Spione in Deutschland: "Agenten aus Fleisch und Blut sind immer noch relevant"

Chinesischer Spion in AfD-Farben

Historiker Wolfgang Krieger über aktuelle Spionagefälle in Deutschland. Über Agenten und technische Aufklärung. Und über China, Russland sowie den Krieg in der Ukraine.

Man könnte gerade den Eindruck bekommen, Deutschland sei ein regelrechter Tummelplatz für Agenten aus China. Gleich drei Fälle wurden innerhalb weniger Tage bekannt, bei zweien davon soll es um militärisch nutzbare Technologie gehen, für die sich der chinesische Auslandsgeheimdienst interessiert.

Aber besonders brisant scheint der dritte Fall zu sein, denn hier wird ein Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten für die bevorstehende Europawahl beschuldigt, Informationen über Verhandlungen und Entscheidungen im EU-Parlament an China verraten zu haben. Außerdem soll er auf chinesische Oppositionelle in Deutschland angesetzt gewesen sein.

Ist es Zufall, dass die mutmaßlichen Spione gerade jetzt auffliegen? Sind Agenten aus Fleisch und Blut in Zeiten von Satellitenaufklärung und Cyberkriminalität noch von Nutzen? Und was bekommen wir überhaupt mit vom Geschäft der internationalen Geheimdienste?

Darüber sprach Dietmar Ringel im Telepolis-Podcast mit dem Historiker Wolfgang Krieger. Er ist emeritierter Professor an der Uni Marburg. Sein Fachgebiet ist die Geschichte der Geheimdienste.

Forschung zu Geheimdiensten: Woher kommen Infos?

Bevor wir über chinesische und andere Spione sprechen, wüsste ich gern, woher Sie als Wissenschaftler Ihre Informationen bekommen.

Wolfgang Krieger: Ja, im Grunde genommen für aktuelle Fälle, genauso wie Sie als Journalist – aus der Presse, aus den Medien, aus offiziellen Stellungnahmen.

Also wenn jemand beschuldigt oder verhaftet wird, dann geschieht das in Spionagefällen ja auf Veranlassung des Generalbundesanwalts, und der Generalbundesanwalt veröffentlicht dann in der Regel eine Presseerklärung, um den Fall wenigstens in Umrissen zu erklären.

Das sind sozusagen die direkten Quellen, aber ich nutze natürlich mein Hintergrundwissen, das ich hier viele Jahre erworben habe und meine Kontakte in der Szene, um Dinge zu prüfen, um Dinge einzuordnen und verständlich zu machen.

Aber wenn ich jetzt an Ihre wissenschaftliche Arbeit denke, über viele Jahre: Müssen Sie immer warten, bis die Akten geöffnet werden? Oder haben Sie als Wissenschaftler da doch mehr Möglichkeiten? Und wie kritisch dürfen Sie sein, wenn es zum Beispiel um die deutschen Dienste geht?

Wolfgang Krieger
Wolfgang Krieger. Bild: Henning Schlottmann / CC-BY-4.0

Wolfgang Krieger: Ja, ich darf so kritisch sein, wie ich will. Ich bin ja freier Wissenschaftler, ich bin nicht Mitglied irgendeines Dienstes und stehe also nicht unter irgendeiner Zwangsverpflichtung zum Schweigen.

Die einzige Ausnahme war in der Zeit, als ich der unabhängigen Historikerkommission für die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes angehörte. Dort war ich natürlich einem Regime unterworfen. Ich konnte nicht einfach in die Öffentlichkeit tragen, was ich in den jahrelangen Archivstudien gesammelt und an Erkenntnissen erworben habe.

Da gab es schon einen Filter, und im Übrigen hatte ich ja auch damals Büros auf dem Gelände des Bundesnachrichtendienstes und konnte so mehr oder weniger zufällig Einsichten gewinnen, die natürlich auch nicht publizierbar sind.

Die Brisanz der mutmaßlichen Spionagestruktur in der AfD

Gut, zum Bundesnachrichtendienst kommen wir noch, aber zunächst mal zu China. Ich habe diese drei jüngsten Fälle genannt. Wie brisant sind die aus Ihrer Sicht?

