Das Gehirn ist eine ontologische Maschine

Thomas Metzinger über Philosophie und Gehirnforschung

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Der Philosoph Thomas Metzinger ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Mainz und versucht, zwischen den Sphären der Geisteswissenschaft und der Gehirnforschung zu vermitteln. In seinem Buch "Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik" greift er hierfür auf das Theorem des "Selbstmodells" zurück, das - mit den branchenüblichen Simplifizierungen bedacht - für einen beachtlichen Wirbel in den Medien gesorgt hat und Gegenstand hitziger Diskussionen geworden ist, die bisweilen der Sache selbst nicht gerecht werden.

Thomas Metzinger

Herr Metzinger, übertragen Sie mit ihrer Theorie Ergebnisse aus der Hirnforschung ganz einfach auf das Feld der Philosophie und verabsolutieren sie damit?

Thomas Metzinger: Das wäre natürlich ein schwerer Fehler und ist für manche auch eine Versuchung. Mir geht es aber eigentlich um etwas wesentlich Einfacheres und Bescheideneres, nämlich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der Philosophie des Geistes und der Gehirnforschung zu organisieren. Dazu muss man neue begriffliche Werkzeuge entwickeln, die beide Disziplinen gleichzeitig voranbringen.

Man muss heutzutage als Philosoph empirische Auflagen für die Theoriebildung akzeptieren. Das heißt: Wenn man sich wirklich für die Probleme der klassischen Philosophie wie Intentionalität, Willensfreiheit oder Bewusstsein interessiert, sollte man auch empirisch informiert sein, weil vieles, was Philosophen in der Vergangenheit geschrieben haben, angesichts neuer empirischer Befunde nicht mehr haltbar ist. Auf der anderen Seite denke ich, dass für Neurowissenschaftler, wenn sie allgemeinere Aussagen über Geist, Bewusstsein oder das Selbst machen wollen, eine kritische philosophische Begleitung wichtig ist. Daten müssen begrifflich interpretiert und irgendwann auch in einen allgemeineren theoretischen Rahmen eingebettet werden.

Für mich ist Philosophie Begriffswissenschaft: Es geht darum, neue begriffliche Instrumente zu entwickeln, um alte philosophische Probleme vielleicht noch genauer zu formulieren, um sie auszudifferenzieren und einer Lösung näher bringen zu können. In der Hirnforschung, der Kognitionswissenschaft oder der Künstliche-Intelligenz-Forschung wurden in den letzten Jahren neue begriffliche Instrumente entwickelt, beispielsweise die Theorie neuronaler Netze (also der "konnektionistischen Repräsentation"), die für Philosophen durchaus interessant sein könnten. So etwas kennen die meisten Philosophen immer noch nicht einmal im Ansatz, obwohl es den Kollegen auf der empirischen Seite höchstens noch ein müdes Gähnen entlockt - auf der anderen haben Seite haben wir seit Jahrhunderten Theorien der mentalen Repräsentation entwickelt und die Lektionen aus diesen Diskussionen kennt wiederum kaum ein Neurowissenschaftler.

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Auch alle Ergebnisse der aktuellen Gehirnforschung sind natürlich immer nur vorläufig

Wenn man jetzt genauere empirische Einsichten darüber, wie das Gehirn tatsächlich die Wirklichkeit repräsentiert und neue mathematische Modelle - zum Beispiel für die tatsächliche Entstehung von Willensentscheidungen, Handlungskontrolle oder die Einheit des Bewusstseins - auf die klassischen philosophischen Fragestellungen mit anwenden kann oder sie zumindest als Modellphänomene für abstrakte Theorien einsetzen würde, dann wäre das doch für Philosophen sehr interessant. Und tatsächlich gibt es mittlerweile in Deutschland, England, Australien und Amerika eine ganze Bewegung solcher empirisch bestens informierten jungen Philosophinnen und Philosophen, für die der Ausdruck "Lehnstuhlphilosophie" ein Schimpfwort geworden ist.

