Mit Bildungsinvestitionen zum nächsten Wirtschaftswunder?

Ein Strategiepapier des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte plädiert für eine milliardenschwere Bildungsoffensive, die bis 2035 zu einer Verdopplung des deutschen Wirtschaftsproduktes führen soll. Doch welche Rolle spielt das Thema im NRW-Landtagswahlkampf?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es gibt Begriffe, die einfach in die öffentliche Diskussion geworfen werden müssen, wenn man als halbwegs kompetenter Gesprächspartner daran teilnehmen will. Der schillernde Zweisilber Bildung gehört ebenso unzweifelhaft dazu wie der viel zitierte Klimawandel oder die multifunktionale Nachhaltigkeit. Ob mit den Signalwörtern konkrete Inhalte verbunden werden, ist offenbar zweitrangig, denn das politische Tagesgeschäft befasst sich schließlich allenfalls noch mit den Rudimenten des medialen Schlagabtauschs.

Diese Situation ist umso bedenklicher als sich hinter den ausgereizten Begrifflichkeiten zentrale Zukunftsaufgaben verbergen, die zeitnah in Angriff genommen oder eben versäumt werden. Zeigt doch allein das Beispiel Bildung, wie jahrzehntelange Versäumnisse nicht nur einen Reformstau, sondern auch eine Abwärtsspirale initiieren können, die im internationalen Vergleich kaum noch zu kompensieren ist und längst ökonomische Nachteile zeitigt.

Auch passionierte Anhänger der Marktwirtschaft – wie etwa das Institut der deutschen Wirtschaft Köln – haben diesen Zusammenhang mittlerweile erkannt und beziffert. Nach einer neueren Studie liegt die jährliche Rendite für ein Studium mit 7,5 Prozent erkennbar über den durchschnittlichen Kapitalmarktzinsen von 4 Prozent (Wunder gibt es immer wieder).

Bildung als "superiores Gut"

Eine drastische Erhöhung der Bildungsausgaben könnte sich demnach sowohl privat- als auch volkswirtschaftlich positiv auswirken. Diese These vertritt auch der Wirtschaftswissenschaftler Peer Ederer, der an der Zeppelin University in Friedrichshafen die "Innovation & Growth Academy" leitet. In einer aktuellen Untersuchung für den Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte plädiert Ederer für eine "konsequente Bildungsstrategie" und Gesamtinvestitionen in Höhe von 186 Milliarden Euro, die durch laufende Ausgaben von noch einmal 59 Milliarden Euro pro Jahr ergänzt werden müssten. Angesichts der wirtschaftlichen Gesamtlage hält der Autor selbst ein solches Szenario für wenig realistisch. Aber die Rendite würde stimmen, glaubt Ederer.

Doch diese Investitionen würden bis 2035 zu einer Verdopplung des Wirtschaftsproduktes und einer Pro-Kopf-Steigerung von 3,3 % p.a. führen. Kein Unternehmer würde eine solche Gelegenheit ausschlagen. Wenn es nur einen vernünftigen Grund für private oder staatliche Verschuldung gibt, dann ist es eine Investition, deren Ertrag die Finanzierungskosten übersteigt. Die Finanzierung von Bildungsinvestitionen zum Beispiel am Anleihemarkt ist für ca. 5 % p.a. möglich, während die Erträge bei über 10 % liegen. Das wäre auch für private Investoren attraktiv, muss also nicht über die öffentlichen Haushalte organisiert werden.

Peer Ederer

Trotz aller Engpässe hält Ederer es für möglich, die Anstrengungen im Bildungsbereich deutlich zu erhöhen, wenn von politischer Seite eine entsprechende Schwerpunktsetzung erfolgt. Schließlich seien auch die Gesundheitsausgaben in den vergangenen Jahren um rund einen Prozentpunkt schneller gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt, weil Fortschritte in der medizinischen Forschung und Versorgung als "superiores Gut" angesehen würden. Ähnliche Prioritäten könnten für den gesamten Bereich der Bildung beschlossen werden, um einerseits Milliardenbeträge in die frühkindliche Betreuung sowie in die Schul-, Berufs- und Universitätsausbildung und andererseits in eine massive Ausweitung der Erwachsenenbildung zu investieren.