Wolfgang Krieger: Nun, die sind sicher brisant. Vor allem dieser chinesische Mitarbeiter oder ursprünglich chinesische Mitarbeiter des AfD-Europaabgeordneten Krah, der, wenn man so die ersten Informationen sich anguckt, wahrscheinlich ein offizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der Volksrepublik China oder eng damit verbunden ist.

Interessant ist ja auch, wie er zum Mitarbeiter für einen Abgeordneten, für Maximilian Krah, wurde, der ja selbst im Verdacht steht, eventuell illegale Verbindungen zur Volksrepublik China zu unterhalten.

Nun sagen viele im Umfeld des Europaparlaments, der Mann sei schon lange auffällig gewesen. Man habe sehr genau gewusst, dass es enge Beziehungen nach China gibt, dass er chinafreundlich agiert. Verhält sich denn auf diese Weise ein Agent, der an geheime Informationen für eine fremde Macht ran will?

Wolfgang Krieger: Na ja, ich meine, seine Herkunft lässt natürlich einen Verdacht aufkommen. Warum verdingt er sich da im Europaparlament? Ich stelle mir ehrlich die Frage, was er in seiner Tätigkeit im Europäischen Parlament überhaupt an für China nützlichen Informationen geliefert haben könnte.

Das Europäische Parlament hat ja keine Sicherheitsbehörden, die ihm zugeordnet sind. Das ist ja nicht wie der Bundestag, der direkten Zugang zu den deutschen und internationalen Nachrichtendiensten hat über die Kontrollfunktion des Parlaments. Das ist ja beim Europäischen Parlament alles nicht gegeben.

Also was mir, ehrlich gesagt, schlimmer erscheint an seiner vermuteten Tätigkeit ist die Beobachtung von chinesischen Dissidenten oder zumindest Exilchinesen, nenne ich sie mal, was natürlich unmittelbare Konsequenzen für einzelne Personen haben könnte, die durch einen solchen Beobachter oder Verräter, muss man eigentlich sagen, ans Messer geliefert werden können.

Dietmar Ringel
Dietmar Ringel ist Journalist, Reporter und Moderator. Bild: Gundula Krause

Der Fall Krah: Wo und wann beginnt Spionage?

Gut, da müssen wir sicher erst mal abwarten, was die Ermittlungen noch ergeben, bisher muss man ja von einem mutmaßlichen Spion sprechen. Und die chinesische Seite weist das alles zurück.

Aber reden wir noch mal über den Politiker Krah und auch über die Frage ganz allgemein: Wo fängt denn Spionagetätigkeit, Arbeit für eine fremde Macht an?

Sie haben gesagt, das könnte sehr brisant sein. Aber sich einzusetzen für gute Beziehungen zu anderen Staaten, auch zu China, da vielleicht Beziehungen zu knüpfen zu Organisationen, die wiederum vielleicht, in Verbindung stehen könnten zu Geheimdiensten: Was ist daran kriminell?

Wolfgang Krieger: Zunächst einmal gar nichts. Und diese Beziehungen, die wir als Mitglieder der deutschen Politik zu Diktaturen wie Russland, Iran, China und anderen führen, die sind ja seit einiger Zeit kontrovers.

Nehmen Sie das Beispiel Russland. Bis vor zwei Jahren, also vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, galt es als absolut notwendig und fortschrittlich, enge Beziehungen zum Kreml zu unterhalten und die entsprechenden Personen, die das gemacht haben, sind ja bekannt. Einer davon ist inzwischen Bundespräsident geworden.

Verhältnis zu China hat sich gewandelt

Also das steht heute am Pranger und war bis vor wenigen Jahren sozusagen die Spitze der aufgeklärten modernen Politik. Bei China ist es ähnlich. Es gibt ja erst seit einigen wenigen Jahren Bedenken, ob eigentlich die engen wirtschaftlichen und anderen Beziehungen zu China sozusagen moralisch, ethisch vertretbar sind und ob sie wirtschaftlich, technologisch schädlich sein könnten oder nicht.

Bis vor wenigen Jahren wurden diese Fragen überhaupt nicht gestellt oder jedenfalls in der deutschen Politik gar nicht ernst genommen. Und das Beispiel Iran könnte man auch nehmen, also das ist ein großes Thema. Und plötzlich stürzen sich alle auf diesen AfD-Abgeordneten, dem man vorwirft, unmoralisch zu handeln und möglicherweise kriminell zu handeln und so. Das ist durchaus möglich, dass er das gemacht hat.

