Entstehung und Abwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache

Helfen Antidepressiva gegen Niederschlagenheit? Sind Depressionen überhaupt eine Folge von "Hirnstoffwechselkrankheiten"?

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Irving Kirsch, ein englischer Psychologe, bezweifelt es und rät Betroffenen statt zu Psychopharmaka zu einer Verhaltenstherapie. Sein neues Buch lässt kein gutes Haar am „Mythos Antidepressiva“.

Wer, vielleicht in einer besonders schwarzen Stunde, im Internet nach Information zum Thema Depression sucht, findet ziemlich schnell folgenden Hinweis:

Die medikamentöse Therapie mit Antidepressiva ist die anerkannteste Behandlungsform aller Arten mittelschwerer bis schwerer Depressionen unabhängig von der Ursache. Ist eine Depression vor allem auf belastende Ereignisse oder unbewältigte Kindheitserlebnisse zurückzuführen, gibt es (...) die Möglichkeit von zusätzlichen psychotherapeutischen Gesprächen. Der Schwerpunkt der „endogenen“ Depression, die meist schwerer ist und auf einer Stoffwechselstörung im Gehirn beruht, liegt in der medikamentösen Behandlung. Antidepressiva sind wirksam (70% der behandelten Patienten sprechen an) und verlieren mit zunehmender Therapiedauer nicht an Wirksamkeit.

Als Ursache der Erkrankung gilt den Verfassern eine „Stoffwechselstörung im Hirn“. Depressive Erkrankungen wären demnach vor allem mit antidepressiv wirkenden Medikamenten zu behandeln; nur unter bestimmten Umständen könnte eine Therapie „zusätzlich“ in Erwägung gezogen werden. Da ist es nützlich zu wissen, dass es sich bei der Website www.depression.de um „eine Initiative“ des Pharmaunternehmens Essex Pharma handelt, das das Medikament Mirtazapin herstellt. Aber auch beim offiziösen Kompetenznetz Depression, gefördert vom Bundesbildungsministerium, klingt die Empfehlung kaum anders:

Bei mittelschweren und schweren Depressionen ist eine Behandlung mit Antidepressiva dringend geboten. Diese Medikamente bewirken bei der Mehrheit der Patienten innerhalb von zwei bis sechs Wochen ein Abklingen der depressiven Symptome, wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen.

Antidepressiva gehören mittlerweile zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten überhaupt. Weltweit bringen sie ihren Herstellern einen Jahresumsatz von 19 Milliarden Dollar. In Deutschland werden (laut Deutschlandradio Kultur) etwa 900 Millionen Tagesdosen konsumiert. Das wäre ausreichend für 2,5 Millionen Menschen. Weil aber viele die Mittel nur eine kürzere Zeit lang einnehmen, muss die Zahl der Konsumenten noch wesentlich höher liegen. In den USA bekamen im Jahr 2005 27 Millionen Menschen antidepressive Mittel verschrieben. Das entspricht etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die Zahl der Verschreibungen soll sich seit 1996 verdoppelt haben.

Dieser beispiellose Erfolg wurde möglich, weil der Symptomkomplex „Depression“ in der westlichen Welt zu einer Volkskrankheit geworden ist. Beigetragen hat aber auch die geschickte Vermarktung der Produkte der Pharmaindustrie. Es gelang ihr, die „Glückspillen“ vom Typ Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) als harmlos und unproblematisch darzustellen. Tatsächlich haben die Medikamente, die ab den 1970er Jahren auf den Markt kamen, deutlich weniger Nebenwirkungen als ihre Vorgänger. Angeblich beruht ihre Wirkung darauf, dass sie zielgenau in die Produktion und den Abbau des Neurotransmitters Serotonin im Hirn eingreifen. Neuere Antidepressiva beeinflussen neben Serotonin auch das Level von Noradrenalin und Dopamin. Noch vor wenigen Jahren wurden die Selektiven Wiederaufnahmehemmer höchstens dafür kritisiert, dass sich nun vermeintlich jeder sein Glück kaufen könne – in Pillenform. Manche prophezeiten sogar, es entstünde eine neue Kultur der medikamentösen Selbstbeeinflussung, eine kosmetische Psychopharmakologie.

Mittlerweile ist die Begeisterung merklich abgeflaut. Nur ein Beispiel: Vor wenigen Wochen veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen Bericht über drei neue Antidepressiva. Das Ärzteblatt fasst das Ergebnis folgendermaßen zusammen:

Für Bupropion von GlaxoSmithKline konstatiert das Institut einen Nutzen bei der sogenannten Winterdepression. Mirtazapin von Essex Pharma wird unter Vorbehalten positiv bewertet, während eine Wirkung von Reboxetin nicht ausreichend durch Studien belegt sei.

Psychopharmaka im Gegenwind

Das Image, dass der jüngsten Generation der Antidepressiva in der Öffentlichkeit anhaftete und von manchen Medizinern noch befördert wurde – unproblematisch, kaum Nebenwirkungen, wirksam – verblasst. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfiehlt mittlerweile Prozac nur noch in schweren Fällen zu verabreichen. Die US Food and Drug Administration (FDA) hat die Warnungen auf den Beipackzetteln der SSRI deutlich verschärft. Diese weisen seit zwei Jahren beispielsweise darauf hin, dass die Einnahme bei Depressiven unter 25 das Selbstmordrisiko erhöht.

