Vom Beton zum Menschen

Zuerst der Islam: Abschottung und Parallelwelten in den französischen Vorstädten. Von Gilles Kepels "Banlieue de la République" wird noch viel die Rede sein.

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Von diesem Bericht (Zusammenfassung) wird noch viel die Rede sein. Sein Titel "Banlieue de la République" verrät bereits das Wesentliche. Es geht um Abschottung und Parallelwelten, um Gemeinschaften in den französischen Vorstädten, und darum, wie das Verhältnis zur großen Gemeinschaft, zu den Werten der Republik, aussieht. Darum, wie die Zukunft Frankreichs aussieht. So groß formuliert das der federführende Autor des Berichts, Gilles Kepel. Und er läßt verstehen, dass die Verhältnisse, die er in den "emblematischen Vorstädten" Clichy-sous-Bois und Montfermeil, im berüchtigten Departement 93, Seine-Saint-Denis, sehr genau angeschaut hat, trotz aller Besonderheiten an Phänomene rühren, die es auch außerhalb Frankreichs gibt.

Gilles Kepel hat sich einen Namen als Experte für den politischen Islam gemacht. Seine Veröffentlichungen, am bekanntesten ist wahrscheinlich "Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus", finden weltweit Beachtung. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern hat er vom Sommer 2010 bis zum Sommer dieses Jahres die beiden oben genannten Banlieues sowie deren Umgebung erforscht und dabei mit Hunderten von Bewohnern gesprochen. Die Absicht war, ein "totales Porträt" zu erstellen.

Clichy-sous-Bois (Chemin des postes). Bild: Marianna. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Ausgesucht hat er die beiden Orte, weil sie, obschon wegen örtlicher Besonderheiten nicht repräsentiv, aber bezeichnend sind für eine Entwicklung und typisch, was die Probleme betrifft, mit denen sie zu tun haben. Clichy-sous-Bois stand 2005 im weltweiten Rampenlicht, als dort Unruhen ("émeutes") ausbrachen (11. Nacht: 1408 verbrannte Autos). Seither taucht der Ortsname als Schlüsselbegriff immer wieder dort auf, wo die Gefahr durch islamische Einwanderer beschworen wird. Die Klischees sind zahlreich, auflagesteigernd, publikumswirksam und fixiert wie die Wahrheit im Mittelalter. Kepels Untersuchung bietet eine neue Sicht.

Zunächst offerieren seine Analysen Munition für jene, die mit Befürchtungen unter dem Dach der "Islamkritik" agitieren. "Was macht die Gesellschaft in den Banlieues aus?", fragt Le Monde in einem Artikel zum Kepel-Bericht und gibt die Antwort in Kurzform dazu: "Zuerst der Islam."

Als ob die Werte des Islams die Leere gefüllt hätten, welche die Werte der Republik hinterlassen haben, heißt es weiter. Kepels Bericht zeige einen alltäglichen Islam, der sich im Familienleben wiederspiegelt, in den Ritualen, im häufigen Moscheebesuch, in den gemeinsamen Mahlzeiten, in den moralischen Anschauungen, in den sozialen Beziehungen, in dem, was als erlaubt und was verboten gilt. Während die Republik ihre Versprechungen vervielfacht habe, ohne sie zu halten, gebe die Religion die Strukturen vor, die das Leben der Gemeinschaften in den Banlieues bestimmen. Die religiösen Werte strukturieren das Leben in den Vorstädten stärker als der "Glaube an die Republik".

Das findet sich in Aussagen ganz pointiert wieder, die auf der Eingangsseite des Institut Montagne, Herausgeber des Kepel-Berichts, präsentiert werden, etwa im Zitat, wonach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - immerhin die Grundwerte der Republik - woanders Gültigkeit haben:

Sie sprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber das alles gibt es nicht.

Die hier zugrundeliegende Unterscheidung "Die und Wir" ist elementar und prägend für das Selbstverständnis der Bewohner, sie spiegelt sich in vielen Aussagen, die zusammengetragen werden, sie ist aber nicht das einzige prägende Element und sie in einem einfachen Ursache-Wirkungsschema unterzubringen, ist nicht möglich. Zur Abschottung der Viertel tragen zum Beispiel ganz materiell auch miserable Nahverkehrsbedingungen wesentlich bei, wie Kepel hervorhebt. Die religiösen Einstellungen und Praktiken, die das alltägliche Leben strukturieren, sind nur ein Aspekt, der das Leben bestimmt.

Ein anderer, dem Kepel Priorität einräumt, ist die überaus hohe Arbeitslosigkeit, die durch die schlechte Verkehranbindung und soziale Abstände zum Leben der anderen mitbedingt wird. Die Schwierigkeiten zeigen sich auch in der Schulausbildung. Von den Lehrern wird erwartet, dass sie liefern, was die Eltern, die zu einem proportional hohem Prozentsatz Eingewanderte sind, nicht liefern können.