Mit einer solchen Strategie würden wir nicht länger Einkommen umverteilen – mit all den kontraproduktiven Anreizen, die damit verbunden sind – sondern Chancen. Mehr Wohlstand, mehr Gerechtigkeit und mehr Nachhaltigkeit wären die Folge. Wir könnten ganz Deutschland in blühende Landschaften verwandeln und wir hätten mehr Mittel in der Hand, um auch internationalen Herausforderungen begegnen zu können – von der einhergehenden internationalen Anerkennung ganz zu schweigen.

Peer Ederer

Nun haben sich an den blühenden Landschaften schon andere verhoben und man mag darüber streiten, ob ausgerechnet das deutsche Gesundheitssystem geeignet ist, "superiore Güter" zu schützen. Gleichwohl stellt sich die Frage nach einer überzeugenden, solide finanzierten und zukunftsfähigen Bildungsstrategie immer drängender – auch für die Parteien, die am 9. Mai in den nordrhein-westfälischen Landtag einziehen wollen.

"(Die Beste) Bildung für alle"

Im Gegensatz zum Bundestagswahlkampf 2009, als das Thema Bildung nach und nach an Strahlkraft verlor, bis es beim Kanzlerduell überhaupt nicht mehr zur Sprache kam, wird in Nordrhein-Westfalen intensiv und kontrovers über Kita-Plätze, Schulreformen oder Studiengebühren diskutiert. Bildung ist eben Ländersache und für zahlreiche Beobachter das "wichtigste Wahlkampf-Thema" oder gar "der Wahlkampfschlager" im bevölkerungsreichsten Bundesland. Tatsächlich gibt es hier auf den ersten Blick substanzielle Unterschiede zwischen den Parteien oder politischen "Lagern".

"Beschäftigungssicherheit für viele", aber "Bildung für alle". Das aktuelle Wahlprogramm der nordrhein-westfälischen CDU setzt schon mit den Kapitelüberschriften klare Prioritäten. Dabei kommt der gesamte Hochschulbereich in der Rubrik "Bildung für alle" überhaupt nicht vor. Er wird unter dem Stichwort "Wachstum schafft Arbeit" und vorwiegend unter Forschungsgesichtspunkten abgehandelt. In der Regierungszeit von Jürgen Rüttgers seien "gemeinsam mit der Wirtschaft" 24 neue Spitzenforschungsinstitute, High-Tech-Labore und Denkfabriken entstanden.

So viel wissenschaftliche Exzellenz hat in den letzten Jahren kein anderes Bundesland aufgebaut.

CDU Nordrhein-Westfalen

Wenn es um frühkindliche Bildung und Schulpolitik geht, gibt sich die Union etwas bescheidener, vergisst aber auch hier nicht, den phänomenalen Auswärtstrend der vergangenen Jahre herauszustellen.

Mit dem Ende der Legislaturperiode werden wir rund 2,7 Milliarden Euro mehr für Kinder, Jugend und Bildung ausgegeben haben als die Vorgängerregierung.

CDU Nordrhein-Westfalen

In den kommenden Jahren will die CDU vor allem in die Ganztagsschulangebote und in die Betreuung von Kindern unter drei Jahren investieren. An schnelle und flächendeckende Maßnahmen ist dabei aber wohl nicht gedacht. Erst in drei Jahren soll für ein Drittel der Unterdreijährigen ein Kita-Platz zur Verfügung stehen, bis 2015 könnten 43 Prozent aller Schüler einen Ganztagsplatz bekommen.

Bei den Genossen heißt das entsprechende Kapitel des Wahlprogramms "Die Beste Bildung für alle". Es ist nicht nur deutlich umfangreicher als das der CDU, sondern wartet überdies mit konkreten Zahlen, einem Sofortprogramm und vielen Details auf.

So will Hannelore Kraft im Falle einer Regierungsübernahme beispielsweise die Gemeinschaftsschule bis zur 10. Klasse als "Schule der Zukunft" etablieren, das "Turboabitur" wieder aufweichen und die Kopfnoten abschaffen. Im Bereich Hochschulen lauten die SPD-Versprechen unter anderem: keine Privatisierung von Hochschulstandorten, Überarbeitung und Weiterentwicklung des Bologna-Prozesses, Rücknahme der Studiengebühren und Übernahme des Hochschulpersonals in den Landesdienst, um die ausufernde prekäre Beschäftigung einzudämmen.

