Tourismus in den "rechtsfreien" Zonen
Woran die Banlieues kranken, ist vor allem die Welt, die sie umgibt
5 Jahre ist es nun her, da geriet das kleine Städtchen Clichy-sous-Bois drei Wochen lang ins internationale Rampenlicht (siehe 11. Nacht: 1408 verbrannte Autos). Nach wie vor gelten manche Viertel der französischen Vorstädte als gesetzlose Zonen (zones de non-droit), in die sich Polizei und Gendarmerie kaum noch vorwagen. Bei den jungen Wilden, der "racaille" (Gesindel) eben. Eine Initiative des als besonders „sensiblen“ geltenden Departements Seine-Saint-Denis, versucht Besuchern wie Bewohnern zu Bewusstsein zu bringen, dass die „Banlieues“ auch Schönheiten aufzuweisen haben.
Und es ist auch höchst an der Zeit den denkbar schlechten Ruf der französischen Vorstädte zu normalisieren. Wie ein Vorfall im Oktober wieder einmal eindringlich aufgezeigt hat: Das Politmagazin Le Point hatte unter dem marktschreierischen Titel „Was niemand sich zu sagen traut (Immigration, Roma, Beihilfen, Lügen...)“ die Auflage steigern wollen. Eine Story sollte sich der angeblich in den Vorstädten arg grassierenden Polygamie widmen. Doch leider, leider war der Le Point-Reporter, der vermeinte, endlich die junge Frau eines polygamen Mannes gefunden zu haben, einem regelrechten Szenario eines jungen Bewohners von Clichy-sous-Bois, auf den Leim gegangen.
Jawohl, Clichy-sous-Bois, jenes 15 km östlich von Paris gelegene Städtchen, wo der Tod zweier junger Männer 2005 die Unruhen in zahlreichen Vororten der französischen Städte ausgelöst hatte .Die zwei Polizisten, die damals dem Tod der jungen Männer in einem Transformatorenhäuschen tatenlos beigewohnt hatten, sollten nun wegen des Vergehens der unterlassenen Hilfeleistung vors Tribunal gestellt werden. Doch die Staatsanwaltschaft der naheliegenden Stadt, Bobigny, hat bereits Einspruch erhoben. Das Schlusswort zum Auslöser der Krawalle ist also noch immer nicht gesprochen.
Jener junge Bewohner von Clichy-sous-Bois, der das Politmagazin jüngst geködert hat, ist seit 2005 als sogenannter „fixeur“ tätig, also jemand, der den Kontakt zwischen den Medien und den offenbar allesamt als gefährlich geltenden Bewohnern der Vorstädte herstellt. Abdel, so sein Name, gab sich in einem Telefoninterview mit einem Le Point-Reporter als junge polygame Frau aus, in dem er ganz einfach seine Stimme verstellte. Afrikanischer Akzent inklusive.
Ziel der Übung? Der junge Bewohner der Seine-Saint-Denis wollte aufzeigen, wie die vielzitierten „Banlieues“ ständig für Klischees aller Art herhalten müssen, so wie z.B. Drogenhandel, Gruppenvergewaltigungen (die sogenannten „Tournantes“), brennende Autos und Mistkübel, Diebstähle, radikale Muslime und eben Polygamie. Alle Übel der französischen Gesellschaft würden den Vorstädten aufgebürdet.
Das gelungene Polygamie-Szenario sollte die triste Realität dieser Stigmatisierung aufzeigen. Viele Journalisten ließen sich durch den stetig aufrechterhaltenen schlechten Ruf der „Banlieues“ verblenden, propagierten ihn und machten damit Schlagzeilen, also Geschäfte. In einem Video auf dem Online-Magazin „Rue 89“ geht Abdel noch weiter und meint:
Die Journalisten suchen erst gar nicht die Infos. Sie haben sie schon! Ich habe diesem Reporter ganz einfach gegeben, was er erwartete.
