SMSe mit ersten Eindrücken verschicken. Das kann man natürlich machen, wie so vieles, aber ich gebe zu, dass mich diese neue Filmkritik-per-SMS-Kultur doch um einiges mehr irritiert, als wenn Kritiker einfach ihre Aufgabe erfüllen, zum Beispiel auf 140 Zeilen einen sinnvollen ersten Eindruck zu formulieren. Versuchen wir's also.

Alle Bilder: Vega Film
Alle Bilder: Vega Film

Davon abgesehen: Für wen sind eigentlich diese SMS, außer für Freunde der Freunde? Und die, die sich gern für Freunde halten. Und für andere Kritiker, die natürlich solches Zeug immer lesen, schon weil man wissen will, was die Kollegen machen. Mit Godard haben diese Fragen insofern dann etwas zu tun, als es in seinem Film unter anderem um Kritik und ihre Funktion geht. Und um Unterhaltungsindustrie. Man versteht Godard sicher nicht falsch, auch wenn der Gedanke nicht sehr originell ist, wenn man unterstellt, dass für ihn solche Formen doch irgendwie eitlen Entertainments nichts mit Filmkritik zu tun haben.

A propos SMS: Kurz vor der Premiere war die Absage von Godard für Besuch und Pressekonferenz gekommen. Später im Gespräch sagt eine Freundin, Godard habe an seinen Weltvertrieb "Wild Bunch" eine SMS geschrieben, mit der Bemerkung, dass er beim jetzigen Zustand der Welt auch in Cannes nicht über einen Roten Teppich laufen möchte. In der Zeitung am Morgen ist dagegen von einem Fax die Rede: "Je ne pourrai être votre obligé à Cannes. Avec le festival, j'irai jusqu'à la mort, mais je ne ferai pas un pas de plus. Amicalement. Jean-Luc Godard".

Wofür man die Kollegen von "Cargo" andererseits nicht genug loben kann, ist ihre geradezu enkelhafte Fürsorge um Großvater Godard. Es gibt dort außer besagten SMSen auch ein Interview mit Alexander Horwath (das ich noch nicht hören konnte, weil das hier im Presseraum von Cannes nicht funktioniert) und den Hinweis auf ein sagenhaftes, auch sagenhaft langes Interview mit Godard, das Dani "le Rouge" Cohn-Bendit mit ihm geführt hat. Im Original auf Französisch hier und dann in englischer Übersetzung.

Bei der ersten Vorstellung von "Film Socialisme" sitzt die Creme de la Creme des französischen Films im Kino: Zwei Reihen vor mir sehe ich Agnès Varda, direkt vor mir Claire Denis und Laurent Cantet. Der döst dann zwar später mal eine ganze Weile, bleibt aber drin - im Gegensatz zu manchem Kritikerkollegen, aber dazu ein andermal. "Merveilleux" rief Claire Denis nach der Vorstellung vernehmlich wie spontan, und dem können wir uns nur anschließen: Ein wunderbarer Film!

Verstanden haben wir ihn trotzdem bestimmt auch nicht ganz, aber man kann es ja mal versuchen: Das wichtigste Stilelement ist die Montage. Godard montiert - und hier passt der mechanistische Ausdruck einmal -, er montiert diverse vorgefundene Bilder - von alten Wochenschauen und Kinofilmen, über Fotos zu selbst gedrehten Dokumentstücken - mit inszenierten Szenen. Er montiert Tonspuren übereinander. Die Sprachen sind Französisch und Englisch, aber auch mal Deutsch, Russisch, Hebräisch, Arabisch. Übersetzungen gibt es keine, jedenfalls keine direkten. Daher wird kaum einer den Film komplett einfach verstehen können. Parallel zur Tonspur gibt es eine Untertitelspur, die in Englisch eben nicht übersetzt, sondern Wortkombinationen montiert, mit dem Ergebnis, dass dies eine eigene Ebene ergibt.

Jean-Luc Godards Englisch auf dieser Untertitelspur ist wie das der Indianer im Western: "first produce no say show first what's possible" Oder: "think hard what you fight for may obtain."