Ich will nur sagen, die politische Atmosphäre hat sich da kolossal verändert. Gucken Sie sich nur die Bundestagsdebatte über diesen Fall Krah an, wie sie alle über ihn hergefallen sind. Das mag in der Sache richtig sein, aber es stellen sie doch ein bisschen Fragen.

Taktisches Ausspielen von Informationen von und über Dienste

Ja, da würde ich gerne gleich einhaken, nämlich mit der Frage: Sind Geheimdienste und geheimdienstliche Erkenntnisse nicht grundsätzlich auch Instrumente der Politik oder werden instrumentalisiert?

Es kommt ja zum Beispiel auch darauf an, wann man was öffentlich macht. Gerade war der Bundeskanzler zum Staatsbesuch in China. Der ist eben zurück, da wird der Fall des mutmaßlichen Spions öffentlich gemacht.

Man hätte es auch zwei Tage vorher öffentlich machen können, dann wäre dieser Staatsbesuch eine Katastrophe geworden. Also gibt es da auch politische Entscheider, die dann überlegen, wie passt das gerade am besten rein?

Wolfgang Krieger: Das ist mit Sicherheit richtig. Also in dem Fall haben sie mit ihrer Vermutung wahrscheinlich recht, dass man den Fall schon auf der Pfanne hatte, aber man hat ihn noch ein paar Tage zurückgehalten.

Der Generalbundesanwalt nimmt natürlich auch hier politische Rücksichten, das ist vollkommen klar, aber höchstens im zeitlichen Ablauf, nicht in der Sache. Also in der Anklage selbst wird der Generalbundesanwalt kein Blatt vor den Mund nehmen. Allerdings, wenn es um Spionage geht, hat eine Bundesregierung die Möglichkeit, einen solchen Fall sozusagen völlig vom Tisch zu nehmen und zum Beispiel mit dem betroffenen Staat ein Geschäft anzubahnen.

Das kann oft der Austausch von festgenommenen mutmaßlichen Spionen sein, dass man sagt, wir haben hier einen von euren Jungs, ihr könnt ihn zurück haben, wenn ihr uns den Herrn ohnehin oder die Frau sowieso gebt, die bei euch im Gefängnis sitzt. Ja, also solche Deals sind in der Gesetzgebung vorgesehen. Das ist möglich.

Am Ende entscheiden politische Funktionsträger

Die Frage ist also, möchte ich zuspitzen oder will ich deeskalieren? Das kann die Politik durchaus entscheiden …

Wolfgang Krieger: Das kann die Politik entscheiden, aber in dem Moment, wo die Justiz einen Mann in ihrer Obhut hat, lässt sich durch die Politik kaum noch oder gar kein Einfluss mehr nehmen. Höchstens dann, wenn einer rechtskräftig verurteilt ist, kann man noch entscheiden, ob man ihn gleich abschiebt oder ob er erst eine gewisse Anzahl von Jahren im Gefängnis absitzen muss. Also da gibt es noch mal einen gewissen Entscheidungsspielraum.

Noch mal zur Frage, was denn strafrechtlich relevant ist. Ich will mal auf einen Fall in Schweden zu sprechen kommen, über den die Neue Zürcher Zeitung berichtet hat. Da soll eine Journalistin mit chinesischen Wurzeln ausgewiesen werden.

Sie soll für Medien gearbeitet haben, die laut einer Studie des schwedischen Instituts für internationale Beziehungen "… dazu beitragen könnten, das Bild Chinas und der Kommunistischen Partei bei den Menschen in Schweden in einer Weise zu prägen, die mit der von der Partei bevorzugten Darstellung übereinstimmt." Also im Endeffekt wird der Frau vorgeworfen, sie mache chinesische Propaganda. Ist das schon strafrechtlich relevant?