Nur ist es eben auch so, dass ein sehr großer Teil aller empirischen Theorien, die die Menschheit je gehabt hat, heute falsch ist und dass auch alle Ergebnisse der aktuellen Gehirnforschung natürlich immer nur vorläufig sind. Deshalb ist es immer wichtig, nicht in den "Gestern dachte man, dass x, aber heute wissen wir ja alle, dass y!"-Fehlschluss zu verfallen. Das Verabsolutieren empirischer Daten ist erstens zutiefst unphilosophisch, zweitens geht es auch gar nicht, weil Theorie und Metatheorie nicht dasselbe sind, und drittens sind sowieso auch alle empirischen Ergebnisse prinzipiell immer nur vorläufig. "Verabsolutieren" ist sehr oft etwas für Leute, die nur einen Religionsersatz oder ein ideologisches Wahnsystem suchen, an das sie glauben können - und diese Einsicht gilt dann natürlich auch für dogmatische Anti-Naturalisten, die Philosophie bloß aus einem bestimmten weltanschaulichen Ressentiment heraus betreiben.

Man kann aber mit meinem interdisziplinären Ansatz schon einmal das eliminieren, was auf jeden Fall empirisch falsch oder begrifflicher Unsinn ist und das stellt eben auch eine Form von Erkenntnisfortschritt dar, die man nicht unterschätzen sollte. Man könnte zum Beispiel leicht dafür argumentieren, dass man - wenn man die wissenschaftlichen Daten zum Klimawandel, zur menschlichen Psychologie und die verfügbare Information über die aktuelle politische Landschaft in Betracht zieht - seriöserweise schon jetzt nicht mehr davon ausgehen darf, dass die Menschheit das Zwei-Grad-Ziel noch schafft. Das wäre dann ein Erkenntnisfortschritt und ein Beispiel für etwas, von dem wir schon jetzt wissen, dass die offiziell angestrebte Lösung eine Illusion ist.

Wenn das aber so ist, sind alle Politiker und Journalisten, die diesen Eindruck noch öffentlich erwecken, unseriös oder grob irrational. Es würde bedeuten, dass die meisten von uns schon jetzt eine Art kollektives Wahnsystem aufgebaut haben, welches im Kern besagt: "Es ist zwar sehr spät, es könnte aber doch noch möglich sein, dass der Klimawandel einen gutartigen, zumindest teilweise kontrollierbaren Verlauf nimmt!" Wenn man diese Denkmöglichkeit eliminieren könnte, dann wäre das ein wichtiger Erkenntnisfortschritt und der surreale Charakter unseres Verhaltens träte deutlicher hervor. Mit manchen der "offiziell angestrebten Lösungen" in unsere Theorie des menschlichen Geistes könnte es vielleicht ähnlich sein. Sie sehen schon, mit der philosophischen Begriffspolizei kann es schnell ungemütlich werden.

Trotzdem: Ich glaube, dass viele Dinge, die philosophisch relevante Eigenschaften des Gehirns betreffen und die manche Hirnforscher heute behaupten, in 50 Jahren wahrscheinlich so nicht mehr haltbar sind, deswegen muss man als Philosoph damit sehr vorsichtig sein. Außerdem kann es unter Umständen bei ganz klassischen Fragen - sagen wir, ob auch körperlose Wesen wie Engel geistige Eigenschaften besitzen oder ob auch Maschinen Bewusstsein haben könnten - ja vielleicht gar nicht helfen, neurobiologische Daten zu erfassen. Wenn man etwa auf einem abstrakteren Niveau wissen will, was Geist oder Bewusstsein bei allen Wesen mit Geist und Bewusstsein ist (also eine universale Theorie des Geistes sucht), nützt es einem eventuell wenig, herauszufinden, wie diese Eigenschaften in einer bestimmten Klasse biologischer Systeme zufällig einmal realisiert waren. Umgekehrt gibt es natürlich auch das ganz reale Risiko, dass sich Teile der Geisteswissenschaften endgültig ins Abseits stellen, weil niemand mehr erkennen kann, was denn jetzt genau ihr Beitrag zu diesem großen Menschheitstraum eine Theorie des Geistes eigentlich ist.