Besonders der irische Psychiater David Healy hat dazu beigetragen hat, dass die Nebenwirkungen und vor allem die Langzeitfolgen von SRRI ernster genommen werden. (Von ihm stammt übrigens auch die wunderschöne Charakterisierung eines pharmagestützten Lebens als „Geburt, Ritalin, Prozac, Viagra, Tod“.) Er kritisiert unermüdlich die Vorstellung, die Einnahme von antidepressiver Psychopharmaka sei unproblematisch.

Die folgenreichsten Angriffe aber kamen nicht von Healy, sondern von Irving Kirsch, einem englischen Psychologen. Er ist überzeugt, dass Antidepressiva nicht wirksamer sind als Placebos, Scheinmedikamente ohne Wirkstoff. (Das bedeutet aber nicht, dass sie wirkungslos sind. Ausdrücklich warnt er Betroffene davor, die Antidepressiva abrupt und ohne Absprache mit einem Arzt abzusetzen.) „Mir gefällt es, das Boot zum Wackeln zu bringen – besonders dann, wenn es verdient zu sinken“, sagt Kirsch über sich selbst. Sein neues Buch heißt The Emperor's New Drugs, Des Kaisers neue Medikamente – stehen die Antidepressiva tatsächlich nackt da und nur Kirsch spricht es unverblümt aus?

Mitte der 1990er Jahre begann Kirsch, die verfügbaren Studien auszuwerten. Damals war sein Ziel noch nicht, „den Mythos der Antidepressiva widerlegen“. Der Psychologe suchte zwar nach Belegen für die Wirksamkeit von Placebos, aber bezweifelte nicht, dass die Scheinmedikamente der echten unterlegen seien. Insgesamt werteten er und sein Doktorand Guy Sapirstein 38 klinische Studien aus, an denen über 3.000 depressive Patienten teilgenommen hatten. Das Ergebnis: Placebos erreichten etwa 75 Prozent der Wirkung von Antidepressiva. Nur ein Drittel der medikamentösen Wirkung konnte auf den jeweiligen Wirkstoff zurückgeführt werden.

Aber es kam noch schlimmer. Die Studien, die in Kirschs Meta-Analyse einflossen, testeten nicht nur SSRI, sondern auch trizyklische Antidepressiva, die in den 1960er Jahren gebräuchlich waren, und sogar Mittel, die gar keine Antidepressiva sind – ein Schilddrüsenmedikament beispielsweise und Beruhigungsmittel. Auch diese Medikamente führten dazu, dass die depressiven Patienten sich besser fühlten als die Teilnehmer in den Kontrollgruppen, die nur Placebos erhielten. Die Forscher standen vor einem Rätsel. Es ist allgemein bekannt, dass die neueren Antidepressiva nicht stimmungsaufhellender wirken als die alten, ihr Vorteil liegt darin, dass sie weniger unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen. Aber wie konnte ein Hormon gegen Schilddrüsenunterfunktion eine Depression abmildern?

Ihre Antwort lautete, kurz gefasst: Auch die scheinbare Überlegenheit der Medikamente war auf den Placebo-Effekt zurückzuführen, wenigstens zum Teil. Das Gemeinsame von SSRI, Trizyklika und Sedativen, die gestestet worden waren, lag darin, dass die Testpersonen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen erlebten. Diese Patienten schlossen daraus, dass sie nicht in der Kontrollgruppe gelandet waren, sondern ein wirksames Mittel bekamen – das dann prompt besser wirkte. (Auch Patienten, die Placebos erhalten, spüren Nebenwirkungen, aber weniger starke und seltener.) Damit schmolz die Überlegenheit der Antidepressiva noch weiter zusammen. „Ich wurde zu einem Zweifler und schließlich zu einem Ungläubigen“, schreibt Kirsch.

1998 veröffentlichten er und sein Kollege ihre Ergebnisse. Die „provokative Analyse“ rief heftige Kritik hervor. Auch um seine Kritiker zu widerlegen, begann Kirsch kurz darauf mit einer neuen, noch umfassenderen Meta-Analyse. In sie gingen auch unveröffentlichte Studien ein. Mit einem Antrag nach dem US-amerikanischen Freedom of Information Act verschaffte Kirsch sich Zugang zu den Studien, die bei der FDA lagen. Die Auswertung ergab, „dass 82 Prozent der medikamentösen Wirkung auch durch wirkungslose Placebos erreicht werden kann.“

Publikations-Bias und offene Geheimnisse

Dieser 18prozentige statistische Unterschied entspricht aber laut Kirsch nur einem sehr kleinen klinischen Unterschied: Den medikamentierten Patienten ging es kaum besser als den nur schein-medikamentisierten. Der Psychologe empfiehlt statt Psychopharmaka Gesprächs- und Verhaltenstherapien. Zwar seien auch diese kurzfristig kaum effektiver als Placebos, langfristig aber wirksamer, weil die Therapierten seltener Rückfälle erlitten. Befürworter der SSRI beharren darauf, dass SSRI Placebos überlegen seien – wobei sie selten erwähnen, wie klein dieser Unterschied ist.

