"30 bis 40jährige Männer sehen aus wie 70"

Ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam bemüht sich um Ansichten und Stimmen der "normalen Afghanen"

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70 Prozent der Afghanen erkennen in der Armut und in der Arbeitslosigkeit die Hauptursachen für den Konflikt in ihrem Land. Das stellt die britische Hilfsorganisation Oxfam als eines der zentralen Ergebnisse ihres 55 Seiten starken Berichts "The Cost of War" (PDF) heraus. Das Papier rückt den gegenwärtigen Konflikt in eine geschichtliche Perspektive, die 1978 mit dem Coup d'Etat gegen den damaligen afghanischen Präsidenten Mohammed Daoud Khan beginnt. In den folgenden Jahren wurden nach Angaben von Oxfam 870 000 Afghanen getötet, drei Millionen verstümmelt oder verwundet, eine Millionen innerhalb des Landes vertrieben und 5 Millionen zur Flucht außerhalb des Landes gezwungen.

In Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen, u.a. Civil Society Forum (ACSF), Afghan Peace and Democracy Act (APDA), Association for the Defence of Women’s Rights (ADWR), Education Training Center for Poor Women and Girls of Afghanistan (ECW), wurden 704 „normale“ Bewohner Afghanistans im ganzen Land befragt; Stimmen, die in der Berichterstattung über den Konflikt so gut wie nie berücksichtigt werden, so Oxfam.

Präzisiert wird, dass es sich um keine Auswahl nach statistisch korrekten Kriterien der Repräsentativität handelt, und die Personen eher zufällig ausgewählt wurden. Die Aussagen wurden natürlich dennoch nach Zahlen aufbereitet, die repräsentativ für den Zustand des Landes sprechen sollen. Demnach überlegt sich jeder sechste Afghane derzeit, ob er das Land nicht verlassen soll. Jeder 5te wurde seit 1979 Folterungen ausgesetzt und drei Viertel der Afghanen mussten seither ihr Zuhause verlassen. Ungefähr die Hälfte der 25 Millionen Einwohner lebt laut Oxfam in großer Armut.

Die Einschätzung der Bevölkerung über Bedrohung und Intensität des gegenwärtigen Konflikts variiert, wie sich in dem Oxfam-Bericht erneut bestätigt, sehr nach Provinzen. Das „Mosaik Afghanistan“ zeigt sich auch in den Aussagen zu „The Cost of War“. Die Antwort auf die Frage, welche Phase der Konflikte seit 1979 die Befragten als die schlimmste Periode werteten, zeigte laut Oxfam „eine signifikante regionale Variation“ in der Wahrnehmung. Insgesamt, also ohne Differenzierung nach Provinzen, wurde die „kommunistische Periode“ (1979-1992) von 38% als „gefährlichste und schädlichste“ angegeben, 22 Prozent nannten die Phase des Bürgerkriegs (1992- 1996) und 22% die Zeit der Talibanherrschaft (1996 bis 2001).

Die gegenwärtigen Kriegshandlungen, deren Beginn mit dem Einmarsch der internationalen Truppen unter der Führung der USA im Herbst 2001 angesetzt wird, wurden im landesweiten Durchschnitt nur von 3 Prozent als “most harmful period“ angegeben. Das sei der gleiche Prozentsatz, der eine Antwort auf die Frage verweigert habe, notieren die erstaunten Verfasser des Berichts, die diese kleine Zahl „teilweise“ damit erklären, dass die „Feldforscher“ keinen Zugang zu den Gebieten hatten, wo die „Konflikte aktiv sind“ und zum anderen damit, dass der gegenwärtige Konflikt im Vergleich zu anderen relativ kurz sei - eine etwas seltsame Begründung, da auch der gegenwärtige Krieg zwischen USA, Nato und Widerständlern schon seit acht Jahren andauert.

Der Erklärungsnot, die damit ausgelöst wird, versucht der Bericht mit aussagekräftigen O-Tönen beizukommen, die aus Konfliktgebieten stammen und der „Statistik“ eine anders wahrgenommene Wirklichkeit gegenüberstellen: „In Gebieten, in denen der Konflikt erfahren wird, sind die Schäden offensichtlich. Die Personen erwähnten die Wirkung, die unmittelbare Gewalt auf sie hatte, sie sprachen von der Wirkung von Schikanen, von Luftangriffen und Selbstmordanschlägen auf sie, und sie drückten Angst und Sorgen um die Zukunft aus, vor allem was die Ausbildung der Kinder betrifft, aber auch die Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.“

Den Schwierigkeiten eingedenk, die afghanische Realität mit Zahlen (siehe auch 10 Dollar, Taschen voll Gold und Millionen) und mit einzelnen Aussagen von Bewohnern abzubilden, bietet der Bericht im Haupstück eine Übersicht der Ursachen, die von den 704 befragten Afghanen als hauptursächlich für den gegenwärtigen Konflikt angegeben werden. Demnach sind für 70 Prozent der Befragten „Armut und Arbeitslosigkeit“ die „major driving forces“. 48% gaben dafür Korruption und eine ineffektiv agierende Regierung an. 38 Prozent sahen in den Taliban den Hauptmotor des Konflikts, 18% in der al-Qaida. Die gleiche Prozentzahl nennt die Anwesenheit der westlichen Armeen. 17 Prozent beschweren sich über mangelnde Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. 16 Prozent geben den Warlords die Hauptschuld und 14 Prozent „kriminellen Banden“. Und Azim Mohammad aus Nangarhar äußert die anschaulichsten Worte für den empfundenen Zustand des Landes:

Was glauben Sie, welche Wirkung es auf uns hat, dass zwei Millionen Afghanen zum Märtyrer wurden, dass 70 Prozent von Afghanistan zerstört wurden und dass unsere Wirtschaft ausgemerzt wurde? Die Hälfte der Bewohner sind wahnsinnig geworden (i.O. „ driven mad“). Ein Mann, der 30 bis 40 Jahre alt ist, sieht aus wie 70. Wir leben in Angst. Wir sind nirgends in Afghanistan sicher.