Wir können etwas Abstraktes als absolut konkret erleben

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das "Ich" eine Art notwendiger Selbstbetrug, der in verschiedenen Bereichen des Gehirns durch elektrochemische Vorgänge erzeugt wird, ein illusionäres Bild, dass das Gehirn von sich selbst gibt, dessen neurophysiologischen Grundlagen aber gar nicht existieren. - Handelt es sich bei Ihrer Theorie also um eine Art umgedrehten Solipsismus?

Thomas Metzinger: Begrifflich wäre das alles so nicht richtig, lassen Sie uns ganz vorsichtig Schritt für Schritt beginnen. Solipsismus wäre die philosophische These, dass, ontologisch gesehen, nur ich selbst - "solus ipse"" - existiere. Diese These vertrete ich natürlich nicht. Ich glaube sehr wohl, dass es eine bewusstseinsunabhängige Außenwelt, wie auch andere Körper und Personen mit einer eigenen phänomenalen Innenperspektive gibt. So, wie Sie das soeben gesagt haben, meine ich das also nicht.

Es existiert aber eine komplexe philosophische Theorie, die sich die "Selbstmodelltheorie der Subjektivität" nennt, über die ein siebenhundertseitiges englisches Buch geschrieben wurde und es gibt auch eine populärwissenschaftliche Darstellung davon in meinem Buch "Der Ego-Tunnel". Damit meine ich jedoch nicht, das Ich sei eine Illusion - um Wahrheit und Falschheit geht es zunächst noch gar nicht. Worum es geht, ist die Tiefenstruktur des bewussten Erlebens, die dann später die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis konstituiert. Die Frage ist: Wie entsteht überhaupt ein Subjekt, dass dann später vielleicht auch wahre oder sogar falsche Meinungen über sich selbst haben kann?

Die Grundidee ist einfach, bescheiden und auch ziemlich konservativ: Für philosophische Zwecke und insbesondere für die empirischen Ziele der Neuro- und Kognitionswissenschaften können wir auf die Annahme einer ontologischen Entität namens "das Selbst" komplett verzichten. Ich biete ganz einfach ein Folgekonzept an, das die Disziplinen übergreift und auf verschiedenen Beschreibungsebenen immer weiter angereichert, verfeinert und korrigiert werden kann, mit dem es möglich ist, testbare Vorhersagen zu formulieren. Und es hat sich ja bereits gezeigt, dass dieser Nachfolgebegriff für "das Selbst" bestens funktioniert .

Ich sage, es gibt ein phänomenales Selbstmodell im Gehirn ("PSM" ist der Fachausdruck), das wir in großen Teilen nicht als Modell erleben können (das nennen Philosophen dann eine "transparente" Repräsentation). Mir geht es seit einem Vierteljahrhundert ganz einfach darum, auf begrifflicher Ebene die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür zu isolieren, dass in einem informationsverarbeitenden System ein Ich-Gefühl entsteht. Insbesondere interessiert mich in unserem eigenen Spezialfall, was die einfachste Form des nicht-begrifflichen Selbstbewusstseins ist. Das sind natürlich schwierige theoretische und empirische Fragen, die man nicht so einfach mal eben in den Medien ganz nebenbei in einem Interview auf den Punkt bringen kann.