Die Unruhen im Oktober und November 2005 will Abdel endlich als soziale Revolte anerkannt wissen. Die französischen Medien sprachen damals von „Emeutes“ (Aufruhr, Krawall). Zudem erzählt Abdel, dass manche Reporter vor 5 Jahren sogar dafür bezahlt hätten, damit ein Auto im kameragerechten Winkel abgefackelt würde.
Seinen Job als „Fixeur“ für die Medien in der Vorstadt will er nach wie vor ausüben. Gesetzt den Fall freilich, dass ihn jemand nach dem ganzen medialen Rambazamba, den sein Polygamieszenario in Frankreich ausgelöst hat, noch engagieren will. Der Job für Le Point hatte ihm jedenfalls 200 Euro eingebracht.
Der Einsatz von „Fixeurs“ wird von den französischen Medien normalerweise in Kriegsgebieten angewendet. Was bedeutet, dass manche Viertel der französischen Vorstädte von den Medien als Kriegsgebiet aufgefasst werden? Für einen Einsatz der Polizeieliteeinheit CRS in Montreuil (Seine-Saint-Denis) gegen demonstrierenden Gymnasiasten Mitte Oktober hatten die Beamten kugelsichere Westen angelegt: „Als ob sie einen Einsatz in Bagdad hätten“, wie ein Schüler anmerkte. Demonstriert wurde gegen die Rentenreform (siehe Sozialer Aufruhr in Frankreich). Die Polizei hatte gegen die Schüler die Flashball-Pistole eingesetzt, die einem Gymnasiasten vielleicht ein Auge gekostet hat.
Schon wieder eine „urbane Guerilla“?
Die gewalttätigen Ereignisse im Zuge der Proteste gegen die Rentenreform der letzten Wochen, vor allem in der Pariser Vorstadt Nanterre und Lyon, haben wieder einmal die internationale mediale Aufmerksamkeit erregt. Der Begriff „urbane Guerilla“ ward schnell wieder aus der Schublade anno 2005 hervorgeholt. Dem Präfekten, der das Wort in der französischen Öffentlichkeit wieder lanciert hat, war es wohl vor allem um die mediale Aufmerksamkeit getan.
Denn die Schüler, sprich logischerweise junge Menschen, sprich gefährliche Menschen, hatten sich den Protesten gegen die Rentenreform angeschlossen. Brennende Autos, eingeschlagene Vitrinen und das gewaltsame Vorgehen der jungen Menschen gegen die Polizeigewalt erinnerten fatal an die Ereignisse von 2005, wie der Schülervertreter Quentin Delorme (UNL) vermerkt. Die Rentenreform ist nun erlassen. Die Proteste wurden vom Präsidenten und der Regierung geflissentlich überhört.
Die Schülervertreter beklagen, dass die Regierung die Jugend „verachte“, wollte man doch mit den Jugendorganisationen nicht einmal diskutieren. Für die jungen Menschen in den „sensiblen“ Vorstädten, in gutem Amtsfranzösisch Z.U.P. (Zones urbaines sensibles) genannt, sei seit 2005 laut der Gymnastenvertretung UNL kaum etwas geschehen. Die eindrucksvollen Bilder der Vorstadtunruhen werden wohl nicht mehr so schnell aus dem kollektiven französischen Unterbewusstsein verschwinden. Sobald Demonstrationen etwas rüder verlaufen, also Autos und Abfallkübel brennen und Schaufenster eingeschlagen werden, wird in Frankreich und anderswo sofort an die 3 Wochen währenden „sozialen Unruhen“ von vor 5 Jahren gedacht. Ein französisches Trauma, diese jungen, aufgebrachten Vorstadtbewohner?
Was ist seitdem geschehen?
In Clichy-sous-Bois jedenfalls ist derzeit eine urbane Renovierung im Gange, die allerdings schon 2004 beschlossen worden war, wie der sozialistische Bürgermeister Claude Dilain anmerkt. Man kann also daraus leider keine politische Reaktion auf die Vorstadtunruhen ablesen. 1 500 desolate Wohnungen wurden zerstört, 1 600 neu gebaut. Und der Bürgermeister hat endlich sein lange erwartetes Kommissariat bekommen. Kaum zu glauben, aber leider wahr: Während der weltweit berühmten Unruhen, hatte Clichy kein Kommissariart!
