Gründerzeit für Ratingagenturen

Die Bertelsmann-Stiftung und die Unternehmensberatung Roland Berger wollen eine neue Bewertung des Wirtschafts- und Finanzsystems entwickeln. Sie sind nicht die einzigen Anbieter

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Es klingt ein wenig so, als würde der vorerst gescheiterte KTG der Universität Bayreuth anbieten, eine neue Promotionsordnung zu konzipieren. Oder als wolle Christian Wulff die juristische Fachwelt mit einem aktualisierten Grundgesetz-Kommentar zum Thema Pressefreiheit überrumpeln. Doch die Bertelsmann-Stiftung meint es ernst: Sie will schon in den nächsten Monaten eine neue Ratingagentur als Non-Profit-Institution entwickeln. Schließlich fehle es den anderen an Legitimität und Transparenz, meinte neulich der Vorstandvorsitzende Gunter Thielen.

Die Eurokrise hat gezeigt, dass die bestehenden Ratingagenturen Akzeptanzdefizite aufweisen. Den Agenturen mangelt es an Legitimität und Transparenz, und ihre Kriterien zur Bewertung von Ländern sind zu eng gefasst.

Gunter Thielen

Akzeptanzdefizite, mangelnde Legitimität und Transparenz - dieser Befund rührt offenbar an die Kernkompetenzen der Bertelsmann-Stiftung, die sich deshalb berufen fühlt, den heftig umstrittenen Marktführern Standard & Poor's (die am Freitag noch neun europäische Länder "herunterstuften"), Moody's und Fitch einen Konkurrenten an die Seite zu stellen, der zwar kein europäisches Gegenmodell darstellen, aber als "zusätzliches Fieberthermometer" fungieren soll.

Politisches Management und Reformprozesse

Mit Hilfe "internationaler Experten" will die Stiftung, deren Mutterkonzern schon nach der Wende ein ähnliches Projekt plante, in Zukunft allerdings nicht nur die Wirtschafts- und Finanzkraft von Staaten bewerten, sondern darüber hinaus analysieren, wie es um "die politischen Gestaltungsleistungen mit Blick auf Reformbereitschaft und Umsetzungsfähigkeit von Regierungen" bestellt ist.

Ganz entscheidend ist es, dass die angewandten Kriterien möglichst umfassend sind und nicht nur die finanz- und wirtschaftspolitischen Realitäten abbilden, sondern auch das politische Management eines Landes und seine Durchsetzungsfähigkeit bei Reformprozessen.

Gunter Thielen

Das ist weniger harmlos, als es klingt, denn die Stiftung verfügt seit Jahren über ein Instrumentarium, das weltweit nach der "Zielvorstellung einer konsolidierten marktwirtschaftlichen Demokratie" fahndet. Der Transformation Index BTI basiert auf der Erkenntnis, dass das vom Westen geprägte Modell eines "leistungsfähigen, marktwirtschaftlich orientierten und demokratischen Rechtsstaates (…) noch längst nicht zum globalen Standard" geworden ist. Schade eigentlich.

Dabei müssten sogenannte und selbsternannte Demokratien doch ein ureigenes Interesse daran haben, "Wandlungsprozesse hin zu Demokratie und Marktwirtschaft aktiv zu begleiten und zu unterstützen, um einen Beitrag zur internationalen Stabilität zu leisten".

Transformationsverweigerer

Doch immer wieder sind die gutgemeinten Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Schon 2006 identifizierte der BTI einen "harten Kern von Transformationsverweigerern". Nicht nur Nordkorea, sondern auch zahlreiche arabische Staaten und natürlich Kuba hätten bislang jeglicher Liberalisierungsdynamik widerstanden, klagte Werner Weidenfeld, der seinerzeit praktischerweise nicht nur Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, sondern auch Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung war, das die wissenschaftliche Durchführung der Studie verantwortete.

Zwei Jahre später hatte der "einflussreichste Politikberater Deutschlands" ein kleines Imageproblem, verlor seinen Vorstandsposten, blieb aber selbstredend Institutsdirektor.

Auch die Transformationsverweigerer trieben weiter ihr Unwesen. Im Blickpunkt diesmal: Venezuela, das sich im Management-Index mit Rang 119 (von 125) bescheiden musste. Präsident Hugo Chávez regiere zunehmend autoritär, seine Regierung sei "dezidiert nicht-marktwirtschaftlich" und stelle private Eigentumsrechte in Frage.

Außerdem herrsche auf dem Weg zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" eine "scharfe, anti-kapitalistische und anti-imperiale Rhetorik" vor, hieß es im deutschsprachigen Kurzgutachten, das insgesamt noch etwas freundlicher formuliert war als die englische Langfassung.

Diese Entwicklungen beeinträchtigen den Marktwettbewerb und sind ausländischen Investitionen abträglich. (...). Venezuela gilt aufgrund seines populistischen und unberechenbaren Präsidenten international als wenig vertrauenswürdiger Partner, (...).

BTI 2008

Wiederum zwei Jahre später wurden allemal interessante "Aufsteiger im Management-Index" gefeiert. Angola war mit von der Partie, das kleine Nepal und auch der Irak.

Doch auch Autokratien wie Togo, die Vereinigten Arabischen Emirate und Côte d’Ivoire konnten seit 2006 ihre Werte relativ deutlich verbessern.

BIT 2010

Immerhin hatten die Vorreiter des Neoliberalismus - vielleicht sogar von Hugo Chávez? - in punkto Rhetorik einiges dazugelernt. Wer will, dass der Kapitalismus funktioniert, darf die Sozialpolitik einfach nicht mehr außen vor lassen.

