Verstrahlte Politik

Interaktive Karte simuliert geplante Nuklearziele von 1956

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Letzten Dezember hatten die USA die bis dahin geheime Liste ihrer 1956 geplanten Atombombenziele der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (Atombomben auf Ost-Berlin). Der damalige Air Force-Chef General Curtis LeMay, der bereits die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki kommandierte, hatte seit Ende der 1940er Jahre offen für einen nuklearen Präventivkrieg plädiert.

Nunmehr haben die National Security Archives eine interaktive Karte ins Netz gestellt, in der man 1100 Zielgebiete abrufen und die Intensität der verschiedenen Bombentypen von Davy Crocket bis zur Zar Bombe simulieren kann. Das Programm präsentiert nicht nur die Radien von thermaler Zerstörung, sondern auch die hochgerechneten Opferzahlen.

Die Karte ist allerdings etwas ungenau. So wurden etwa nicht alle einzelnen 91 Abwurfziele in Ostberlin eingepflegt. Ground Zero der für Berlin vorgesehenen Bombe sehen die Kartenmacher ausgerechnet im Kupfergraben an der Museumsinsel, wo das Wohnhaus der Kanzlerin steht. Hätte sich General LeMay 1956 durchgesetzt, wäre die Physikerin bereits an ihrem damaligen Wohnort Templin pulverisiert worden.

Verstrahlte Medien

Als die Zielliste im Dezember 2015 veröffentlicht wurde, war die Reaktion der deutschen Medien spannend wie aufschlussreich:

Spiegel Online sprach von Zielen für den "Ernstfall", was nach Verteidigung klingt. Die Leser erfuhren nicht, dass es LeMay um einen vernichtenden Überraschungsangriff ging. Auch die geplante Zerstörung von Penicilinfabriken, um die Zivilbevölkerung krepieren zu lassen, verschwieg das Nachrichtenmagazin. Ebenso wenig war es eine Zeile wert, dass die Sowjetunion damals nur über geringe nukleare Kapazitäten verfügte und die ebenfalls zur Beseitigung ausersehene Volksrepublik China gar keine Atomwaffen besaß.

Focus Online schrieb von "91 deutschen Zielen". Nach Meinung von FOCUS befanden sich "in Ost-Berlin große sowjetische Luftwaffenstützpunkte“. Tatsächlich waren allein für Ost-Berlin 91 Ziele vorgesehen - und zwar zivile. Für die restliche DDR waren Hunderte militärische Ziele für bis zu 9 Megatonnen-Bomben ausgewählt worden.

Welt Online warb um Verständnis dafür, dass die USA die DDR inklusive West-Berlin nuklear grillen wollten:

Zumal auch der Koreakrieg 1950 bis 1953 gezeigt hatten, dass nur die Drohung mit Atomwaffen kommunistische Staaten von Aggressionen abhalten konnte. (…) „Wir brauchen Verbündete und kollektive Sicherheit“

Diese interessante Interpretation des Koreakriegs und die hieraus abgeleitete Bereitschaft zum kollektiven Opfer im friendly fire könnte man Stockholm-Syndrom nennen, denn West-Berlin inklusive Axel Springer-Hochhaus wäre bei Atombombenexplosionen im Vorgarten ebenfalls pulverisiert worden. Seltsam erscheint insoweit der Begriff "Sicherheit", denn General LeMay ging es nicht um Verteidigung: Sein geplanter flächendeckender Atomschlag war ein Angriffskrieg mit dem ideologischen Ziel der Vernichtung des Kommunismus. Auch die Gefahr eines "Atomkriegs aus Versehen", wie es zuletzt 1983 beinahe passiert wäre, oder von Betriebsunfällen kann man nicht ernsthaft mit "Sicherheit" assoziieren.