Ich glaube zum Beispiel, dass es im Wachbewusstsein und im Traum, aber nicht im traumlosen Tiefschlaf in unserem Gehirn ein sich ständig veränderndes Modell des Selbst, also der Person als Ganze gibt und dass wir sehr große Teile dieses Modells nicht als Modell erleben. Zum Beispiel können wir das Modell des eigenen Körpers, welches das Gehirn erzeugt, nicht als solches erleben. Deshalb hat man das Erlebnis, das Selbst wäre der eigene Körper: Man wäre dort drin, der Organismus klebt sozusagen an seiner eigenen inneren Vorstellung von sich selbst. Es gibt also eine "Phänomenologie der Identifikation", die philosophisch relevant und empirisch behandelbar ist. Zum Beispiel identifizieren wir uns erlebnismäßig mit der permanenten Innenwahrnehmung des Körpers, mit Bauchgefühlen, Gleichgewichtssinn, Raum- und Bewegungsempfindungen, aber auch mit dem fiktiven Punkt hinter den Augen, der den geometrischen Ursprung der visuellen Perspektive bildet. Tatsächlich sind wir aber niemals direkt in Kontakt mit dem Körper, sondern was wir erleben, ist der Inhalt einer neuronalen Repräsentation im Gehirn, das Ergebnis einen komplexen Berechnungsvorgangs.

Wir erleben etwas Abstraktes als absolut konkret. Manchmal jedoch, zum Beispiel beim bewussten, logischen Denken, erleben wir stattdessen, dass wir mit inneren Bildern von sprachlichen Handlungen oder geistigen Darstellungen der Welt operieren, dass es sich also um eine "mentale Repräsentation" handelt, die wahr oder falsch sein kann - aber in den meisten Teilen unseres Realitätsmodells und bewussten Lebens erleben wir uns und die Welt ganz naiv-realistisch. Wir meinen dann vielleicht, wir wären in direkten, unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit.

Das Bewusstsein ist ein Interface und das Selbstmodell Teil einer biologischen Benutzeroberfläche

Das ist alles falsch, aber unser subjektives Wirklichkeitsmodell erzeugt dieses Erleben und wir waren damit auch in der Evolution und im Aufbau von komplexen Großgesellschaften inklusive Wissenschaft und Philosophie sehr erfolgreich. Das Bewusstsein ist ein Interface und das Selbstmodell Teil einer biologischen Benutzeroberfläche. "Subjektivität" und die "Erste-Person-Perspektive" kann man unter anderem auch als neuronales Datenformat verstehen, als eine hochspezifische innere Weise des Gegebenseins. Dennoch ist die Wirklichkeit nicht so, wie sie uns subjektiv erscheint - aber es gibt gute wissenschaftliche Theorien darüber und somit auch die Möglichkeit, die Wirklichkeit unabhängig vom subjektiven Erleben zu erkennen. Wir führen ja gerade dieses Interview und ich kann Bücher darüber schreiben.

Es gibt also mehr als nur eine Art, sich die Wirklichkeit anzueignen. Eine ist die des individuellen, personalen Bewusstseins, eine die subpersonale Ebene des Gehirns und eine andere liegt in den wissenschaftlichen Theorien über die beiden erstgenannten Zugangsweisen begründet, die falsifizierbar sind, auf rationalen Argumenten beruhen und auf deren Grundlage große Gruppen von Menschen zusammenarbeiten und forschen können. Natürlich ist der Mensch den Mechanismen des eigenen Bewusstseins nicht total ausgeliefert, weil wir diese im Gegensatz zu den meisten Tieren kritisch hinterfragen können. Das Fantastische an unserem neuronal realisierten Realitätsmodell ist, dass der Unterschied zwischen Erscheinung und Wirklichkeit erstmals sehr deutlich innerhalb des Modells selbst aufgetaucht ist. Dadurch entwickeln Systeme die Fähigkeit, sich zu distanzieren, und wenn diese Fähigkeit selbst dann noch einmal ins Selbstmodell eingebettet wird und die Systeme deutlich die Tatsache repräsentieren können, dass das nicht nur bei ihnen selbst, sondern auch bei ihren Artgenossen ebenfalls der Fall ist, dann entsteht etwas ganz Neues.

Die Emergenztheorie scheint auf den ersten Blick attraktiv zu sein

Ist es nicht auch möglich, dass das Ich aus dem komplexen, vielleicht sogar bislang noch nicht adäquat erforschten emergenten Zusammenspiel dieser neurophysiologischen Mechanismen resultiert und dass die Möglichkeit des illusionären Ichs eben ein Modus des Bewusstseins ist, das eben nicht in den einzelnen neurophysiologischen Vorgängen aufgeht, sondern im Vergleich zur Tierwelt neue Qualitäten aufweist und darüber hinaus wesentlich prozessual zu sehen ist?