Wolfgang Krieger: Also ich glaube, bei uns wäre das nicht strafrechtlich relevant. Ausgenommen, wenn dieser Sender, Fernseh- oder Rundfunk oder was immer es ist, sozusagen auf der schwarzen Liste steht und in Deutschland verboten ist. Das haben wir ja erlebt mit einigen russischen Sendern, die dann aufgrund des Ukraine-Krieges bei uns verboten wurden. Also, die Lizenz wurde ihnen entzogen. Aber das ist noch mal etwas anderes als Spionage.

Denn Spionage heißt ja, dass sie vertrauliche oder sogar geheime Informationen an einen anderen Staat liefern. Übrigens muss dieser Staat gar nicht ein verfeindeter Staat sein. Also wir haben vor einigen Jahren einen Fall gehabt, da hat ein BND-Mitarbeiter interne BND-Dokumente an die Amerikaner geliefert, an die CIA.

Das ist auch durch die Gesetzgebung als Spionage einzuordnen oder geheimdienstliche Agententätigkeit, wie es im Text heißt. Weil eben gar nicht spezifiziert ist, ob dieser fremde Staat ein mit uns verfeindeter oder uns freundlich gesinnter oder sogar verbündeter Staat ist. Das ist im Gesetz nicht festgelegt.

Geheimdienste bekommen Aufträge von Regierung

Kommen wir noch mal zu den chinesischen Geheimdiensten. Die sind ja hierzulande, zumindest in der Öffentlichkeit, wenig bekannt, und lange Zeit tauchten sie auch in den jährlichen Verfassungsschutzberichten überhaupt nicht auf.

Was wissen Sie darüber, und sind die deutschen Polizeibehörden, die deutschen Dienste darauf eingestellt, dass es jetzt vermehrt Tätigkeiten chinesischer Spionage geben könnte?

Wolfgang Krieger: Also sie müssen sich klarmachen, dass unsere Nachrichtendienste, also der Verfassungsschutz, BND und so weiter, ihre Aufträge von der Bundesregierung erhalten. Das heißt, sie dürfen nur das machen, was man ihnen als Auftrag gibt.

Und wenn die Bundesregierung keinen expliziten Auftrag erteilt – Beschäftigt Euch mit den chinesischen Geheimdiensten! –, dann wird das auch nicht gemacht. Also das ist eine politische Frage auf der politischen Ebene und nicht eine Frage, die die Dienste selbst entscheiden können.

Im Fall des BND ist es ja so, dass es ein sogenanntes Auftragsprofil gibt, also einen Katalog von Dingen, die der BND machen und beobachten soll und so weiter. Und das ist meistens eher allgemein formuliert. Da steht also nicht spezifisch drin, beobachten Sie die Abteilung 5 des chinesischen Staatssicherheitsministeriums oder irgend so was.

Berlin hat Bedrohung aus China spät erkannt

Ich will damit nur sagen, die Dienste arbeiten strikt nach Aufträgen, die ihnen von der Politik erteilt oder nicht erteilt werden. Andererseits ist es so, dass natürlich die Politik in Berlin sehr lange gebraucht hat, um die chinesische Bedrohung überhaupt zu erkennen.
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Man hat ja viele Jahre in der Merkel-Zeit und auch schon vorher in der Illusion gelebt, also China, ja okay, hat zwar noch eine kommunistische Regierung, ist aber jetzt ein international freundlicher Akteur, der sich in der internationalen Politik anständig verhält, im UNO-Sicherheitsrat und so weiter und auch ein wichtiger Handelspartner ist, und mehr müssen wir nicht wissen.

Wenn in China Kommunisten nach wie vor an der Regierung sind, dann ist das sozusagen eine interne chinesische Sache, die uns nicht weiter beschäftigen muss.

Und erst in den letzten Jahren durch die Politik von Xi Jinping ist man allmählich aufgewacht, was hier wirklich gespielt wird. Und dazu brauchen sie übrigens gar keine Geheimdienste. Xi Jinping und seine Regierung haben in aller Öffentlichkeit erklärt, was die Ziele sind und wie gearbeitet wird und was China langfristig vorhat. Das ist gar kein Geheimnis. Das kann man in den chinesischen Zeitungen lesen.

Der Nutzen von Spionage im 21. Jahrhundert

Da schließt sich meine nächste Frage gleich an. Welchen Nutzen bringen denn Geheimdienste in unserer Zeit noch? Sie haben gerade gesagt, wohin in China die Reise geht, sagen die Chinesen selbst. Schadet man sich da mit dem Einsatz von Agenten eher?