Schwer vorstellbar, dass eine eventuelle Große Koalition im Bereich der Bildungspolitik einen Konsens erzielen könnte. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers spricht angesichts der SPD-Pläne gern von einem drohenden "Schulkampf" und prophezeit "zehn Jahre Chaos", wenn sich seine Herausforderin mit ihren Vorstellungen durchsetzen würde.

Die Union hält unbeirrt am dreigliedrigen Schulsystem fest, auch wenn die Haupt- und Realschulen des Landes rückläufige Abmeldungen verzeichnen und viele von ihnen die nächsten Jahre entweder gar nicht oder nur in Form der Hilfskonstruktion "Profilschule" überstehen dürften. Doch im Wahlkampf ist für Feinheiten kein Platz. "Diese Schule wird geschlossen, wenn Rot-Rot regiert", titeln die Plakate der aktuellen Regierungspartei.

Basisdemokratie im Bildungsland Nr.1

Dass Ähnliches geschehen könnte, wenn die Bündnisgrünen auf der Regierungsbank Platz nehmen, wird hier wohlweislich verschwiegen, denn nach den Pilotprojekten in Hamburg und im Saarland können sich viele CDU-Anhänger auch in Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Variante vorstellen. Ob ihr Planspiel am Ende aufgeht, liegt vor allem am Ausmaß der Flexibilität, mit dem die Grünen in etwaige Verhandlungen ziehen.

Ihre bildungspolitischen Vorstellungen decken sich zwar weitgehend mit denen der SPD, und die Abschaffung der Studiengebühren dürfte kaum zur Disposition stehen. Doch in der Schulpolitik stehen Hintertüren offen, auf denen vieldeutige Etiketten wie "bedarfsgerecht" kleben. Eine schnelle Reform "von oben" ist nicht vorgesehen. Ob es sich hier um eine kluge Einbeziehung aller am System Beteiligten oder um ein Gesprächsangebot an einen ungeliebten Koalitionspartner handelt, wird die Zukunft zeigen. Heißt doch die Kapitelüberschrift "Kluges NRW" und der Untertitel erwartungsgemäß "Recht auf Bildung für Alle".

Ein integratives Schulsystem wird zwar mit klaren landespolitischen Zielen und Vorgaben entwickelt und gesteuert, aber es kann nur von unten wachsen, denn wir müssen alle Beteiligten einbinden. Deshalb gestalten wir Grünen einen Prozess, der bei den Kommunen ansetzt. Wir werden die bestehenden zentral vorgegebenen Schranken der Schulformen öffnen, damit sich das verkrustete Schulsystem in NRW mit dem demografischen Wandel, dem Schulwahlverhalten der Eltern und der zunehmenden kommunalpolitischen Bedeutung von Schulen am Ort zu einem System mit längerem gemeinsamem Lernen verändert. Wir werden die verbindlichen Grundschulgutachten und den Prognoseunterricht umgehend abschaffen. Unser Ziel ist ein Schulsystem, das nicht aussondert. Wir wollen Gemeinschaftsschulmodelle ermöglichen.

Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen

Die FDP hat sich für den abweichenden Slogan "Aufstieg durch Bildung" entschieden, der im aktuellen Wahlprogramm unmittelbar der Präambel folgt und so die Bedeutsamkeit des Themas unterstreichen soll.

Seit der zuständige Minister und liberale Spitzenkandidat Andreas Pinkwart die Chance wittert, sein Stipendiensystem auf ganz Deutschland auszudehnen, halten sich die innovativen Vorschläge allerdings in engen Grenzen. Selbstredend soll Nordrhein-Westfalen "bis 2015 zum Bildungsland Nr. 1 in Deutschland" gemacht und wenn möglich die Frage übergangen werden, warum das nicht schon bis 2010 geschehen ist.

Soziale Aspekte, die im FDP-Sprachgebrauch "Regulatorische Rahmenbedingungen" heißen, sollen beim umstrittenen Stipendiensystem weiterhin keine entscheidende Rolle spielen.