Thomas Metzinger: "Prozessual" ist sicher richtig: Es gibt kein Ding, das "das" Selbst ist. Was wir früher "das" Selbst genannt haben, ist kein Ding, sondern ein Vorgang. "Dynamisch" und "Selbstorganisation" sind auch richtig. Mit der Beziehung zwischen geistigen und physikalischen Zuständen - dem Leib-Seele-Problem - habe ich mich sehr viel beschäftigt. Es gibt etwa neun konkurrierende Theorien zu Lösung des Leib-Seele-Problems, die können Sie alle im zweiten Teil meines dreibändigen Lehrbuchs Grundkurs Philosophie des Geistes nachlesen.

Das Problem bei der Emergenztheorie ist jetzt das Folgende: Wenn man den philosophisch interessanten Begriff von Emergenz nimmt, indem man sagt, dass in unserem Universum jeder Zeit unvorhersehbar neue emergente Qualitäten auftreten können und diese eine eigene kausale Kraft haben, die abwärts wirkt, dann ist das wissenschaftliche Weltbild kaputt. Die Welt wird letztlich unverstehbar. Das muss man ganz klar sehen.

Die Emergenztheorie scheint auf den ersten Blick attraktiv zu sein, für Viele vielleicht auch, weil sie zu einer Art Wiederverzauberung des physikalischen Universums führt: Zu jedem beliebigen Zeitpunkt können in ihm völlig neuartige Eigenschaften auftreten, die vorher absolut unvorhersagbar waren. Aus der mechanistischen Welt wird ein schöpferisches Universum. Bei näherem Hinsehen entsteht jedoch wieder die Frage nach der "abwärtsgerichteten Verursachung", denn damit unsere Überzeugungen, Einsichten und Wünsche - die Inhalte des Selbstmodells - tatsächlich unsere Körperbewegungen verursachen können, müssen auch in der Emergenztheorie irreduzible und abwärts gerichtete Kausalbeziehungen angenommen werden, die das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der physikalischen Welt verletzen.

Die allgemeine philosophische Intuition der Emergenztheorie besagt ja, dass man das Leib-Seele-Problem dadurch lösen kann, dass man einen Monismus auf die richtige Weise mit einem Eigenschaftsdualismus kombiniert: Es gibt nur eine Art von Dingen (nämlich physikalische), aber zwei Arten von Eigenschaften (nämlich geistige und physikalische). Man kann das auch als "Schichtenrealismus" bezeichnen. Das bedeutet, dass mentale Eigenschaften nicht nur genuin neue Phänomene auf einer eigenen Komplexitätsstufe sind, sondern auch, dass es sich bei ihnen um reale, weil kausal wirksame Phänomene handelt. Es gibt also echte, abwärts gerichtete Kausalität.

Der erste Baustein dieser Theorie ist der ontologische Physikalismus: Die Gesamtheit der konkreten Realität erschöpft sich in den von der Physik postulierten Elementarteilchen und in Aggregaten dieser Elementarteilchen. Der zweite Baustein die Emergenz - das "Hervortreten" von Makro-Eigenschaften: Ab einer gewissen Ebene struktureller Komplexität entstehen aus Mengen von Mikroeigenschaften ganz und gar neue, emergente Makro-Eigenschaften. Drittens sind diese Makro-Eigenschaften nicht reduktiv erklärbar, denn sie sind real und kausal wirksam: Die Eigenschaften des Ganzen wirken wieder auf Eigenschaften der Teile zurück ("abwärts gerichtete Kausalität"). Für viele von uns ist das intuitiv und emotional attraktiv, es fühlt sich irgendwie richtig an. Die sachliche Frage ist allerdings, ob das philosophisch gesehen wirklich die richtige ontologische Interpretation der psychophysischen Korrelationen ist, die wir empirisch vorfinden. Denn das ist ja das Leib-Seele-Problem: In der wissenschaftlichen Forschung finden wir viele und zuverlässige Korrelationen zwischen Geist und Gehirn. Was aber die innere Natur dieser engen Wechselbeziehung ist, haben wir noch nicht verstanden.