Es ist durchaus möglich, dass Kirsch übertreibt: Auch wirksame Medikamente schneiden bei Doppelblindstudien häufig schlecht ab und viele behandelnde Ärzte schwören auf die SSRI. Die Debatte über die Antidepressiva, die der englische Psychologe angestoßen hat, zeigt noch etwas anderes: Eine medizinische Minderheitenmeinung hat es desto schwerer, je größer die Interessen sind, denen sie im Wege steht.

Grundlage des Erfolgs der Selektiven Wiederaufnahme-Hemmer ist die These, dass Depressionen die Folge eines gestörten Hirnstoffwechsels der Neurotransmitter sind. Aber, zur Überraschung eines medizinischen Laien, diese Rolle der Neurotransmitter ist keineswegs bewiesen. Irving Kirsch meint:

Von Anfang an waren die Belege für die These vom chemischen Ungleichgewicht (als Ursache von Depressionen; M.B.) schwach oder widersprüchlich, und ihr widersprechende Hinweise wurden einfach ignoriert.

Die These, dass einer depressiven Erkrankung ein Mangel von Serotonin entspricht, wie der Alltagsverstand annehmen könnte, ist jedenfalls keineswegs kaum zu verteidigen.

Wenn experimentell die Menge des verfügbaren Serotonins bei einer gesunden, nicht-depressiven Versuchsperson gesenkt wird, oder die Menge von Noradrenalin oder von Dopamin, beeinflusst das deren Stimmung kein bisschen.

Kirsch zitiert eine Meta-Analyse, die vor zwei Jahren veröffentlicht wurde und in der es heißt:

Obwohl die Monoamin-Systeme (zu denen die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin gehören; M..B.) bisher als verantwortlich für die Entstehung der schweren depressiven Erkrankung (major depressive disorder, MDD) galten, stützen die bisher vorhandenen Informationen keine direkten kausalen Zusammenhang. Es gibt keinen einfachen direkten Zusammenhang zwischen dem Level von Serotonin oder Noradrenalin im Gehirn und der Stimmung.

Wie also konnte die These von der „Hirnstoffwechselstörung Depression“ zu einer Wahrheit werden, die öffentlich zu bezweifeln Mut erfordert? Sie konnte es, weil sie (fast) allen Beteiligten gut in den Kram passte: Kranken, Ärzten und vor allem der Pharmaindustrie.

Angeblich werden nur 40 Prozent der medizinischen Studien veröffentlicht. Andersherum gesagt, die finanzierenden Pharmaunternehmen halten den größeren Teil zurück. Als Irving Kirsch versuchte, sich eine möglichst große Datenbasis zu verschaffen, lernte er gängige Praktiken wie 'salami publishing' oder 'cherry picking' kennen: Die Unternehmen leiteten nämlich keineswegs alle Informationen an die Aufsichtsbehörden weiter, sondern streckten Datensätze, die einen positiven Eindruck vermittelten, über mehrere Veröffentlichungen, sie wählten sich bei Studien, die an mehreren Orten stattfanden, die besten Datensätze aus, ja: Laut Kirsch kam es vor, dass manche Unternehmen solange testen ließen, bis das erwünschte Ergebnis da war. Die Aufsichtsbehörden ließen sie gewähren. Mittlerweile gelten diese Veröffentlichungspraktiken als unfein – was aber offenbar nicht bedeutet, dass eine Prüfstelle wie das IGWIK Zugang zu allen Daten bekommt.

Aber es waren nicht nur die Verkaufs-Interessen der Phamabranche, die den Mythos von der medikamentösen Wunderwaffe schufen, auch die Forscher halfen mit: Wissenschaftlichen Zeitschriften haben eine bekannte Abneigung gegen Studien, die die Wirkungslosigkeit eines Medikaments zeigen (publication bias). Dass eine Substanz nicht wirkt, ist keine Nachricht, mit der sich im Wissenschaftsbetrieb punkten lässt. Aber der medizinisch-industrielle Komplex hätte die SSRI nicht durchsetzen können, wenn sie nicht wirklich dringende Bedürfnisse von Ärzten und Kranken erfüllen würden.

Das Geheimnis des Erfolges der Antidepressiva lag und liegt nämlich auch in der Beziehung zwischen Depressiven und ihren Ärzten. Scheinmedikamente können Mediziner kaum guten Gewissens verschreiben. Depressiven Patienten kommt eine Kapsel recht, die ihnen ohne weitere Anstrengung helfen soll. Dieser „Wille zum Glauben“ auf beiden Seiten setzt jene Feedback-Schleife in Gang, die für den Placebo-Effekt kennzeichnend ist: Der Arzt erwartet eine Verbesserung – der Patient erwartet sie auch – der Patient spürt sie – der Arzt beobachtet den verbesserten Zustand und kommuniziert diese Wahrnehmung an den Patienten – ...