Wie das Corona-Virus die Zellen infiziert
Wissenschaftler entschlüsseln die Geheimnisse von Sars-CoV-2
Das englischsprachige Wissenschaftsjournal Nature hält in der letzten diesjährigen Ausgabe seines Briefings vom 23.12.2021 ein besonderes Präsent für seine Leserinnen und Leser bereit. Es handelt sich um einen herausragenden Artikel, in dem dargestellt wurde, wie das Coronavirus die Zellen infiziert und warum Delta so gefährlich ist. Der Untertitel lautet auf Deutsch: "Wissenschaftler entschlüsseln den Lebenszyklus von Sars-Cov-2 und zeigen, welche Tricks das Virus anwendet, um nicht erkannt zu werden".
Seit fast zei Jahren sind wir mit einer durch die kapitalistische Globalisierung hervorgerufenen weltweiten Naturkatastrophe mit in vielen Ländern dramatischen gesellschaftlichen Auswirkungen konfrontiert, deren direkte Verursacher, die Coronaviren, so winzig klein sind, dass sie nur mit ganz besonderen naturwissenschaftlichen Methoden (z.B. der Kryo-Elektronenstrahltomographie, siehe auch das entsprechende Bild im Nature-Artikel) sichtbar gemacht werden können.
Auf diesen spannenden Beitrag des Wissenschaftsjournalisten Megan Scudellari, der schon im Juli 2021 in Nature erschienen ist, möchte ich auch die Leser von Telepolis zum Jahresende aufmerksam machen, weil er uns das Corona-Virus mit vielen Details vor Augen führt und über dessen Lebenszyklus aufklärt.
Zu diesem Zweck habe ich eine kurze zusammenfassende Darstellung des umfangreichen Nature-Artikels mit einigen Ergänzungen verfasst und möchte damit zu einer gewinnbringenden Lektüre des Originals anregen.
Spikes in einem Mantel aus Zucker
Der Nature-Artikel beginnt mit einer eindrucksvollen Computersimulation der Darstellung von Sars-CoV-2 mit seinen vielen sich wie Tentakel bewegenden charakteristischen Spikes.
In der ersten Abbildung – siehe Abb. "A hidden Spike" im Originaltext – wird gezeigt, dass diese Spike-Proteine, die aus der Oberfläche des Virus herausragen, in Zuckermoleküle, sogenannte Glykane, eingehüllt sind.
"Wenn man es mit all den Glykanen sieht, ist es fast nicht wiederzuerkennen", sagt Amaro, ein biophysikalischer Chemiker an der University of California, San Diego, einer der Wissenschaftler, die in dem Artikel zitiert werden.
Viele Viren haben Glykane, die ihre äußeren Proteine bedecken und sie wie ein Wolf im Schafspelz vor dem menschlichen Immunsystem schützen sollen.
Weiterhin zeigt diese erste Abbildung, dass sich an der unbeschichteten Spitze der Spikes eine sogenannte Rezeptorbindungsdomäne (RBD) befindet, einer von drei Abschnitten an der Spitze, die sich an die entsprechenden Rezeptoren auf menschlichen Zellen binden.
Lebenszyklus des Coronavirus
Vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Forschung haben Wissenschaftler seit Beginn der Covid-19-Pandemie ein detailliertes Verständnis dafür entwickelt, wie Sars-CoV-2 in die Zellen eindringt, wie es sich dort vermehrt und wie es wieder austritt.
Im Mittelpunkt des Artikels findet sich eine Abbildung mit der Überschrift "Lifecycle of the pandemic coronavirus. A simplified account of how Sars-CoV-2 enters and exits cells", in dem der Lebenszyklus des Coronavirus in fünf Stadien dargestellt ist (siehe die entsprechende Abb. Im Nature-Artikel).
Stadium 1: Beim Viruseintritt in die Zelle bindet das Spike-Protein des Virus an einen Rezeptor auf der Wirtszelle namens ACE2 (Angiotensin Converting Enzyme). Dann umklammert das Wirtsmolekül TMPRSS2 das Spike-Protein und legt Teile frei, sodass die virale Membran mit der des Wirts verschmelzen kann.
Stadium 2: Nachdem die virale RNA in das Innere der Zelle gelangt ist, wird sie übersetzt in nicht-strukturelle Proteine (NSPs), die die Aktivität von Boten-RNA der Wirtszelle zugunsten derjenigen, die vom Virus stammen, schnell unterdrücken.
Stadium 3: Dann werden Organellen der Zelle umgewandelt. Das Virus verwandelt das Endoplasmatische Retikulum (ER) der Zelle, ein internes Membrannetzwerk, in blasenartige Strukturen (DMVs). Diese sind dann ein sicherer Hafen für die virale RNA, in dem sie replizieren und sich vermehren kann.