Das Gehirn ist eine ontologische Maschine

Entschuldigung, ich habe mit "Emergenz" nicht auf Transzendentes anspielen wollen, sondern eher den Umschlag von Quantität in Qualität gemeint.

Thomas Metzinger: Sicher ist das menschliche Gehirn ein phantastisches Beispiel dafür, wie aus sehr komplexen, dynamischen Vorgängen auf einmal überraschende neue Qualitäten wie eine Rot-Empfindung oder das Ich-Gefühl entstehen, die man vielleicht nicht erwartet hätte. Es ist auch richtig, dass die einzelnen H2O-Moleküle in einem Wasserglas nicht phänomenologisch "nass" sind und die einzelnen Atome in einem Farbtopf nicht "rot". Die Frage ist, ob man daraus ein echtes Problem für den Naturalismus konstruieren kann - ich glaube es nicht. Das Problem besteht viel eher darin, genau zu sagen, was das überhaupt heißen soll: "Umschlagen von Quantität in Qualität". Vielleicht sind es ja nur verschieden Beschreibungsebenen, oder unterschiedliche Formen des inneren und äußeren Wissens, die dann das erzeugen, was uns als etwas kategorisch Neues erscheint?

Das Spannende ist ja zum Beispiel auch, dass nicht nur Theorien ontologisch interpretiert werden können, sondern dass das Gehirn selbst eine ontologische Maschine ist. Es sagt dem bewussten Organismus, der es trägt: In der Welt gibt es Dinge, Eigenschaften und Relationen, Selbste und Agenten, es gibt drei räumliche Dimensionen und eine unidirektionale zeitliche Dimension. Wer hat Recht?

Wir haben Eigenschaften, die kein anderer Primat hat, wir bilden komplexe Gesellschaften und halten sie leidlich kohärent - durch Sprache, begriffliches Denken und Institutionen. Ganz klar sind hier in und durch uns neue funktionale Eigenschaften ausgebildet worden, aber das verschiebt das philosophische Problem nur: Was genau heißt "neu"? Ist das "Neue", das wir nun nicht nur im Gehirn des selbstbewussten Menschen, sondern auch in seiner Gesellschaft und komplexen Systemen ganz allgemein sehen, im Prinzip begrifflich zurückführbar auf die Wechselwirkung zwischen Teilen, oder geht das eben nicht? Wenn es im Prinzip nicht zurückführbar ist, wäre das natürlich eine sehr bedeutsame begriffliche Entdeckung.

Wissenschaftliche Theorien des Bewusstseins können das Selbstmodell der Menschen verändern

Nachdem wir über die biologischen Komponenten des Bewusstseins gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, welchen Einfluss kulturelle und sozialen Komponenten auf das Bewusstsein ausüben, und umgekehrt, welchen Einfluss die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung auf Kultur und Gesellschaft haben?

Thomas Metzinger: Wir verstehen im Moment, dass das Bewusstsein ein ganz besonderer Forschungsgegenstand ist, weil es fast immer an eine individuelle Erste-Person-Perspektive gebunden ist. Wir wissen nicht genau, was das heißt, aber die Inhalte des Bewusstseins werden natürlich auch von seiner kulturellen Einbettung bestimmt. Ontologisch ist es sicher so, dass dann, wenn alle Eigenschaften des Gehirns feststehen, auch alle Eigenschaften des bewussten Erlebens festgelegt sind. Die Inhalte der Gedanken sind etwas ganz Anderes, sie hängen natürlich vom sozialen Kontext, unserer Geschichte und kulturellen Einbettung ab - von der Sprachgemeinschaft, mit der wir sie öffentlich machen. Das bewusste Erleben dagegen ist genau das, was zwischen einer echten Wahrnehmung und einer Halluzination mit demselben Inhalt gleich ist. Darum geht es in der Bewusstseinsforschung. Wie wir die Welt erleben, wird lokal im Gehirn determiniert. Erleben ist nicht Wissen und auch nicht Denken.