Im Stil eines Bewusstseinsstroms geht es auf diese Weise voran. Der Film will ganz bewusst ein Essay sein, keine Handlung erzählen. Zweites Stilmittel ist die Vielstimmigkeit: Schauspieler sprechen im Bild oder aus dem Off die Sätze, die wohl oft als Ausdrucks Godards selbst gesehen werden dürfen, nicht als die einer Rolle. Es gibt aber auch Dialoge. Anscheinend sind viele der Sätze aus Büchern anderer Autoren entlehnt. Vielstimmig sind auch die Bilder in dem Sinn, dass sie formal verschiedene Qualität haben. Man kann sagen, dass dies ein Fall ist, wo das Digitale eher nicht weiter führt: Diverse Mätzchen in der Farbgestaltung der HD-Kamera stören eher, als das sie Gewinn bringen.

"Film Socialisme" ist eine geschichtsphilosophische Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das kulturelle und politische Erbe Europas, verbindet viele Ebenen. "Quo Vadis Europa?" ist die Leitfrage, das antike Griechenland, das Ägypten der Pharaonen, Odessa, Barcelona und Neapel - also das Mittelmeer als der Geburtsort von Demokratie und Menschenrechten - bilden die räumlichen Eckpunkte dieser Reise. Es sind Orte, in denen sich christliche und andere Kulturen vermischen und treffen. "Ach Deutschland" Das fällt dreimal.

Weiter: Der Film zerfällt in drei grobe Teile. Der erste, längste Teil zeigt eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, auf einem Riesen-Ozeandampfer, der "Titanic" heißern könnte, oder das Schiff sein, auf dem bei Manoel de Oliveras "Um filme falado" gereist wurde. Dieser Teil verbindet Tourismus mit Reflexionen über Imperien: Byzanz, Rom, Griechenland, Ägypten. Britische und deutsche Bomber im Zweiten Weltkrieg, Kamikaze, Napoleon vor Moskau. Am Tag, als er die brennende Stadt verlässt, hat er das Dekret zur Gründung der Comedie Francaise erlassen. Und so weiter… Dialektisches Denken mit der Kamera, das sich selbst erklärt und versucht, der Empirie Thesen abzuringen. Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehinweise wie Balzacs "Verlorene Illusionen" und Texte von Andre Gide oder Nagib Mahfus.

Im zweiten Teil geht es um eine Kleinfamilie in der französischen Provinz. Die Kinder proben den Aufstand. Das Fernsehen ist dabei. "Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten", sagt eine Tochter.

Der dritte, kürzeste Teil verbindet dann Palästina und das Opfern der Söhne durch die Väter seit Abraham - "I see the fire, but I dont see the lamb."/"God will do the Holocaust" - mit der Sprachtheorie von Roman Jacobson, die eben im fraglichen Holocaust-Winter 1942/43 entwickelt wurde. Man hört "Sag mir wo die Rosen sind", dann kommt Eisensteins Treppe in Odessa, ein griechisches Theater und - "democracy + tragedy married. One child: civil war". Spanien: Barcelona, Barças Iniesta in Zeitlupe und eine Feier "Viva Don Quixote!!" Es fehlt also nichts Wesentliches in diesem Film. Aber was soll das jetzt alles?

Tolstoi schrieb seinen Roman "Krieg und Frieden" 56 Jahre nach Napoleons Rußlandfeldzug. Die Reflexion braucht Zeit. Aber jetzt wird es Zeit langsam damit anzufangen, dem 20.Jahrhundert, besonders den Jahren 1933-1945 eine Form zu geben.

Ich erkläre mir den Film als einen Versuch, eine Summe des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Die notgedrungen skeptisch ausfallen muss. Paranoia hat ihren Platz. Es geht viel um Gold, das Spanische, das angeblich von den Kommunisten geklaut wurde. Das der Bank von Palästina. Das der Araber in den Transporten der Sklavenkarawanen.

Die Stimmung ist von Trauer und Abgesang geprägt. Und von Hoffnung: "20 Jahre alt sein, recht haben, sehen statt lesen." Godard ist auch ein Filmemacher, der sich nie um klare Aussagen herumgedrückt hat: "Ideen trennen, Träume bringen zusammen", lautet eine davon. Eine zweite: "Der Traum des Staates: Eins sein", der Traum der Menschen: "Zwei sein". "Film Socialisme" ist extrem anregend. Solche Filme müsste man machen. Mehr machen. Dies ist genau das, wozu Kino da ist.

Und es geht um Utopie. An der will Godard festhalten. "Ich will nicht sterben, bevor Europa glücklich ist." Hoffentlich geht dieser Wunsch in Erfüllung. "Godard for ever", hieß es in der "Liberation".