Superreiche beim Psychiater

Einblick in eine doppelt obskure Welt

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"Reiche sind nicht therapierbar", gab Anfang der Neunziger ein Lehranalytiker seinen Schülern mit in die Stunde. Als Grund nannte er das viele Geld, mit dem das Unterbewusste erfolgreich von der Erkenntnis abgeschottet werden kann. Wenn man jederzeit eine Stunde ausfallen lassen kann, weil der Preis für die teure Therapie mit leichter Hand und leichter Seele bezahlt wird, wie soll da beispielsweise jener therapeutisch so wichtige Frust entstehen, der bei Normalsterblichen garantiert eintritt, wenn sie für die versäumte Stunde eine schmerzliche Summe hinlegen müssen. Während man die normal begüterten Patienten bei ihrem Ärger packen kann und ihnen auf den Zahn fühlen, damit endlich das Unterbewusste spricht und offen legt, warum die therapeutische Arbeit gerade an diesem Punkt verweigert wurde, gilt für die Reichen das "Inspector Sledge Hammer"-Prinzip": Selbst Folter kann bei manchen Personen kein Unterbewusstes heranschaffen.

So kann auch der fünfseitige Artikel über "Herausforderungen, die von Patienten gestellt werden, die über 600 Dollar pro Stunde an ihren Therapeuten bezahlen", der gestern in der New York Times erschien, kein substantiell neues Licht in Welten bringen, von denen wir uns doch gerne von anderen Härten hätten ablenken lassen wollen. Aber immerhin erfahren wir: Superreiche zahlen ihren Shrinks in den USA gegenwärtig zwischen 400 und 600 Dollar pro Dreiviertelstunde, was die Therapeuten ihrerseits auch zu reichen Menschen macht, sie jedoch nicht auf das gleiche Niveau hebt, wie beklagt wird: Viele würden sich vom Reichtum ihrer Patienten verführen lassen und sich mit ihnen und ihrer verführerischen Welt identifizieren - bis hin zu einer "kriecherischen Annahme des Standpunkts der Patienten".

So profitieren -. vom Standpunkt des Therapeuten aus gesehen - vor allem die Therapeuten von diesen epischen Begegnungen, weil sämtliche "produktive" Arbeit an Selbstreflexion an ihnen hängen bleibt. Die neuen Reichen hätten dies, so die Ausführungen, die zu weiten Teilen auf Erfahrungen des auf Superreiche spezialisierten Psychiaters T. Byram Karasu beruhen, eigentlich nicht mehr nötig. Denn im Unterschied zu früheren Reichen, die ihren Reichtum standesgemäß geerbt haben und unter der Bürde litten, würden viele der neureichen Patienten jetzt behaupten können, dass sie ihr Geld selbst verdient haben. Und obendrein genug Bestätigung bekommen, dass sie Winner-Typen seien - eine Einstellung mit aggressiveren Nebenwirkungen, die die behandelnden Psychotherapeuten vor neue Herausforderungen stellt und wiederum neuen Stoff für die Arbeit an ihnen selbst liefert.

Hauptbefund der New York Times: Der Narzismus der reichen Patienten neuen Typs ist so ausgeprägt, dass Depressionen keine Chance haben.

Warum die Superreichen dann überhaupt zum Therapeuten gehen, bleibt im Dunklen. Vielleicht ist es tatsächlich ein Problem, immer zu gewinnen, wie ein Fallbeispiel aus Dr. Karasus Praxis nahelegt. Aber hier könnte die Kreditkrise, die noch immer nicht zuende ist, manche Hedge-Fonds-Selfmade-Men mit dem Realitätsprinzip vertraut machen. Was die Superreichentherapeuten betrifft, so dürften sie eigentlich als doppelte Gewinner dieser "Challenge" herausgehen: einmal durch den üppigen Stundenlohn, zum anderen durch ihre erarbeitete neue Selbsterfahrung in der Konfrontation mit den selbstbewussten Schwerreichen.

Doch bleibt die Begegnung mit dem großen Geld auch für sie nicht ohne Gefahr des Realitätsverlustes, wie der Amazon-Rezensent eines Buches von Dr. Karasu offenlegt: In seinem Buch über die "Kunst der Aufrechterhaltung einer Ehe" würde der Autor Karasu an mehreren Stellen seines Ratgebers eine gute finanzielle Ausstattung blind voraussetzen. So im Kapitel "Have Many Children; It Will Be Good for Your Marriage" oder dort, wo er separate Badezimmer und Schlafzimmer für die Ehegatten empfiehlt.