Denn wenn irgendwas auffliegt, ist es erst mal politisch kompliziert. Außerdem kosten die Geheimdienste eine Menge Geld. Und dann gibt es ja Möglichkeiten, mit Computertechnik, mit Satellitenaufklärung auch viele Dinge herauszubekommen. Also sind Agenten aus Fleisch und Blut noch zeitgemäß?

Wolfgang Krieger: Das ist eine sehr viel engere Frage als die ursprüngliche. Also sind Geheimdienste überhaupt noch nützlich oder notwendig? Das schließt ja heute eine Menge von sogenannter technischer Aufklärung, also Internet ausspähen, Telefone abhören, Satellitenbilder erstellen u.s.w. ein. Das ist ja alles technische Aufklärung.

Und die sogenannte Human Intelligence, wie man das in der Fachsprache nennt, das sind die Agenten aus Fleisch und Blut, die vor Ort, da, wo die Staatsgeheimnisse sind, tätig werden. Und das ist schon auch in der Politik wichtig, obwohl heute, wie gesagt, sehr viel mehr in der Öffentlichkeit greifbar ist als das früher der Fall war.

Sonderfall Wirtschaftsspionage


Aber nehmen Sie die Wirtschafts- und Technologiespionage, da gibt es natürlich eine ganze Menge von Dingen, die geheim gehalten werden, unter anderem aus kommerziellen Interessen.

Stellen Sie sich vor, Sie entwickeln ein Medikament, dafür wenden Sie Millionen an Entwicklungskosten auf, und das Geheimnis wird Ihnen gestohlen und ein anderer, der diese Entwicklungskosten nicht bezahlt hat, kann das Medikament zum halben Preis oder zu zehn Prozent vom Preis auf den Markt bringen.

Das ist natürlich ein immenser wirtschaftlicher Schaden. Und bei militärischer Technologie ist das ganz ähnlich.

Gewandeltes Verhältnis zum Kreml

Das leuchtet natürlich ein, vor allem mit Blick auf die Wirtschaft. Aber noch mal zu den politischen Dimensionen. Sie haben vorhin gesagt, bis zum russischen Angriff auf die Ukraine galt es als notwendig und fortschrittlich, auch gute Beziehungen zum Kreml zu unterhalten. Für die Arbeit der Geheimdienste hieß das vermutlich vor allem, ganz gut Bescheid zu wissen, wie die andere Seite wirklich tickt.

Also da haben diplomatische und geheimdienstliche Kanäle vielleicht sogar parallel agiert. Und am Ende galt das, zumindest aus Sicht vieler, als stabilisierend. Wie ist das heute? Gibt es eine solche stabilisierende Funktion noch oder sind Geheimdienste doch eher destruktiv, um der anderen Seite zu schaden?

Wolfgang Krieger: Na ja, es kann beides der Fall sein. Es gibt eben auch diese konstruktive Seite, insbesondere in internationalen Konflikten, wo man sich ungern in die Karten schauen lässt. Nehmen Sie den Gaza-Krieg im Moment, da gibt es Verhandlungen, Geheimverhandlungen muss man sagen, über einen möglichen Waffenstillstand, Austausch von Geiseln gegen Gefängnisinsassen und so weiter. Diese Verhandlungen werden im Wesentlichen durch Leute aus den Geheimdiensten geführt.

Erstens, weil diese Leute nun tatsächlich fernab der Öffentlichkeit agieren und nicht von der Presse oder vom Parlament befragt werden können. Und zweitens, weil dort oft Positionen angeboten werden, die man offiziell ablehnen würde. Also der israelische Ministerpräsident geht nicht vor die Presse und sagt, ich bin bereit, Tausend islamistische Gefangene freizulassen, das würde er politisch nicht lange überleben.

Aber wenn das als geheimes Verhandlungsangebot auf den Tisch kommt, um mal zu sehen, was die andere Seite eventuell anbieten könnte, dann werden solche Verhandlungen von Leuten aus den Geheimdiensten geführt. Übrigens, auch bei Entführungen spielt das eine Rolle, bei gekaperten Schiffen und so weiter, wo die Regierung sozusagen öffentlich sich nicht in die Karten blicken lassen will, wie und mit welchen Angeboten Verhandlungen geführt werden.