Ein brandneues Nest für die Sicherheitskräfte also und neue Wohnungen, die es den Mietern erlauben sollen, sich nicht mehr zu schämen, wenn sie ihre Adresse auf einem Lebenslauf angeben. Denn bislang ist es nicht wirklich empfehlenswert für die Jobsuche Clichy und die Seine-Saint-Denis im Allgemeinen als Wohnort anzugeben. Territoriale Diskriminierung kann man das wohl nennen. Ob die neuen Wohnungen an der Wahrnehmung und Behandlung der Vorstädte durch den Rest der Nation etwas ändern werden können, sei dahingestellt.
Die Bewohner leiden nach wie vor, wenn nicht noch mehr, wie die Zeitung Libération anmerkt, an einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit. Die Anzahl der Arbeitslosen ist doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Unsicherheit und das Gefühl eines sozialen Abstiegs, wenn man im 93 oder 9/3 (Neuf Trois gesprochen), Kennzeichen der Seine-Saint-Denis, wohnt, machen den Einwohnern nach wie vor zu schaffen. Seit 2005 haben diese Unterschiede in Bezug auf den Rest Frankreichs in Sachen Einkommen und Armut, Arbeitslosigkeit und dem Zugang zu Gesundheits- und Erziehungseinrichtungen nicht abgenommen. In den sensiblen urbanen Zonen erreicht die Arbeitslosenquote bis zu 30%! Keine Aussicht auf Besserung also.
Und das obwohl 2007 ein hoffnungsvoller Präsidentschaftskandidat namens Sarkozy, großspurig wie üblich, einen „Marshallplan“ für die Vorstädte versprochen hatte, um diese „Territorien, die sich selbst überlassen wurden“ wieder in die Nation zu integrieren. 2004 hatte der selbe Sarkozy, damals noch Innenminister, die schlagkräftige Bezeichnung der „zones de non-droits“ (rechtlose Zonen) lanciert.
20 Viertel oder Städte hatte der damalige Innenminister als solche ausgemacht. Diese Unrechtsgebiete werden wie jeder in Frankreich und anderswo mittlerweile hinlänglich weiß, von einem jungen Gesindel, der Racaille, bewohnt und sollten am besten mit dem Kärcher-Hochdruckreiniger gesäubert werden. Vielleicht kann sich ja der französische Präsident in Sachen Reinigungsarbeiten etwas von der deutschen Polizei abschauen (siehe Mit Hochdruck gegen Ungehorsam). Diese nicht gerade diplomatischen Aussagen Sarkozys sollen einer der wesentlichen Auslöser der „sozialen Revolte“ der Banlieues 2005 gewesen sein. Mehr als ein Drittel der als Unrechtsgebiete designierten Viertel befinden sich in der Pariser Umgebung.
Wir sind doch hier nicht in einem Zoo!
Das Fremdenverkehrsamt der östlich von Paris gelegenen „Seine-Saint-Denis“ versucht seit 2006 mit urbanen Spaziergängen Besuchern zu zeigen, dass die Pariser Banlieues zum Leidwesen mancher Journalisten, übereifriger Flash-Ball-Cowboys und Politikern ihrem üblen Ruf nicht gerecht werden. Die Bewohner befänden sich eben „nicht in einem Zoo namens „zone de non-droits“, wie Hélène Sallet-Lavorel, Verantwortliche der Entwicklung des Tourismus der Seine-Saint-Denis im Gespräch mit Telepolis erklärt.
Wie kann man sich denn Tourismus in einem Banlieue vorstellen?
