Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts "in wesentlichen Bereichen ausgeschaltet"

Verfassungsrichter Masing kritisiert die geplante EU-Verordnung zum Datenschutz

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Der Verfassungsrichter Johannes Masing fürchtet, dass die Europäische Union mit der Datenschutzverordnung unsere Grundrechte, das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht beschneiden will.

In einem Gastkommentar (PDF) für die SZ begrüßt Masing - beim Verfassungsgericht zuständig für freie Meinungsäußerung, Rundfunk- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit -, dass die EU mit der Verordnung das zersplitterte Datenschutzrecht in Europa vereinheitlichen wolle:

"International tätige Wirtschaftsunternehmen sollen in Europa einheitlichen Datenschutzanforderungen unterliegen. Tatsächlich läßt sich gegenüber internetbasierten Unternehmen wie Amazon, eBay und erst Google oder Facebook Datenschutz wohl nur noch sinnvoll und durchsetzbar vorstellen, wenn er zumindest europaweit einheitlichen Standards unterliegt."

Zu weit reichende Verordnung

Doch erfasse die Neuregelung nicht nur Rechte und Pflichten der internationalen Multis, sondern auch die staatliche Datenverarbeitung in einem Umfang, den der Verfassungsrichter kritisiert:

"Insbesondere umfasst sie den gesamten innerstaatlichen Umgang mit Informationen aller Behörden, unabhängig von grenzüberschreitenden Bezügen. Unter ihren Anwendungsbereich fallen damit die Datenverwaltung im Finanz-, Ausländer- und Umweltrecht ebenso wie im Bereich der Sozialversicherungen, Krankenhäuser, Universitäten oder Schulen."

Der Umgang mit Beleidigung, übler Nachrede und veröffentlichten Bildern in Blogs und Tweets soll laut Verordnung "vollharmonisiert" werden. Damit stünden die nationalen Zivil- und Strafgesetze zur Disposition. Die private Meinungsäußerung im Internet solle einer behördlichen Aufsicht unterstellt werden. Soweit der Entwurf den nationalen Gesetzgebern überhaupt noch Einflussmöglichkeiten läßt, stünden, so Masing, deren Ergebnisse "unter dem Vorbehalt entgegenstehender europäischer Rechtsakte, die weiterhin von der Kommission selbst erlassen werden können - und zweifellos folgen werden."

Was wird aus den einzelstaatlichen Grundrechten?

Angesichts zahlreicher Formulierungen zweifelt der Verfassungsrichter daran, ob nach dem Konzept der Verordnung "die einzelstaatlichen Grundrechte noch Anwendung finden sollen." In diese Zweifel schließt Masing die nationalen Regelungen der Strafverfolgungsbehörden ausdrücklich ein.

Im Ergebnis würden die Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts "in wesentlichen Bereichen ausgeschaltet". So würden Entscheidungen zum Datenschutz Makulatur - etwa das Volkszählungsurteil oder auch Entscheidungen zur Wohnraumüberwachung, der Onlinedurchsuchung und der Vorratsdatenspeicherung. Ebenso fielen Entscheidungen zur Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Verordnung zum Opfer.

An die Stelle der deutschen Gerichtsbarkeit solle die europäische Grundrechtecharta treten. Dies ist für Masing kein angemessener Ersatz: Die deutsche Gerichtsbarkeit hätte in allen Instanzen an allen Gerichten die Grundrechte durchzusetzen. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg könne nicht einmal von jedem Bürger angerufen werden. Der müsse sich dann schon an den Menschengerichtshof in Straßburg wenden. Dort wiederum käme die Europäische Menschenrechtskonvention zum Tragen. Diese diene auch als Rechtsgrundlage, um Verletzungen der Menschenrechte in Rußland, der Ukraine und der Türkei zu verhandeln. 47 Richter seien derzeit mit 170.000 anhängigen Verfahren beschäftigt.

Risiken und Kontrollmöglichkeiten

Und die zentrale Rechtsprechung birgt seiner Meinung nach kulturelle Risiken: Die "inwendige Durchdringung" der Gesetze durch die Grundrechte - "von der Kontrolle der Gesetze bis zu ihrer Auslegung" sei ein deutsches "Spezifikum". Eine solche "Differenziertheit", wie sie unserer Rechtsprechung eigen sei, könne bei einer "Vollzentralisierung" nicht aufrechterhalten werden. Dazu fehlten nicht nur Bürgernähe und Kapazitäten; man könne dies auch von Staaten mit anderen Traditionen nicht erwarten.

Schließlich kritisiert der Rechtswissenschaftler, dass auch die Datenschutzaufsicht zentralisiert und die Zweck- und Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen dabei keinerlei (nicht einmal parlamentarischer) Kontrolle unterworfen werden solle. Auf diese Weise werde ein immer wichtiger werdender Teil der Wirtschaftsaufsicht aus den allgemeinen Strukturen herausgebrochen. Durch diese Zentralisierung würden die Aufsichtsbehörden "praktisch auch völlig aus ihren demokratischen Zusammenhängen" herausgelöst.

"Hochpolitisch"

Masing hat aber noch Hoffnung: Der Vorgang sei noch im Entwurfsstadium. Er müsste noch vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat verabschiedet werden. Somit sei Zeit zur öffentlichen Diskussion. So hält er es für diskussionswürdig, ob das Verfahren tatsächlich im Wege einer "Verordnung" anstatt einer "Richtlinie" durchgezogen werden müsse. Eine Verordnung lasse keine Umsetzungsspielräume und verdränge jede Form mitgliedsstaatlichen Rechts.

"Nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung legt dies eine brisante Konsequenz zumindest nahe: Auch die Grundrechte sind nicht mehr anwendbar."

Richtlinien müssen zunächst von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Mit der 32006L0024:DE:HTML: Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung hat die EU allerdings schlechte Erfahrungen gemacht: Im letzten Jahr wurde die Deutsche Fassung vom Bundesverfassungsgericht verworfen.Der Verfassungsrechtler kommt im Ergebnis zu dem Schluss:

"Jedenfalls erweisen sich die scheinbar rechtstechnisch daherkommenden Regulierungsvorschläge der Europäischen Kommission als hochpolitisch. Ihrer Wirkung nach haben sie das Potential einer tiefgreifenden Verfassungsänderung - und müssen als solche diskutiert werden."

Ein Fehdehandschuh?

Der Anwalt Thomas Stadler hält Masings Schreiben für im "höchstem Maße erstaunlich": "Als außenstehender Beobachter fragt man sich unweigerlich, ob diese Veröffentlichung im Ersten Senat abgestimmt ist oder nur eine Einzelmeinung Masings darstellt. Die Wortwahl ist jedenfalls so deutlich, dass man fast den Eindruck haben kann, als habe das Bundesverfassungsgericht einen Fehdehandschuh aufgenommen und würde erwägen, an seine alte Solange-I-Rechtsprechung (dabei geht es um die Vereinbarkeit von europäischem mit deutschem Recht, Einf. d. Red.) wieder anzuknüpfen."