Was ist die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes wert?

Professor Krieger, lassen Sie uns noch zum Bundesnachrichtendienst kommen. Welche Rolle spielt der aus Ihrer Sicht für die deutsche Politik? Lesen deutsche Spitzenpolitiker, was da an Informationen zusammengetragen wird, und ist das hilfreich?

Wolfgang Krieger: Das ist schwer einzuschätzen. Es gibt, wenn Sie zurückschauen auf die Reihe von Bundeskanzlern, die wir schon hatten, einige, die gesagt haben, die Zeitungen sind besser als das, was der Bundesnachrichtendienst schreibt. Das hat der Bundeskanzler Schmidt öffentlich gesagt. Das hat der Bundeskanzler Kohl öffentlich gesagt. Übrigens, die Bundeskanzler danach haben das nicht mehr gemacht. Weder Frau Merkel noch der aktuelle Kanzler haben je gesagt, mich interessiert das gar nicht, was die da schreiben. Also, da hat sich eine Veränderung ergeben.

Auch Helmut Schmidt hat die Berichte gelesen


Aber auch das stimmt nicht immer. Bundeskanzler Schmidt hat zwar gesagt, das interessiert mich kaum, was die da schreiben. Wenn Sie aber in die Akten gucken, stellen Sie fest, dass er das Zeug ganz genau gelesen hat, Randbemerkungen gemacht hat, seinen grünen Haken und so weiter und so weiter. Also ignoriert wird das nicht.

Aber es ist natürlich immer ein Problem für den Bundesnachrichtendienst, die entsprechende Aufmerksamkeit auf der politischen Ebene zu bekommen, denn dort wird natürlich die Presse ausgewertet, es werden Meinungsumfragen ausgewertet. Die Politiker, die sich mit Außenpolitik befassen, müssen immer sehen, dass sie wiedergewählt werden und ihren Wahlkreis pflegen und so weiter. Also es ist schwer, sich in dieser Informationsflut sozusagen Gehör zu verschaffen als Bundesnachrichtendienst.

Nachwehen des Afghanistan-Desasters

Aber ich wüsste trotzdem noch mal ganz gerne, wie Sie die Qualität des BND einschätzen. Ich will mal Sönke Neitzel zitieren. Der Militärhistoriker hat in einem Interview 2019 den BND gelobt für seine sachkundigen Informationen, und zwar konkret aus und über Afghanistan. Aber zwei Jahre später zog sich dann die Bundeswehr sang- und klanglos aus Afghanistan zurück. Wie gut war die Arbeit des BND tatsächlich?

Wolfgang Krieger: Na ja, die Afghanistan-Missionen wurden ja von Anfang an sozusagen mit gezogener Handbremse und eigentlich unter falschem Firmenschild verkauft. Man hat gesagt, wir haben eine Friedensmission, wir bauen dort Schulen und graben Brunnen und so weiter und haben dann festgestellt, dass wir die Bundeswehr in ein Umfeld geschickt haben, das dann erstmals ein Verteidigungsminister als Krieg bezeichnete.

Das war schon eine Riesenaufregung in der deutschen Presse, obwohl es natürlich ein Krieg war. Es war ein ständiger, über Jahrzehnte hinweg geführter Bürgerkrieg, in dem die Bundeswehr und andere westliche Streitkräfte involviert wurden.

Berichten, was gehört werden soll?


Dann gab es diese ganzen Bundestagsmandate, die eingeschränkt haben, was man machen durfte und was nicht, und das hat natürlich auch bestimmt, was sozusagen nachrichtendienstlich erforscht und gemeldet werden durfte und vor allem, was man hören wollte.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Nachrichtendienst, Sie merken, dass das, was die Politik öffentlich sagt, in der Realität gar nicht stimmt. Dann melden sie, Afghanistan befindet sich im Krieg, wir müssen uns verteidigen, wir brauchen schwerere Waffen und so weiter und so weiter. Das will in Berlin keiner hören, denn man hat gerade einen gegenteiligen Parlamentsbeschluss gefasst. Das will keiner hören, sie machen sich unbeliebt.