Hélène Sallet-Lavorel: Seit letzten August haben wir im Rahmen unseres Programms „Douce Banlieue“ (zauberhafte Vorstadt) urbane Spaziergänge mit professionellen Fremdenführern, aber auch den Bewohner selbst initiiert. Ich hatte zu Beginn allerdings einige Schwierigkeiten die Bewohner davon zu überzeugen, denn viele meinten, dass es in ihrer Lebensumwelt nichts Sehenswertes gebe!
Mittlerweile zeigen 6 Bewohner den Touristen die Sehenswürdigkeiten ihres Viertels. Bald sollen sich noch drei dazugesellen. Sie stellen sich ihre Touren selbst zurecht und zeigen den Besuchen, was ihnen persönlich gefällt.: So z.B. landschaftliche Schönheiten, ihr Lieblingscafé, stellen ihnen Bekanntschaften oder Kunsthandwerker vor. Sie geben den Touristen eben einen Einblick in ihr Leben in der Vorstadt.. .Manche Bewohner meinen sogar, dass sie im Zuge der Zusammenstellung ihrer Touren selbst einiges neu entdeckt hätten. Jedenfalls erklärten sie mir alle, dass ihre gewohnte Umwelt plötzlich nicht mehr so banal war und sie sogar mit Stolz erfüllte.
Warum laborieren die Banlieues ihrer Meinung nach an einem derart schlechten Ruf?
Hélène Sallet-Lavorel: Alles was man in der Stadt nicht haben will, was nicht nobel ist, wird in die Vorstädte abgeschoben: Mülldeponien, Friedhöfe, nicht gelungene Integration von Migranten, die Industriemisere, Arbeitslosigkeit und Armut werden in die Vorstädte verdrängt und versteckt. Alles was man eben nicht sehen will. Schon gar nicht in einer weltberühmten Stadt wie Paris.
Glauben Sie, dass der schlechte Ruf der Banlieues durch diese Art von „partizipativen“ Tourismus, wie Sie es nennen, verbessert werden kann?
Hélène Sallet-Lavorel: Es reicht natürlich bei weitem nicht aus, aber es kann ein wenig dazu beitragen. Es ändert vor allem die Wahrnehmung der Einwohner selbst, die am Programm teilgenommen haben, denn sie beginnen Stolz für ihren Wohnort zu empfinden. Aber wir sind freilich keine Erzieher! Wir versuchen aus diesen Schwarz-Weiß-Schemata in der Wahrnehmung der Vorstädte auszubrechen. Eine Schweizer Touristin z.B. erzählte mir, dass sie, als sie in ihrem Pariser Hotel davon sprach, sie würde eine unserer Touren nach Montreuil unternehmen, entsetzte Reaktionen auslöste: Sind Sie verrückt? Nach Montreuil? Das ist doch gefährlich! Die Tour hat die Dame entzückt.
Vor allem der persönliche Empfang durch die Bewohner hat ihr gefallen. Sie konnte mit ihnen über ihre Lebensbedingungen diskutieren, wie Einkommen, Mietkosten usw. Und stellte dabei fest, dass das Leben in der Seine-Saint-Denis natürlich bei weitem nicht nur aus brennenden Autos und einer aufmüpfigen Jugend besteht. Die Bewohner haben langsam aber sicher genug davon, immer mit solcherlei Vorkommnissen gleichgesetzt zu werden. Wir leben gerne hier! Wir haben es schön hier. Auch wenn manches hart und ungerecht ist. Es ist unser zuhause, wir hängen daran!
Bei der Vorbereitung dieses Artikels rief mich das Fremdenverkehrsamt der Seine-Saint-Denis mehrmals an. Aus Sorge wahrscheinlich, dass da schon wieder ein Journalist ihr Departement negativ darstellen würde. Oder wie der Direktor von „Libération“, Laurent Joffrin, treffend formuliert:
Das, woran die Vorstädte kranken, ist vor allem die Welt, die sie umgibt.
Und das gelte vor allem die Wahrnehmung der Vororte. Es sei höchste Zeit, dass die Grundrechte der Republik in den Banlieues Einzug hielten.