Ein Dringlichkeitsprogramm und der Bildungsbegriff

DIE LINKE hält bekanntlich nicht übertrieben viel von ausufernden Erläuterungen und langwierigen, allzu detailverliebten Debatten. Hier heißt es unter der immerhin vergleichsweise aussagekräftigen Überschrift "Bildung ist keine Ware": Alles wird besser und wahrscheinlich auch sofort! Dem "Dringlichkeitsprogramm" reichen 934 (mit Leerstellen) Zeichen, um das gesamte bildungspolitische Vorhaben auf den Punkt zu bringen.

Bildung ohne Gebühren von der Kita für Unter-3-Jährige bis ins hohe Alter ist unser Ziel: Die Gebühren in Kitas und an Hochschulen gehören jetzt abgeschafft! Wir werden "Eine Schule für Alle", in der alle Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen, schaffen. In dieser Schule hat jedes Kind ein Recht auf freie Lehr- und Lernmittel und ein gesundes Essen. Wir wollen die Abschaffung des Turboabiturs nach zwölf Jahren, der zentralen Abschlussprüfungen und der Kopfnoten sowie die Wiedereinführung der Grundschulbezirke. Wir sind für ein Grundrecht auf Ausbildung und die Stärkung der betrieblichen Ausbildung in NRW durch eine Ausbildungsumlage. Das so genannte "Hochschulfreiheitsgesetz" werden wir abschaffen und die Einleitung eines Studienreformprozesses anstoßen, in dessen Rahmen gemeinsam mit den Studierenden Reformmöglichkeiten und Studienabschlüsse entwickelt werden. Die Umsetzung des Bologna-Prozesses lehnen wir ab.

DIE LINKE Nordrhein-Westfalen

Ein Grußwort, ein Selbstporträt und schon geht es bei der Piratenpartei zum allerersten Programmpunkt Bildungspolitik. Die Piraten bearbeiten zahlreiche Aspekte und warten sowohl mit provokanten Ideen (Einführung eines eingliedrigen Schulsystems) als auch mit konkreten Vorschlägen auf, wie die technische Ausstattung der Bildungseinrichtungen – etwa durch die Finanzierung einer landesweiten IT-Initative – verbessert werden könnte.

Bemerkenswert: Die mutmaßlichen Außenseiter widmen der Definition des Begriffs Bildung ein eigenes Kapitel.

Die basisdemokratische Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen, wie sie von der Piratenpartei gefordert wird, ist nur mit mündigen, selbstbestimmten und aufgeklärten Bürgern möglich, die sich kritisch, lernfähig und solidarisch in die Willensbildung einbringen wollen. Die Piratenpartei NRW bekennt sich deshalb zu einem umfassenden Bildungsbegriff in der Tradition Humboldts. Wir sehen in einer besser gebildeten Bevölkerung einen Gewinn für eine demokratische und soziale Gesellschaft, der weit über quantifizierbare Effekte hinausgeht. Die soziale und kulturelle Herkunft sowie die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Elternhauses dürfen keinen Einfluss auf den individuellen Zugang zu Bildung haben.

Piratenpartei Nordrhein-Westfalen

Die Piraten geben aber auch freimütig zu, dass die anstehenden bildungspolitischen Aufgaben "durch eine Umschichtung der Landesmittel allein nicht finanziert" werden können. Allein die Reduzierung der Klassengrößen auf 15 Schüler innerhalb der nächsten zehn Jahre würde ihrer Einschätzung nach eine Verdopplung der Zahl der Lehrkräfte voraussetzen. Um die Bildungsausgaben jährlich um 8 Prozent zu können, müsse "ein neuer Finanzierungsmodus" mit dem Bund vereinbart werden. Wie dieser aussehen soll und was den Bund bewegen könnte, sich auf solche Verhandlungen einzulassen, wird nicht erklärt.

Von einer "konsequenten Bildungsstrategie" kann bei den Parteien in Nordrhein-Westfalen nur bedingt die Rede sein, zumal derzeit nicht absehbar ist, was nach der Wahl tatsächlich zur Umsetzung ansteht. Stattdessen scheint man sich allerorten darauf vorzubereiten, nach dem 9. Mai erst einmal die größten Baustellen in Angriff zu nehmen. Besser als nichts, werden sich manche Wählerinnen und Wähler sagen. Doch um NRW zum Bildungsland Nr. 1 zu machen und mit politischem Gestaltungswillen Akzente für die Zukunft zu setzen, könnte das wieder einmal zu wenig sein.