Jetzt ist es so, dass wir Menschen ein bewusstes Selbstmodell haben und der Inhalt dieses Selbstmodells wirkt, weil es im Gehirn implementiert ist, funktional auf unseren Körper zurück. Bei psychosomatischen Krankheiten könnte es zum Beispiel der Fall sein, dass man auf der Ebene des bewussten Selbstmodells gekränkt wird und es zwar dort schafft, diese Kränkung zu vergessen, doch im unbewussten Selbstmodell bleibt diese Information repräsentiert und führt dazu, dass das Immunsystem geschwächt wird oder die Hormonlandschaft im Blut sich verändert. Solche psychosomatischen Wechselwirkungen kann man mit dem Selbstmodell perfekt erklären.

Nun die Frage: Wenn in unserer sozialen Umwelt, in unserer Kultur immer mehr Informationen darüber auftauchen, wie das Selbstmodell im Gehirn verankert ist, was seine biologische Geschichte war, verändern sich dadurch vielleicht nicht nur das Bild vom Menschen und die Annahmen, die wir über uns selbst machen, sondern auch unser Selbsterleben? Kann wissenschaftliche Selbsterkenntnis psychosomatisch krank machen? Oder gesünder? Wenn in meiner Kultur jeder glaubt, so etwas wie "Gedankenlesen" möglich ist oder dass es die Willensfreiheit nicht gibt - wie verändert dies das Selbstmodell in unseren Köpfen?

Eine falsche Theorie, die kulturell eingebettet worden ist, kann unser aller Selbstmodelle beeinflussen

Ich nehme an, dass wir uns, indem diese neuen wissenschaftlichen Informationen kulturell sehr gut zugänglich sind, tatsächlich schrittweise psychologisch verändern, möglicherweise auch unbewusst. Ich habe neulich von einer ganz normalen Hausfrau gehört, die ganz beiläufig behauptete, Willensfreiheit gäbe es gar nicht, das sei doch jetzt geklärt, weil sie das neulich beim Bügeln im Radio gehört hätte. Das heißt: Es ist noch längst nicht begrifflich geklärt, was Willensfreiheit überhaupt ist, im welchen Sinne wir diese empirisch besitzen oder nicht, aber in den Medien werden Sachen behauptet, die sich manche Leute einfach zu eigen machen und dadurch möglicherweise ihr Erleben verändern.

Es gibt auch allererste wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen, die mit Informationen konfrontiert werden, die ihren Glauben an die Willensfreiheit schwächen, zu egoistischerem Verhalten neigen und bei Tests auch häufiger betrügen, dass Aggressivität verstärkt und Hilfsbereitschaft geschwächt wird.

Jetzt stellen Sie sich vor, die Theorie, dass es keine Willensfreiheit gibt, wäre schlicht falsch, aber sie würde durch einen unglücklichen Zufall nicht nur in den Medien transportiert, sondern auch von Vielen geglaubt. Danach wird sie in einen kulturellen Kontext eingebettet, wodurch es sein könnte, dass sich Millionen von Menschen anders erleben und anders verhalten - eine falsche Theorie, die kulturell eingebettet worden ist, kann unser aller Selbstmodelle beeinflussen. Und das emotionale Selbstmodell steuert unser Verhalten - denken Sie nur an die organisierten Religionen.

Dieses Beispiel lässt sich auf ganz viele andere Bereiche übertragen, wobei aber die Theorien durchaus auch richtig sein könnten: Wenn immer mehr Menschen davon überzeugt werden, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, dass das Bewusstsein grundlegend ein biologisches Phänomen oder kulturelle Evolution nur ein Sonderfall biologischer Evolution ist; falls das tatsächlich wahr ist und immer mehr Menschen verstehen und fest davon überzeugt sind, dass die Evolution auf beiden Ebenen kein Ziel verfolgt, dass deshalb zum Beispiel auch geistige Eigenschaften in einem Prozess entstanden sind, der niemals einen "Sinn" im traditionellen Verständnis hatte, dann verändert das uns emotional, intellektuell und möglicherweise auch unbewusst. Ich denke, das ist eine Entwicklung, die nicht frei von Risiken ist.