Feel-good-Spionage: Keine Meldungen, die Ärger machen

Also das ist ein schwieriges Geschäft, und irgendwann hören sie dann auf, solche Meldungen nach Berlin zu geben, weil das dort keiner hören will und sie sich nur Ärger einhandeln damit. Ich will gar nicht sagen, dass der BND keine Fehler gemacht hat. Da sind sicher große Fehler gemacht worden. Es sind auch seitens der Bundeswehr Fehler gemacht worden. Man hat ja Ausbildungsmissionen gehabt, hat die afghanische Armee angeblich ausgebildet und hat gar nicht gemerkt, dass das Ding von Korruption total zerfressen war und sozusagen fast keinen militärischen Nutzen hatte.

Die Soldaten sind dann alle davongelaufen, als es brenzlig wurde, wie wir wissen. Also das war eine krasse Fehleinschätzung, an der bestimmt der BND auch beteiligt war, nehme ich an, aber auch andere, die Bundeswehr, aber eben vor allem die Politiker in Berlin, das muss man leider sagen.

Sie haben vorhin den Gaza-Krieg erwähnt und die Rolle der Geheimdienste, dass da Gespräche geführt werden, die politisch unvorstellbar wären und man dann vielleicht doch zu Kompromissen kommt, wenn es um den Austausch von Gefangenen geht und so weiter.

Wie schätzen Sie denn die Rolle der Geheimdienste jetzt beim Krieg in der Ukraine ein? Ist da auch die Möglichkeit gegeben, dass vielleicht Dinge angebahnt werden, die am Ende politisch sinnvoll und wirksam sind?

Wolfgang Krieger: Ja, das wäre die Frage, ob sie in einer möglichen Diplomatie tätig sind. Das vermute ich auch, aber die große Rolle der Geheimdienste im Ukraine-Krieg ist ja eine technische, ist die technische Aufklärung, zu wissen, wo stehen die russischen Panzer, wo stehen die Raketenabschussbasen, wo sind die Radaranlagen, auf welcher Wellenlänge wird da gesendet und so weiter.

Also diese technische Aufklärung, die ist eigentlich das, was die große Rolle spielt und wo die ukrainische Seite eine Menge Unterstützung aus dem Westen erhält durch die Amerikaner, Briten, vermutlich auch durch den deutschen BND oder auch die Bundeswehr. Aber darüber wissen wir öffentlich leider kaum etwas. Während die Briten und Amerikaner das ganz offen sagen, mit welchen geheimdienstlichen, vor allem technischen Instrumentarien sie die ukrainische Seite unterstützen.

Aber kann man auch davon ausgehen, dass es Kontakte zum russischen Geheimdienst gibt? Zum Beispiel verhandeln Ukrainer und Russen ja auch über Gefangenenaustausch und solche Dinge. Das wird vermutlich über solche Kanäle laufen. Gibt es da möglicherweise mehr, als die Öffentlichkeit erfährt?

Wolfgang Krieger: Ja, sicher. Wir sehen ja immer nur, wenn diese Kriegsgefangenen zurückkommen. Dann steigen sie aus dem Flugzeug aus oder so. Aber wie es dazu gekommen ist, darüber wissen wir praktisch gar nichts.

Es gibt immer Verbindungen, auch in der Geschichte. Wenn Sie in den Zweiten Weltkrieg zurückgehen, es hat immer Verbindungen gegeben. Die ganze Kriegszeit über auch zu den Westalliierten gab es irgendwelche Gesprächsfäden oder irgendwelche Möglichkeiten, Nachrichten zu übermitteln.

Also das ist eigentlich Standard in der internationalen Politik. Und zwischen Deutschland und Russland, also auch unter Putin noch, gab es ja auch offizielle Geheimdienstbeziehungen und eine Kooperation im Bereich des islamistischen Terrorismus. Das war eine ganz offizielle Sache. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der BND in Moskau ganz offiziell ein Büro eingerichtet, um diese Zusammenarbeit zu managen.

Gast im Telepolis-Podcast war Wolfgang Krieger, Historiker, emeritierter Professor an der Uni Marburg, sein Fachgebiet ist die Geschichte der Geheimdienste. Die Fragen stellte Dietmar Ringel.