Stadium 4: Sobald sich die neu gebildeten Moleküle zu einem vollständigen Viruspartikel zusammengefunden haben, verlässt dieses die Zelle durch eine Organelle, die als Golgi-Apparat bezeichnet wird, oder vielleicht auch durch Lysosomen, die wie ein intrazellulärer Mülleimer fungieren.
Stadium 5: Vor dem Austritt des Virus aus der Zelle trennt in einem entscheidenden letzten Schnitt ein Wirtsenzym namens Furin fünf Aminosäuren auf dem Spike-Protein ab. Dies bereitet das Virus darauf vor, sich, wenn es nach seinem Austritt auf eine andere Zelle trifft, dort anheften zu können. Varianten haben einen höheren Anteil an auf diese Weise veränderten Spike-Proteinen, was ihnen hilft, Zellen effektiver zu infizieren.
Dieser letzte Schnitt mache das Virus zu einem infektiösen Moloch, heißt es in dem Artikel, wobei von der Delta-Variante die Rede ist.
Es ist nicht das erste Mal, dass Forscher eine Furin-Spaltungsstelle auf einem Virus identifiziert haben. Hochpathogene aviäre Influenza-Viren besitzen diese ebenfalls, sagt Wendy Barclay, ein Virologe vom Imperial College London, der in dem Artikel zitiert wird.
Als eine Kollegin ihm einen Stamm von Sars-CoV-2 in Kultur schickte, der spontan die Furin-Spaltungsstelle am Spike-Protein verloren hatte, habe ihr Team herausgefunden, dass Frettchen, die mit diesem Stamm infiziert waren, Viruspartikel in geringeren Mengen ausgeschieden haben als solche, die mit dem ursprünglichen Pandemiestamm angesteckt waren. Auch wurde die Infektion nicht auf andere Tiere in ihrer Nähe übertragen. Der neue Stamm des Virus war also weniger infektiös.
Zur gleichen Zeit, als Barclays Team seine Ergebnisse in einem Preprint vom September 2020 veröffentlichte, ergab eine Studie aus den Niederlanden, dass das Coronavirus mit einer intakten Furin-Spaltungsstelle am Spike-Protein schneller in menschliche Atemwegszellen eindringt als solche ohne diese.
Bekanntes und Unbekanntes
Die wissenschaftliche Gemeinschaft kratzt immer noch an der Oberfläche ihres Verständnisses von Sars-CoV-2. Zu den wichtigsten Unbekannten gehören z.B. die Anzahl der ACE2-Rezeptoren in der Zellmembran, die benötigt werden, um an jedes Spike-Protein zu binden, und die Zahl der Spikes, die erforderlich ist, damit es zu einer Fusion zwischen Virus- und Zellmembran kommt, wird in dem Nature-Artikel mitgeteilt.
Für die Forschung sei es nicht einfach, mit dem schnell mutierenden Virus Schritt zu halten. Die meisten Mutationen hätten sich bisher aber nur darauf ausgewirkt, wie effektiv sich das Virus ausbreitet, nicht jedoch darauf, wie sehr das Virus den Wirt schädigt, darin seien sich die Experten (im Juli 2021) einig gewesen.
Alpha, Beta, Gamma, Delta und jetzt Omikron
In dem Nature-Briefing vom 23.12.2021 ist ein weiterer Übersichtsartikel der Nature-Herausgeber vom 14.12.2021 über die herausragenden Neuigkeiten aus der Wissenschaft, die das Jahr 2021 geprägt haben, lesenswert. Dort findet man die folgende Einschätzung über das Coronavirus:
Das Jahr begann - und wird enden - mit Beiträgen von Forschern, die mehr über Varianten des SARS-CoV-2-Coronavirus erfahren haben, die sich auf der ganzen Welt ausbreiten.
Covid-19-Impfstoffe hielten weitgehend den Varianten stand, die Ende 2020 und Anfang 2021 auftauchten und später Alpha, Beta und Gamma genannt wurden. Doch dann kam Delta. Im März begann sich diese Variante mit alarmierender Geschwindigkeit und Grausamkeit in Indien auszubreiten und Todesfälle und Einweisungen in Krankenhäuser in einem Land zu verursachen, das in seiner Impfkampagne noch keine großen Fortschritte gemacht hatte.
Von dort aus verbreitete sich die hochgradig übertragbare Variante des Virus in der ganzen Welt und hinterließ Verwüstungen und weitere Lockdowns auf seinem Weg. Die Daten zeigten, dass Impfstoffe die mit Delta infizierten Menschen im Allgemeinen vor den schwersten Folgen von Covid-19 schützen – aber dass die Impfungen weniger gegen Delta schützten als gegen andere Varianten.
Ende November kam es dann zu einem Déjà-vu: Omikron, die neueste Variante betrat die Bühne. Erste Daten deuten darauf hin, dass diese Variante besorgniserregend ist und die Impfimmunität signifikant herabsetzt, aber dass zusätzliche Impfstoffdosen – Auffrischungsimpfungen – die Situation verbessern können.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.