Sensationsszenarien in den Medien

Welche technisch-biologisch-chemischen Möglichkeiten gibt es, das Gehirn zu steuern oder zu manipulieren?

Thomas Metzinger: Die effektivste Weise, menschliches Verhalten zu manipulieren, sind immer noch Weltanschauungen, zum Beispiel religiöse Ideologien oder politische Wahnsysteme. Emotionen sind das, was nach wie vor menschliches Verhalten am wirksamsten steuert.

Was die Neuroetechnologie anbelangt, gibt es hier den Hype in den Medien, auf den einige Wissenschaftler aufgesprungen sind und manchmal verständlicherweise auch übertreiben, was sie wirklich können. Gleichzeitig gibt es aber ganz reale Fortschritte. Einige empirische Wissenschaftler - die ja für ihre Forschung auch Gelder und somit öffentliche Aufmerksamkeit benötigen - erliegen der Versuchung, und in der Zusammenarbeit mit ebenfalls unter Marktbedingungen arbeitenden Journalisten kommt es zu Sensationsszenarien in den Medien. Zum Beispiel in der Roboterentwicklung in Japan, wo man sich ernsthaft bemüht, humanoide Roboter zu schaffen, die vom Menschen als ein echtes Gegenüber erlebt werden - in der Altenpflege oder als "personoides Webportal". Natürlich sind diese System nicht bewusst, sie besitzen noch nicht einmal unbewusste Selbstmodelle - trotzdem wird man empathische Gefühle, virtuelle Intersubjektivität und soziale Illusionen in Zukunft auch im menschlichen Gehirn immer stärker durch künstliche Reize triggern können. Ich bin zum Beispiel dagegen, dass man Kinder mit solchen Schmuserobotern aufwachsen lässt, weil das in ihrer Hirnentwicklung die Fähigkeit beeinträchtigen könnte, später intuitiv zuverlässig zwischen lebendigen, fühlenden Systemen und Maschinen zu unterscheiden.

Alarmismus ist sicher die falsche Einstellung. Trotzdem bleibt richtig: Viele sehr intelligente und ehrgeizige Menschen arbeiten heute weltweit in dieser Richtung und es könnte durchaus sein, dass sich hier unerwartete Synergieeffekte ergeben und manche Dinge früher entwickelt werden, als man angenommen hat. Deswegen ist es wichtig, rechtzeitig darüber nachzudenken, wo Risiken und Probleme entstehen könnten, damit man von diesen Entwicklungen nicht überrascht wird.

Welche Gefahren der Selbstmanipulation birgt diese Entwicklung?

Thomas Metzinger: In den USA hat sich beispielsweise der Missbrauch von cognitive enhancement sehr ausgebreitet, es gibt dort viele Leute, die an den Universitäten oder aus sonstigen beruflichen Gründen konzentrations- und wachheitssteigerenden Medikamente nehmen.

Bei uns hat dieser Trend trotz des medialen Hypes noch nicht so eingeschlagen. Die Mainzer Neuroethiker um Andreas Franke haben in einer Pilotstudie gezeigt, dass nur 1,55 Prozent der Schüler und 0,78 % der Studenten bereits einmal verschreibungspflichtige Psychostimulantien zur Leistungssteigerung eingenommen haben. Es existiert aber auch hier die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich selbst zu manipulieren: Ein Drittel der deutschen Studenten, die zur Steigerung ihrer mentaler Fähigkeiten momentan noch eher altmodische Koffeintabletten nehmen, wäre bereit, leistungsoptimierende Medikamente wie in den USA zu nehmen. Man sollte die Neigung der Menschen, solche Technologien auszuprobieren, wenn sie bereits verfügbar sind, nicht unterschätzen.

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