Kulturell anders geartete Ansprüche an die Schule - hier der französische Mittelstand, der den Kindern außerhalb der Schule bereits viel Wesentliches vermittelt, dort die Eingewanderten, die alles vom (damiut überforderten) Lehrer erwarten - zeigen sich übrigens auch an deutschen Schulen, wie ein aktueller Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung im Detail schildert. Auch dieser Bericht räumt wie Kepels Bericht mit dem Klischee auf, dass es "in diesen Milieus" keinen Ehrgeiz in der Ausbildung gebe - im Gegenteil.

Kompensation statt Opposition

Der Islam, der in den Vororten das Leben strukturiere, werde nicht aus einer Oppositionshaltung heraus etwa als "Parallelwelt" gewählt, die mit der anderen Welt nichts zu tun haben will, lässt sich als Kern der Erkenntnisse Kepels herausschälen, sondern er stellt etwas zur Verfügung, was die Republik zu geben versäumt. Die Kompensation für das Gefühl "sozial, politisch und wirtschaftlich" zu den Aussätzigen, den unwürdigen Underdogs zu gehören und ein Gemeinschaftsgefühl, eine soziale Verbindung, die übrigens nicht nur Muslime einschließt. Das habe sich auch bei den Unruhen gezeigt:

Selbst wenn sich das Vokabular, das bei den Unruhen hörbar wurde, einiges aus dem semantischen Register des Islam ausgeliehen hat, so hatte die Zielrichtung nichts mit Bin Laden zu tun, ganz im Gegensatz zu vielen Hirngespinsten, die hier und da verbreitet wurden. Der Ausgangspunkt war ein sozialer, er rieb sich an der Ablehnung der Integration in die größere Gesellschaft, ganz deutlich sichtbar beim Zugang zur den Arbeitsplätzen - und nicht alle Teilnehmer der Unruhen waren Moslems. Die Solidarität der Gemeinschaft, die eine der Ressourcen der Mobilisierung stellte, war der Auslöser. Dass Attacken auf eine Moschee Auslöser der Mobilisierung war, wurde im Nachhinein vergrößert dargestellt, um die Revolte zu sakralisieren und zu legitimieren.

Gilles Kepel

In diesem Ausschnitt zeigt sich ein bemerkenswerter Punkt der Kepelschen Analyse: Er hat es nicht darauf abgesehen, den Islam als wesentliches Element für die Identität und das Leben der meisten Bewohner der Vorstädte herunterzuspielen, aber er ordnet die Religion in ein größeres Koordinatensystem ein, das das tägliche Leben ausmacht. Dadurch kann er Widersprüche sichtbar machen, welche die ideologische Sichtweisen verdrängen. Dass zum Beispiel die große Mehrheit der Muslime in den Vorstädten überhaupt nichts gegen eine Ehe mit Nichtmuslimen haben und sie sehr viel weniger antisemitisch sind, als es das Klischee so sehen will. Die Bewohner der Enklaven sind in ihrer Einstellung offener, als es in den Stuben anderswo gedacht wird.

Der Staat: Viel Geld für Beton

Auch der Wunsch nach Teilhabe am sozialen und politischen Leben der Republik fällt, wie das ausgeprägte politische Engagement vieler Bewohner und auch hohe Wahlbeteiligungen in der Vergangenheit zeigten, höher aus, als man dies von außen erwartet.

Dass der Staat nichts unternimmt, ist ein weiteres Vorurteil, das in Zusammenhang mit den Banlieues oft genannt wird. Das könne man angesichts des 600 Millionen Euro schweren Programms der urbanenen Erneuerung aber nicht behaupten, es wird viel, sehr viel Geld in die beiden Vorstädte gesteckt, so Kepel. Das würden von vielen Bewohnern auch angenommen und gutgeheißen. Auch die Polizeipräsenz wurde ausgebaut und laut seinen Recherchen entspricht dies auch den Wünschen vieler Bewohner, die sich darin nicht von Bewohnern anderer Viertel unterscheiden. Aber, so Kepel, das große Geld werde in Bauten, in Beton, gesteckt, nicht dahin, wo es die Situation grundlegend verbessern kann.

Für die Mieten der Neubauten braucht man Geld und dafür einen Arbeitsplatz. So würden viele in heruntergekommenen Gebäuden hausen und sich dorthin flüchten. Ein weiterer Rückzug, der sich an andere anschließt. Diese Logik muss unterbrochen werden. Mit besseren Ausbildungsmöglichkeiten, Kindergärten, -krippen, Schulen, besseren Sozialprogrammen, besseren Anschlüssen an die Umgebung. Man muss sich kümmern, wie dies bereits für die Randbezirke der britischen Gesellschaft festgestellt wurde. Der Islam ist nicht das Problem.