Eine auf mittlere bis längere Sicht stabile Wirtschaftsentwicklung erfordert es, auf solider institutioneller Basis Armut zu bekämpfen, Chancengleichheit herzustellen und soziale Härten auszugleichen.

BTI 2010

Sonst laufen die Geschäfte nicht. Mit den Sustainable Governance Indicators bewertet die Stiftung in einer gesonderten Untersuchungsreihe auch noch den "Reformbedarf und die Reformfähigkeit" von 31 OECD-Staaten.

Die neue Ratingagentur, die im Frühjahr 2012 auf einer Konferenz der Bertelsmann Stiftung in Washington vorgestellt werden soll, dürfte also nicht nur über die korrekte politische Grundausrichtung, sondern auch über eine annähernd beispiellose Datensammlung verfügen, die nur auf geeignete Interpreten wartet.

Neue Geschäftsmodelle und nachhaltige Lösungen

Bertelsmann ist allerdings nicht der einzige Bewerber, seit sich Bundeskanzlerin Angela Merkel im vergangenen Sommer höchstpersönlich für die Gründung einer europäischen Ratingagentur stark gemacht hat. Sogar ehemalige Mitarbeiter der Branchenriesen suchen mittlerweile nach der entscheidenden Marktlücke.

Auch Markus Krall wirbt für ein "Ende der monopolistischen Struktur und ein neues Geschäftsmodell". Der Senior Partner der Unternehmensberatung Roland Berger könnte sich vorstellen, das Projekt noch in diesem Jahr zu starten, sofern die Initiatoren auf "politische und regulatorische Unterstützung", sprich: die Rückendeckung von Regierungen und Finanzindustrie hoffen können. Investoren sollen für eine Erstausstattung von rund 300 Millionen sorgen.

Kleine Fische gibt es schließlich schon en masse - nach Branchenschätzungen gut 150 -, und bis dato konnte sich kein einziger entscheidend gegen Poor's, Moody's oder Fitch durchsetzen. Realistisch ist diese Perspektive nach Kralls Einschätzung allerdings nur, wenn sich die neue Agentur grundsätzlich von der Praxis der schon bestehenden Konkurrenz unterscheidet.

Ihr Einfluss muss groß genug sein, um die Regeln in diesem Markt verändern zu können, indem sie ein neues Governance- und Bezahlmodell als Alternative zum systemisch dysfunktionalen Status Quo bietet. Die Agentur sollte als Stiftung errichtet und mit maximaler Unabhängigkeit ausgestattet werden, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Sie sollte ein die Investoren in die Pflicht nehmendes Bezahlsystem einführen und mit maximaler Transparenz dem kontrollierenden Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt sein. Nur so entstehen die richtigen Anreize für maximale Qualität von Ratings.

Markus Krall

Die Deutsche Umweltstiftung plädiert dagegen für eine Ratingagentur, die gemeinnützig arbeitet und sich an Kriterien der Nachhaltigkeit orientiert. Das ENRA-Projekt "dürfte sich grundsätzlich von anderen Überlegungen differenzieren, wie z. B. von Roland Berger oder der Bertelsmann-Stiftung", glaubt Christian Neugebauer, der ENRA-Koordinator für die Deutsche Umweltstiftung.

Nach Angaben dieser Stiftung wird die Initiative von "rund 450 führenden Persönlichkeiten der Nachhaltigkeit aus Politik, Wirtschaft, kirchlichen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kreisen" sowie von der EthikBank, der Triodos Bank und der GLS Bank unterstützt. Sie alle werben nicht für ein neues Geschäftsmodell, sondern für eine grundlegende Kurskorrektur, die ökologische und soziale Belange mindestens gleichberechtigt neben die ökonomischen Interessen stellt.

Die wirtschaftlichen und politischen Krisen der westlichen Welt verweisen uns auf einen historischen Irrtum. Jahrzehntelang haben wir geglaubt, dass eine Demokratie nur funktionieren kann, wenn sich der Wohlstand ständig mehrt. Die Bewertung von Staaten und Unternehmen darf bei der Ökonomie anfangen, aber nicht aufhören. Deshalb engagiert sich die EthikBank gemeinsam mit der Deutschen Umweltstiftung für die Gründung einer transparenten und nachhaltigen Ratingagentur für Europa, die soziale und ökologische Kriterien einbezieht.

Sylke Schröder, Vorstandsmitglied der EthikBank

Der Mathematiker Dorian Credé, Gründer der Online-Ratingagentur Wikirating, sieht auf die etablierte Branche schwere Zeiten zukommen. "Für mich ist nicht mehr die Frage, ob die Macht der Ratingagenturen schwinden wird, sondern wie schnell", prophezeite er in einem Interview und lud den Rest der Welt zu einem allemal interessanten Bewertungs- und Meinungsaustausch ein. Wikirating speaks english - wie die großen Brüder aus Übersee. Die Methoden und Ziele scheinen allerdings weit voneinander abzuweichen.

Our mission is to give everyone a chance to contribute to this project, and our vision is that a community of worldwide individuals and experts might have much more influence than public attempts to regulate the rating industry. (...) Our short term goal is to reach a community of active users to the Wikirating project. Our middle and long term goal is to make from Wikirating a serious alternative to the current private rating agencies.

Wikirating: The Vision

Ob die Welt ab sofort nur noch mit dem Wikipedia-Prinzip erklärt werden kann, wird sich möglicherweise auch noch im Laufe dieses Jahres herausstellen.